Читать книгу Also schrieb Friedrich Nietzsche: "Zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ..." - Christian Drollner Georg - Страница 31

1863: Erste Ansätze zu elementarem Widerspruch

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Ferdinand Lassalle, 1825-1864, ein deutscher Schriftsteller und sozialistischer Politiker im Deutschen Bund gründet den Allgemeinen deutschen Arbeiterverein mit dem Ziel des allgemeinen gleichen direkten Wahlrechts und Produktivgenossenschaften. Großbritannien, Frankreich und Spanien setzen als Kaiser von Mexiko den österreichischen Erzherzog Maximilian ein, der dort 4 Jahre später entmachtet und durch den wieder an die Macht gekommenen Präsidenten Juáres standrechtlich erschossen wurde. In England veröffentlicht einer der einflussreichsten liberalen Denker des 19. Jahrhunderts, Philosoph und Ökonom, John Stuart Mill, 1806-1873, sein Buch über die Nützlichkeitslehre „Utilitarism“. In der Schweiz gründen 25 Bürger das „Internationale Komitee vom Roten Kreuz; auch in Deutschland wird ein solcher Verein gegründet. In Paris stellt der impressionistische Maler Édouard Manet, 1832-1883, das skandalöse Bild „Frühstück im Grünen“ aus mit zwei nackten Frauen und 2 angezogenen Männern bei einem Picknick in einer Anordnung, die sich wesentlich auf ein Detail aus Raffaels „Urteil des Paris“, also auf klassische Hochrenaissance-Malerei beruft.


Anfang Januar schrieb N aus Pforta an die Mutter in Naumburg:

So bin ich denn nun wieder in dem gewöhnlichen Fahrgleis; indessen es will noch gar nicht vorwärts gehen, zum Arbeiten habe ich gegenwärtig noch wenig Lust und Ausdauer. Auch körperlich ist es mir nicht zu angenehm; ich schlafe nicht gut und bin zum Arbeiten nicht ruhig genug.

In dem letzten erhalten gebliebenen Brief des Vorjahres, vom 19. November 1862, klang das, auf dem Schwall eines unerklärlichen Wohlbefindens, noch sehr anders: „habe jetzt immer erstaunlich viel zu tun, befinde mich aber wirklich wohler als je, so wohl körperlich als geistig. Bin immer in heiterer Stimmung und arbeite mit großer Lust“ und „Wie gesagt, ich habe mich selten in einer wohleren Stimmung gefühlt als jetzt“. - Tatsächlich durchlebte N - ohne zu fragen woher das kam! - wie sollte er auch, da er fühlte! - und es als seine Leistung genoss! - eine üblicherweise 2 bis 3 Monate währende „manischen Phase“ im Krankheitsbild bipolarer Stimmungszustände, „meine Arbeiten gehen mir gut vorwärts“ bis hin zu „Auch die kalte Temperatur finde ich ganz gemütlich - kurzum ich fühle mich sehr wohl“ - was eben durch seine damalige manische Gestimmtheit verursacht war, auch darin, „niemand, auch gegen die Lehrer nicht in verbitterter Stimmung“ zu sein. Inzwischen war das verflogen, als Rausch; nicht verursacht durch nachvollziehbare aktuelle Ereignisse, sondern dem „Verständnis entzogen“, von innen her gekommen, von „chemischen“ Unverträglichkeiten oder Mangelerscheinungen in seiner Konstitution, die jetzt zur anderen, zur depressiven Seite ausschlugen. Niemand - auch heute noch nicht! - könnte an diesen ersten noch relativ geringfügigen Stimmungsschwankungen erkennen, dass es sich um die typischen Phasen der Stimmungen bei bipolarer Veranlagung handelte, zu denen, unbehandelt, wie sie damals bleiben mussten, Schlafstörungen, Unruhe und Unlustgefühle, Konzentrationsstörungen, verminderter Antrieb gehören; - und später dann - was bei N noch kommen sollte! - Wahnideen und Halluzinationen! Nach damaligen, gewohnten Behandlungsvorstellungen verlangte N stattdessen:

Kannst du mir nicht etwas Brausepulver schicken? Sende mir überhaupt nächstens die Kiste mit Wäsche, insbesondere Hemden. Jetzt übrigens keine Stolle zu haben [ein zur Weihnachtszeit beliebter, schwerer, Rosinen, Marzipan und kandierte Früchte enthaltender, brotförmiger Hefekuchen], vermisse ich sehr, da alle welche haben. Diese [Weihnachts-]Ferien waren doch sehr nett von Anfang bis zu Ende und ich danke euch allen recht für eure Liebe und Freundlichkeit. Meinen Rock übersendet mir ja recht bald, es fehlt mir sehr daran. Es wird nun doch wieder nötig sein, einen neuen Tutor zu suchen, da D. Heinze doch ganz wahrscheinlich nach Oldenburg kommt. Er wurde Sonnabend durch ein Telegramm dorthin gerufen, um sich vorzustellen. Die Stelle hat 1000 Taler und nach drei Jahren für jedes Jahr seines Lebens als Pension 600 Taler. Also nicht zu verachten! Schreibe mir, an welchen Lehrer Du denkst? [Der inzwischen gut achtzehnjährige N entschied nicht in eigener Regie, wen er sich statt Heinze als künftigen Tutor wählen sollte!] Peter nicht [der war „entehrt“ und „belastet“ durch seine Verweigerung, N auf Bitten von Rat Krug trotz Strafmaßnahme an der Geburtstagsfreier seines Freundes Gustav teilnehmen zu lassen!]; vielleicht Korssen oder Koberstein, oder Kern oder Volkmann. Von den andern aber ja niemand [dennoch sollte es zuletzt einer von diesen „andern“ werden!]. Herzliche Grüße. Dein Fritz. (340)


An die unverheiratet gebliebene Tante Rosalie N, die bis zum Tod der Großmutter N zum unmittelbaren Haushalt gehörte und seither auf dem Weg von Pforta nach Naumburg etwas „näher an Pforta“ als der Weingarten 18 wohnte, schrieb N am 12. Januar 1863, einem Montag, morgens, zu deren 52. Ehrentag:

Liebe Tante. Leider fällt auf Deinen lieben Geburtstag keiner meiner Spaziergänge und ich kann deshalb nicht im Kreise aller Glückwünschenden dies schöne Fest feiern. Sei es mir darum vergönnt, in einigen Zeilen das auszusprechen, was ich von guten Wünschen für Dich in meinem Herzen hege. Du hast mir immer so viel Liebe erwiesen; noch das letzte Weihnachten legt Zeugnis von dieser Liebe ab, die gern und mit vollen Händen gibt und die immer sorgt, ob es mir wohl geht und immer bedacht ist, was mir noch fehle. Für diese Liebe zu danken und in schwachen Worten die Herzensgrüße auszudrücken, durch die ich einzig meine Dankbarkeit erzeigen kann, ist darum immer und an Tagen wie heute besonders eine meiner ersten und liebsten Pflichten gewesen; und mehr noch als diese wenigen Worte sagen können, magst Du mir selbst in meiner Seele lesen, liebe Tante!

Was soll ich nun noch alles aufzählen, was unserm kurzsichtigen Ermessen als wünschenswert erscheint; alles, was Deine Seele erfreut und das Leben schmückt, ist mehr ein innerlicher Segen als ein äußerlich Gut, das hinfällig und vergänglich ist. Das aber wünsche ich Dir, dass nach Jahresfrist Du ein glückliches, herzerwärmendes Jahr wieder zu der Zahl der vergangenen hinzulegst und gestärkt in Herz und Mut und Zukunft als ein Geschenk hinnimmst, das nur erquickend und voller Segen sein kann. Lebe recht wohl und glücklich! Fritz. (341)

Dieser Brief ist für den Briefschreiber N in mehrerlei Hinsicht ein ungewöhnliches Exemplar. Allein schon wegen der eigentlich ja selbstverständlichen Kleinigkeit, dass N, was sonst meist nicht geschah, die Höflichkeit in der großgeschriebenen Anrede von „Du“, „Dir“ und „Dein“ konsequent durchgehalten hat, was, um es zu betonen, sonst in den seltensten Fällen seiner Beachtung unterlag und ihn in diesem Fall sicherlich besonders viel Aufmerksamkeit gekostet hat! Die Rede ist - sicherlich den Erwartungen der Tante angepasst! - wohl gesetzt, die Wahl der Worte kam sicher aber von Herzen. Alles wirkt wohlerzogen, dennoch nicht wirklich echt. N hat diese Tante nach seiner „Gefühlsfähigkeit“ sicherlich gerne gemocht. Er war ihr innerlich nah und verbunden. Der Ton gibt sich ehrlich, warmherzig, - auffallend fernab jeder Nützlichkeit und fernab auch von „ihm selbst“! Die Worte darin erfand keine „Larve“ sondern - endlich einmal! - eine unmittelbar „fühlende Brust“; die tiefere Bedeutung davon folgt gleich. All das zusammen ist für den Briefschreiber N ungewöhnlich. Und eben diese Ungewöhnlichkeit ist bemerkenswert: Dass er - in einem Ausnahmefall! - nämlich auch dies konnte! Allerdings spiegelt dieser Brief nicht Ns „natürliches Wesen“, da es nicht, wie sonst zumeist, unmittelbar um ihn selber kreiste: Dass er die Tante nicht mit ihrem Namen ansprach mag den Gepflogenheit der Zeit geschuldet sein.


Anfang Februar 1863, vom 2. bis 5., befand N sich, vier Tage lang, wegen „Katarrh“ wieder auf der Krankenstube in Pforta. J1.129


Im Lauf des Februar 1863, irgendwann, schrieb N an seine Mutter in Naumburg:

Liebe Mamma. Nachdem meine Schuhexpedition gestern ziemlich resultatlos verlaufen war, bin ich auf dem Hinwege nach Pforta noch in Almrich eingesprungen, um noch Abschied von einem Primaner zu nehmen, den das Missgeschick getroffen hatte, geschasst [rausgeschmissen] zu werden [was so - ohne nähere Angaben! - darauf schließen lässt, dass sich einfach nur schwache Leistungen mit zu beanstandendem Betragen verbunden haben]. Ziemlich die ganze Prima war zugegen, denn der Arme war allgemein sehr beliebt [blieb aber namenlos]; der Abschied war natürlich sehr traurig. -

In Pforta brachte mir der Schneider meinen Anzug; er scheint leidlich zu passen. Den Rock hat er noch einmal mitgenommen. Heute nach Mittag ist wieder eine große Probe im Turnsaal [von deren sportlicher Bestimmung N gar nicht begeistert war, denn es ging um die Erbringung realer Leistungen!], die Sache ist ziemlich langweilig. Ich freue mich indessen nicht wenig auf die Fastnachtstage; ich denke sie in Pforta möglichst lustig zu verleben, man kommt doch einmal auf eine kurze Zeit aus dem ewigen Trott heraus; Tag für Tag geht das so langweilig hin, wenn nur die Osterferien bald da wären! Mit Heinze [dem scheidenden Tutor] habe ich im Betreff Kletschkens gesprochen, das Gespräch war sehr kurz und kühl „Sie sind ja nur noch anderthalb Jahr da“ sagte er …..

Der Zweck meines Briefes ist übrigens, vor allem dich um Geld zu bitten für Fastnachten, ich bin abgebrannt wie eine Kirchenmaus und doch in der dringenden Lage, Geld, möglichst viel Geld zu brauchen. Meine Zeitungen habe ich auch noch zu bezahlen. Tue ein Übriges, liebe Mamma und übersende mir irgendeinen kleinen Wechsel und hilf mir und meiner Kasse wieder auf die Beine ….. Also wie viel ich brauche, wird dir klar sein. Einen Taler habe ich ja so noch von Weihnachten her bei dir liegen. Lege noch einen hinzu und ich bin sehr zufrieden. Dein Fritz. Übersende das Geld mit den Strümpfen, Weste, Schlips. Viele Grüße an Lisbeth und den Onkel. (342)


Diese Art Briefe berichten neben den charakterlichen Eigenheiten, welche die jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser offenbaren, auch ein wenig vom tatsächlichen Lebensverlauf der Internatsjahre Ns, aus denen, abgesehen von einigen hervorstechenden Anekdoten wenig bekannt geworden ist, weil N dazu keine Fakten lieferte.


Am 20. Februar 1863 schrieb Gustav Krug aus Naumburg an N in Schulpforta:

Lieber Fritz! In aller Eile ergreife ich die Feder, da ich nur wenig Zeit habe, um Dich zu bitten, mir sobald als möglich meinen Vortrag über die neudeutsche Musikschule [um Franz Liszt und Richard Wagner], dann die Noten, die Du noch von mir hast, namentlich das Heideröschen und endlich, wenn Du nicht noch darin liest, die Geschichte der Musik von Brendel zu schicken. Du hast gewiss in der letzten Zeit sehr viel zu tun gehabt, da man gar nichts von Dir hörte, Germania scheint auch schon lange zu schlafen, sowohl bei uns, als bei Dir. Übrigens will ich bemerken, dass Du ihr [der gemeinsamen „Germania“-Kasse] noch eine alte Schuld von 2 Talern 20 Silbergroschen zu bezahlen hast, indem von Dir im letzten Jahr noch kein Monatsbeitrag gezahlt ist.

Wir Naumburger haben sehr flott gelebt. Konzert jagt Konzert ….. Der berühmte Violinvirtuose Ferdinand Laub [1832-1875, tschechischer Geiger und Komponist] nämlich gab diese beiden Konzerte ….. Wir hatten das Glück, ihn außer den beiden Konzerten, in denen er die Kreutzersonate und die letzte Violinsonate von Beethoven [1770-1827], das wunderschöne Violinkonzert, das beethovensche, die Chaconne [ein Variationssatz einer Barocksuite, nach einem spanischen Reigentanz] und Allegro für Violine allein von Bach [1685-1750], eine Caprice von Paganini [1782-1840] ….. [und anderes] bei uns [zu Hause, beim Appellationsgerichtsrat Gustav Adolf Krug] zu hören. Er spielte mehrere Sonaten von Bach mit Klavier, 2 Romanzen von Beethoven, Rondo von [Franz] Schubert [1797-1828], Fuge für Violine allein von Bach und zuletzt ein neues Violinkonzert von [Joseph] Joachim [1831-1907, ein österreich-ungarischer Violinist, Dirigent und Komponist] in ungarischer Weise, eine vorzügliche Komposition, die aber ungeheure Anforderungen an den Spieler macht. Außerdem hatten wir noch das Glück ihn in einer Abendgesellschaft bei Schulze zu hören. Du kannst Dir denken, wie entzückt wir alle waren von seinem Spiele. Er verbindet eine fabelhafte Technik, die keine Schwierigkeiten kennt, mit einem wundervollen Ausdruck und Gefühl. Er und [Joseph] Joachim sind wohl die beiden größten jetzt lebenden Violinvirtuosen. Doch leider muss ich jetzt schließen, da ich heute Abend noch in ein Konzert gehe, das ein Schüler von [Hans von] Bülow [1830-1894, ein Klaviervirtuose, Dirigent, besonders für Wagner-Aufführungen, und Kapellmeister, vormaliger Ehemann von Cosima Wagner], namens Scherffenberg [unbekannt] gibt. Bitte schreibe mir recht bald und schicke mir die erbetenen Sachen. Hoffentlich wirst Du die gute Gelegenheit benutzen und mir etwas Neues von Dir schicken. Lebe wohl und vergiss die Germania nicht und Deinen Gustav.

Das war ein völlig anderer Brief-Klang als der von Ns Hand! Gustav Krug ist jeweils angetan, begeistert, berauscht von der vor allem musikgetränkten Welt, während N zu dieser Zeit im abgeschirmten Pforta als regelrechtem Brutkessel für einen Autisten alles - außer sich selbst! - „langweilig“ findet! N war dort geradezu gezwungen, sich seine Abwechslungen „aus sich selbst heraus“ zu schaffen, was ein dauerhaft fehlgeleitetes „Training“ ergab. Es wird noch deutlich werden, wie sehr N - aufgrund einer langen Gewohnheit und aufgrund seiner Veranlagung - zu einem extremen Bezug auf und aus sich selbst angewiesen sein sollte, um so etwas wie Zufriedenheit mit sich selbst zu finden. - Darüber hinaus wäre zu bemerken: Dass das - nicht nur vom Musikalischen her - eine ganze andere Welt war, gegenüber den heutigen Selbstverständlichkeiten, zu denen es unter anderem gehört an allen Orten Musik in bester Interpretation und Akustik je nach Stimmung von bereitstehenden Tonträgern erklingen lassen zu können.


Am 1. März 1863 schrieb N an die Mutter und Schwester in Eilenburg, das liegt von Naumburg aus gut 90 Kilometer entfernt nordöstlich „auf der anderen Seite“ von Leipzig:

Liebe Mama! Nachdem ich am vorigen Sonntag, ohne eine Ahnung davon zu haben, dass ihr verreist seid, nach Naumburg gegangen war ….. habe ich Tag für Tag auf einen Brief von dir gewartet, den ich auch Freitagnachmittag zu meiner großen Freude bekam. Es scheint euch ja sehr wohl zu gehen; ich wäre selbst am liebsten mit in Eilenburg, wo ich lange nicht gewesen bin. Nun weiß ich nicht einmal, wie ihr euch in Pforte amüsiert habt; Der Ball kam mir im Allgemeinen ziemlich gemütlich, nur etwas langweilig vor. Die Obersekundaner haben nach meiner und aller Meinung famos gespielt und unser Spiel ist etwas dagegen abgefallen [es gab in diesem Jahr keine brieflichen Berichte über die Aufregungen, die mit solchen Aktivitäten einschließlich der Bowle hinter der Bühne zusammenzuhängen pflegten] ….. Das Ereignis dieser Tage ist, dass [Guido] Meyer [jener „Schöne“, „Liebenswürdig-Witzige“, an den Paul Deussen seinen Freund N 1862 für eine geraume Zeit des „Tollseins“ verloren hatte und dem allerlei Einfluss auf N zu nehmen gelang] zu unserm größten Leide relegiert [von der Schule verwiesen] worden ist und zwar wegen eines Prello [eines unerlaubten Verlassens der Schule] nach Almrich, das er mit meheren meiner Bekannten unternahm, aber auf dem Rückweg von Lehrern gefasst wurde [was als eine gezielte Aktion vermuten lässt, dass er nicht allein deshalb gehen musste!]. Um so mehr tut uns dies wehe, als Meyer in dem letzten halben Jahr sehr gut bei den Lehrern stand und sich selbst sehr anstrengte. Es sind auch von den Lehrern alle möglichen Maßregeln getroffen worden ihn zurückzuhalten, aber einige erschwerende Umstände verhinderten dies [hauptsächlich wohl die sehr in Frage stehende Versetzung nach Unterprima, denn er war, obwohl drei Jahre älter als N, ein halbes Jahr hinter N zurück]. Die letzten Tage seines Aufenthaltes leben wir nun ganz noch zusammen, von allen Seiten werden ihm Beweise der Liebe und Anhänglichkeit zu Teil; denn er wird von allen, die ihn näher kennen [seines deutlich reiferen Alters wegen?], sehr hoch geschätzt. Dieser Sonnabend, wo die Synode war und wir in der größten Aufregung, war entschieden der traurigste Tag, den ich in Pforta verlebt. Sein ferneres Geschick ist nun äußerst zweifelhaft, da er gar keine Mittel hat. - ….. Ich erwarte sehnlichst eure Ankunft [in Naumburg, - zurück von Eilenburg!]; grüßt meine lieben Eilenburger Verwandten vielemal von mir! Lebt recht wohl! Fritz. (343)

Zu diesem genau genommen nur zeitweise, nämlich halbjährlichen Mitschüler, von dem das ganze Jahr 1862 nichts zu vernehmen war, bestand seitens N ein gutes Verhältnis. Er war künstlerisch begabt, „auch ein vorzüglicher Zeichner von Karikaturen, aber mit Lehrern und Schulordnung in ewigem Kampfe“ PDL.71 u. PDE.5, wie Paul Deusen berichtete. Durch ihn hatte sich N nicht nur zeitweise von Deussen entfremdet, nein, er fand selbst Freude an einer gewissen Aufmüpfigkeit, wie seinem „Spaß“ anlässlich der Inspektorenwoche, was sich in seinem Alter von nunmehr knapp 19 Jahren schwerlich noch mit Pubertätsgründen erklären lässt. N „hasste jetzt seine eigene Bravheit und die der anderen. Er wurde mokant und machte aus seiner Kritik nicht immer ein Hehl“ J1.113. In die Zeit dieser Freundschaft fiel auch der Vorfall mit dem flapsigen Tonfall gegenüber der Mutter mit der Anrede „Liebe Leute“ - und dass er sich das bis dahin gute Verhältnis zum Anstaltsarzt dadurch verdarb, „dass er ihn in Hörweite „einen alten Schwätzer nannte“ J1.113. Letztlich fällt das alles auf eine gewisse Weise unter die Rubrik der Unangepasstheit an die Realität, die N eigen war. Zu dem hier gezeigten Einsatz für diesen Guido Meyer vor der Mutter passt irgendwie nicht ganz, was Paul Deussen berichtet hat und auch nicht, wie N sich nachfolgend verhielt.


Am 25. März 1863 schrieb Guido Meyer nämlich aus Beeskow, einem kleinen Städtchen an der Spree, knapp 100 km südöstlich von Berlin an N in Pforta:

Geliebter Freund! Ich schicke Dir hiermit die versprochenen Photographien mit der Bitte, sie doch zu verteilen. Übrigens weiß ich bis jetzt noch nicht, wie sich die Zukunft für mich gestalten wird ….. [dann berichtete er über vergeblich verlaufene Versuche, ihn - seines Alters wegen mit Versetzung nach Prima! - die er in Pforta nicht erreicht hatte - irgendwie und -wo in einem Internat unterzubringen.] Dass meine Lage hier keineswegs beneidenswert ist, kannst Du Dir denken; obgleich von meiner Mutter der Vergangenheit weder in unnötigen Klagen oder gar Vorwürfen gedacht wird, so sehe ich doch bei jeder abschlägigen Antwort ….. ihre Blässe, ihre Unruhe und Sorgen, deren Äußerungen sie vergebens zu unterdrücken und zu verbergen sucht ….. so wirst Du wohl auch einsehen, dass mir jede Veränderung meiner Lage, mag sie noch so übel ausfallen, nur erwünscht und angenehm sein kann.

Doch auch der Gedanke daran versetzt mich in einen Zustand von ich möchte fast sagen Zerknirschung und moralischen Katzenjammers, dass ich durch eigne Schuld so liebe Freunde verloren, oder ich will vielmehr sagen, deren Umgangs beraubt bin ….. und deren Wert man erst dann recht erkennen und schätzen lernt, wenn sie fern sind, Freunde, von denen mir die Trennung um so schmerzlicher und schwerer war, da ich sie die ersten und einzigen nennen konnte, die ich bis jetzt hatte. Und dies war es, was mich, ich schäme mich dieses Geständnisses nicht, auf dem Wege nach Kösen [wo N und Deussen ihm, wie Deussen - nicht N! - es berichtete, noch nachgesehen hatten!], wo ich ganz, ganz allein war, wo die Selbstbeherrschung, die ich während der letzten Stunden und Augenblicke in Pforte, ja während des Abschieds im Tore, beizubehalten mir vorgenommen hatte, zusammenbrach: - das war es also, was mich hat weinen lassen, wie ein Kind, das ist es, was mich auch jetzt noch und das oft genug, Tränen vergießen lässt. -

Derartig Verzweifeltes hatte N bis dahin nie in seiner Nähe, geschweige denn am eigenen Leibe erfahren. Er wurde nicht herumgestoßen, abgeliefert, alleine gelassen. Er hatte sich über eine ewig hin- und her-pendelnde Kiste so etwas wie eine „Nabelschnurverlängerung“ bewahrt. Sein Einsamkeitsbedürfnis ging immer von ihm aus, - nicht von des Schicksals allmächtig unüberwindbaren Kräften. - Giudo Meyer fuhr in seinem einsam klagenden Brief fort:

Und Gelegenheit und Veranlassung habe ich hier genug, Muße zur Selbstbetrachtung und zu Reflexionen habe ich so viel, um einem Einsiedler noch davon abgeben zu können. Ich bin hier wie in einer Wüste und wie wenig Anziehendes Pforte (an und für sich) für mich haben kann, so sehne ich mich doch nach ihr zurück und mit viel größerer Inbrunst, als die Kinder Israel nach den Fleischtöpfen Ägyptens - und Canaan? - Wo ich das finden werde, weiß Gott - vielleicht auch erst nach 40 Jahren, wie die Juden in der Wüste. - Was gäbe ich doch drum, wenn ich hier einen von Euch, wenn ich Dich, ja sogar wenn ich nur Deussen hier hätte, ich wäre ja glücklich, ich hätte doch einen Menschen, mit dem ich sprechen, gegen den ich mich aussprechen könnte, - so aber kenne ich in dem ganzen Nest auch nicht einen Menschen ….. ich bin also ganz, ganz allein - „unter lauter Larven die einzige fühlende Brust“.

Diese letzten Worte waren zwischen den Freunden - Deussen, Guido Meyer und N - Deussen erwähnte diese Formel erst in einem Brief vom 29. April 1869 an N! - eine sicherlich gern benutzte geheimbündlerisches Zitat besonderen „Inhalts“, der für N - mit etlichen Details aus dieser Zeit heraus! - in späteren Jahren - als Erinnerung? - von einer gewissen Bedeutung geblieben ist, auch wenn es sich, wie N wohl wusste, dabei ursprünglich „nur“ um eine Zeile aus dem Gedicht „Der Taucher“ von Friedrich Schiller, 1759-1805, dem Dichter, Philosophen, Historiker und bedeutenden deutschen Dramatiker, handelte. Dort stehen die Worte in der 21. Strophe, tief unten in einem Wasserschlund, wie er berichtete: „Und da hing ich und war’s mir mit Grausen bewusst - Von der menschlichen Hilfe so weit, - Unter Larven die einzig fühlende Brust, - Allein in der grässlichen Einsamkeit, - Tief unter dem Schall der menschlichen Rede - Bei den Ungeheuern der traurigen Öde.“

Die zitierte Zeile war von den Freunden auf ihre eigene seelische Situation im Getriebe von Schulpforta gemünzt und wie ein Schutzwall gehandhabt worden, gab es für N doch noch keinen Schopenhauer, hinter dem man die Weltwirklichkeit mit scheinbar vernünftigen Gründen abwehren und abwerten konnte, um in leidlichem Selbstansehen zu überstehen. Emerson anzurufen dürfte N für solchen Bedarf entschieden zu „intim“ gewesen sein, - auch ihn mit jemandem zu teilen ging nicht an. Guido bezog sich übrigens mit keinem Wort auf ihn, denn Emerson war kein die Freunde aneinander bindendes Band. N selbst benutzte später in der doch sehr speziellen Zusammenstellung von „fühlender Brust“ entgegen den „Larven“ diese Worte an vier verschiedenen Stellen:

Zuerst berief sich N auf sie in einem eigentlich belanglosen Brief in unbedeutendem Zusammenhang bei unveränderter Bedeutung: nur wenige Wochen nachdem Guido Meyer an sie erinnert hatte. Das war während der Sommerreise 1863, in Franzensbad, wo N sich im Milieu von „hohem Luxus“ und „Modejournalen von Menschen“ bewegte, „unter Larven und Polinnen (kohlschwarz) die einzig fühlende Brust“. 4.8.63 Eigentlich als ein Signal dafür gedacht, dass er sich dort zutiefst verunsichert fühlte und einen so überheblichen Spruch zur Wiederherstellung seines Selbstbewusstsein brauchte.

Danach tauchten diese Worte 1870/71 im Zusammenhang mit der Entstehung der „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ in der dazu parallel entstandenen kleineren Betrachtung über „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“ auf. Da heißt es:

Sein Auge [es ging um den von N vielfach überschäumend gepriesenen vorsokratischen griechischen Philosophen Heraklit, 540-475 v. C.], lodernd nach innen gerichtet, blickt erstorben und eisig, wie zum Scheine nur, nach außen [was daran erinnert, dass es etliche Bestätigungen von Zeitzeugen dafür gibt, dass auch Ns Augen eher nach innen als nach außen zu blicken schienen; - also wieder eine Selbstdarstellung gegeben war!]. Rings um ihn unmittelbar an die Feste seines Stolzes schlagen [aus der realen Welt!] die Wellen des Wahns und der Verkehrtheit: mit Ekel wendet er sich davon ab. Aber auch die Menschen mit fühlender Brust weichen einer solchen tragischen Larve aus; in einem abgelegenen Heiligtum, unter Götterbildern, neben kalter ruhig-erhabener Architektur mag so ein Wesen [wie Heraklit es war] begreiflich erscheinen. Unter Menschen war Heraklit, als Mensch, unglaublich; und wenn er wohl gesehen wurde, wie er auf das Spiel lärmender Kinder Acht gab, so hat er dabei jedenfalls bedacht, was nie ein Mensch bei solcher Gelegenheit bedacht hat: das Spiel des großen Weltenkindes Zeus. Er [Heraklit] brauchte [genauso wie N selber in seiner immer wieder gesuchten Einsamkeit] die Menschen nicht, auch nicht für seine Erkenntnisse; an allem, was man etwa von ihnen erfragen konnte und was die anderen Weisen vor ihm zu erfragen bemüht gewesen waren, lag ihm nicht. Er [immer noch Heraklit - aber auch N selbst! - denn nur wegen der „gefühlten“ Wesensgleichheit hat N von Heraklit berichtet!] sprach mit Geringschätzung von solchen fragenden sammelnden, kurz „historischen“ Menschen. „Mich selbst suchte und erforschte ich“ sagte er von sich, mit einem Worte, durch das man das Erforschen des Orakels bezeichnet: als ob er der wahre Erfüller und Vollender der delphischen Satzung „Erkenne dich selbst“ sei und Niemand sonst 1.834f [so, wie N sich immer in allen Punkten als Erklärer, Erfüller und Vollender der möglichen Erkenntnisse über diese Welt verstand.].

Die zitierten Worte hatte N hier - umgewidmet! - nicht wirklich „zitiert“, denn sie haben mit Schillers „Taucher“ sinngemäß nicht mehr das Geringste zu schaffen. Sie hatten aber für N „aus Erfahrung“ und vielfachem Gebrauch in geheimbündlerischer Gemeinsamkeit mit Freund Guido eine gefühlsmäßig eigene Bedeutungsschwere gewonnen - und standen hier nun in dem auf persönliche Weise veränderten Sinn in gewichtigem Zusammenhang in einem Text, der sich sachlich anhört, aber ausschließlich Ns höchst persönlichen Gefühle behandelte. Seine Vision vom Philosophen Heraklit war wieder einmal nur die Darstellung eines Wunschbildes von N selber! Was N da geschrieben hatte galt für nichts und niemanden so genau, so passend, so gültig wie für N und seine „Philosophie“, die es ja noch gar nicht gab, - für seine Absichten! für seinen Umgang mit Worten, Sinndeutungen und seinen Welt- und Daseinszielen, von denen damals außer ihm noch niemand auch nur die geringste Ahnung hatte und haben konnte!

Zum Zeitpunkt des damaligen aktiven Gebrauchs dieser Worte war die Freundschaft mit Guido bereits seit fast sieben Jahren Vergangenheit. Die eigentümliche Bedeutung der Worte aber haben die Trennung überstanden; die „Stimmung“, die diese Worte vergegenwärtigten, lebte in N fort, denn er benutzte die Worte - und sicher in sehr ähnlichem Gefühls-Zusammenhang! - mehr zum Ende des Jahres 1871 hin und auf mehr private, nicht direkt zur Veröffentlichung bestimmte Weise, noch einmal, - lockerer, etwas gewagter, um in einem Neujahrgruß für 1872 bei Cosima Wagner in Tribschen Eindruck zu machen. Und zwar in der ersten der fünf Vorreden zu den bereits erwähnten fünf ungeschriebenen Büchern, unter dem Titel „Über das Pathos der Wahrheit“:

Da steht über den Heraklit aus Ns Vorstellung als einer Sonderfigur ohne gleichen - und nicht im Geringsten so fremd wie seine eigenen Gefühlen gegenüber „den Anderen“ in Schulpforta! - genau so, wie schon einmal niedergeschrieben, zu lesen:

Sein Auge lodernd nach innen gerichtet, blickt erstorben und eisig, wie zum Scheine nur, nach außen. Rings um ihn unmittelbar an die Feste seines Stolzes schlagen die Wellen des Wahns und der Verkehrtheit; mit Ekel wendet er sich davon ab. Aber [und nun gibt es mehr und mehr Veränderungen] auch die Menschen mit fühlenden Brüsten weichen einer solchen tragischen Larve aus; in einem abgelegenen Heiligtum, unter Götterbildern, neben kalter großartiger Architektur mag so ein Wesen begreiflich erscheinen. Unter Menschen war Heraklit, als Mensch, unglaublich; und wenn er wohl gesehen wurde, wie er auf das Spiel lärmender Kinder Acht gab, so hat er dabei jedenfalls bedacht, was nie ein Sterblicher [und das war - schon damals! - für N superlativ wichtig!] bei solcher Gelegenheit bedacht hat - das Spiel des großen Weltenkindes Zeus und [hier nun ist ein im vorigen Beispiel nicht vorhanden gewesener, in seiner Bedeutung gar nicht zu überschätzender Satz zwischengeschaltet, um herauszuheben, was Heraklit als Vorbild „beim Spiel des großen Weltkindes Zeus erstmals bedacht hatte:] den ewigen Scherz einer Weltzertrümmerung und einer Weltentstehung.

Ein ewiger „Scherz“? Steht das da wirklich? Man glaubt, einem Druckfehler aufzusitzen, aber N bezeichnete die ewige „Weltzertrümmerung“ und „Weltentstehung“ tatsächlich nicht als einen „Schmerz“, sondern als „Scherz“ weil Er es so - als seinen Scherz! - empfand! Danach ging es weiter wie zuvor schon einmal: „Er brauchte die Menschen nicht“ usw. 1.758 - Auch in dem neu hinzugefügten Satz sprach N wieder nur von sich selbst, von dem Zustand, den Er - ihm wohl noch völlig unbewusst, aber als sein Ideal schon erkannt! - erreichen wollte! - und erreichen sollte, am Ende, - als er davon überzeugt war, Gott zu sein, der sich - wie von N hier schon beschrieben! - den „ewigen Scherz“ erlaubt hatte, eine alte Welt mit einer alten Moral „zertrümmert“ und eine neue Welt mit einer - seiner! - neuen Moral geschaffen, „entstanden lassen“ zu haben, - ausgedrückt dann in den nicht ganz astrein gesetzten italienischen Worten „Son dio, ho fatto questa caricatura …“ Sinngemäß: Ich bin Gott, der sich den fröhlichen, lachenden, karikierenden Scherz einer neuerdings gültig sein sollenden, erst wahrhaftmoralischen Moral“ geleistet hat!

Am 24. Februar 1887 benutzte N die Worte noch einmal - fünfzehn Jahre später! - anlässlich seines Berichtes über das gerade stattgefundene Erdbeben in Nizza in einem Brief an den Freiherrn Reinhart von Seydlitz, 1850-1931, übrigens einem glühenden Wagnerianer:

Hier in unserem Sonnenlande - was für andre Dinge haben wir im Kopfe! Eben noch hatte Nizza seinen langen internationalen Karneval (mit Spanierinnen im Übergewichte, beiläufig gesagt) und dicht hinter ihm, sechs Stunden nach seiner letzten Girandola [ein radförmig sprühender Feuerwerkskörper], gab es schon wieder neue und seltener erprobte Reize des Daseins [an dessen Zerstörungskraft N Gefallen zu finden schien, denn er kritisierte nicht, setzte sich nicht ab sondern zeigte sich eingebunden in ein ominöses „Wir“: Eine Stimmung, die daherkam wie ein Vorlauf zur Turiner Begeisterung seines letzten geistig erlebten Jahres 1888]. Wir leben nämlich in der interessantesten Erwartung zu Grunde zu gehen - Dank einem wohlgemeinten Erdbeben, das nicht nur alle Hunde weit und breit heulen macht. Welches Vergnügen, wenn die alten Häuser über Einem wie Kaffeemühlen rasseln! wenn das Tintenfass selbständig wird! wenn die Straßen sich mit entsetzten halbbekleideten Figuren und zerrütteten Nervensystemen füllen! [Da schwelgte N in seinem destruktiven zerstörungslustigen Element!]

Diese Nacht machte ich, gegen 2-3 Uhr, comme gaillard [als fideler Bursche] der ich bin, eine Inspektionsrunde in den verschiedenen Teilen der Stadt, um zu sehen, wo die Furcht am größten [und damit am ergötzlichsten?] ist [und ein von N so geliebtes superlatives Maximum erreichte!] - die Bevölkerung campiert nämlich tags und nachts im Freien, es sah hübsch militärisch aus. Und nun gar in den Hotels! wo Vieles eingestürzt ist und folglich eine vollkommene Panik herrscht. Ich fand alle meine Freunde und Freundinnen, erbärmlich unter grünen Bäumen ausgestreckt, flanelliert [unter weichen, gerauten Wolldecken], denn es war scharf kalt und bei jeder kleinen Erschütterung düster an das Ende denkend. Ich zweifle nicht, dies macht der Saison ein plötzliches Ende, alles denkt ans Abreisen (gesetzt dass man fortkommt und dass die Eisenbahnen nicht zu allererst „abgerissen“ sind) Schon gestern Abend waren die Gäste des Hotels, wo ich esse, nicht dazu zu bringen, ihre table d’hôte [die große Speisetafel] im Innern des Hauses einzunehmen - man aß und trank im Freien; und abgesehen von einer alten sehr frommen Frau, welche überzeugt ist, das der liebe Gott ihr nichts zu leide tun darf, war ich [wie immer und in seiner Freude an der Zerstörung!] der einzige heitere Mensch unter lauter Larven und „fühlenden Brüsten“ [womit N zwar ursprünglich Schillers - und Guido Meyers - Worte benutzte, sie aber wieder zu einer völlig anderen Aussage zusammenstellte, sie gleichsam „umwertete“, wobei offen bleibt, ob die Verdrehung schon unter den Freunden eine Bedeutung besaß oder in Ns Sinn erst später entstand. Es sind Worte als Posen, als Versatzstücke, um sich auszudrücken, zu eigenem Lobe, denn das war jeweils darin enthalten.]


Eine Antwort von N auf den N seelisch überfordernden, recht verzweifelten Brief seines kurzweilig scheinbar sehr vermissten Freundes blieb nicht erhalten. Sicherlich gab es eine solche nie, das verrät ein zweiter Brief, den Guido Meyer drei Monate später schrieb und zu dem von N auch keine Antwort erhalten ist. Der zweite Brief, vom 23. Juni 1863 lautet:

Geliebter Freund. Aber Du lieber Gott, weshalb habe ich von Dir noch keinen Brief erhalten, von Dir, dessen Briefe ich doch am liebsten lese? Hast Du mich denn schon so bald vergessen, oder macht Dir das Briefschreiben solche lange Weile - doch lieber Freund, nimm es mir nicht übel, dass ich Dir hier Vorwürfe zu machen wage, aber wenn Du wüsstest, welchen Wert ein Brief von Euch [N, Deussen und noch einige Andere] für mich hat, so würdest Du gewiss einige Minuten dranwenden um mir zu schreiben und auch die Anderen dazu zu veranlassen suchen [aber es war Ns Sache nicht, sich in solche seelischen Probleme und dann noch „der Anderen“ hineinziehen zu lassen!]. Bis jetzt habe ich noch gewartet und auf einen Brief von Dir gehofft; ….. [einige andere hatten ihm wohl inzwischen geschrieben] - da aber bis jetzt noch kein Brief von Dir, Bodenstein, Deussen und Anderen angelangt ist, so muss ich schon noch vor den Ferien [mahnend!] schreiben, zumal da ich Euch noch um Mehreres zu bitten habe und auch noch vor den Ferien gern Antwort haben möchte ….. Doch ich muss nun schließen, da der Brief heute noch abgehen soll und ich hätte Dir noch so viel, so sehr viel zu schreiben, doch das kann ja auch noch kommen. Ich bitte Dich also nochmals, oro te atque obsecro [ich rede, bete, bitte dich, flehe Dich an - sowie auch - inständig, um Gottes Willen], schreibe mir doch; ach Gott, schreibe mir doch gleich denselben Tag, an dem Du diesen Brief bekommst, bitte doch auch meinen lieben kleinen Bodenstein, mir einige Zeilen zukommen zu lassen und wenn ich auch von Deussen herzlich gern einen Brief haben möchte, so ist die Erwartung doch wohl zu kühn ….. - Schließlich, lieber Freund, habe ich noch eine recht dringende Bitte an Dich - sei doch so gut und schicke mir ….. einige Deiner Gedichte - und vielleicht auch die Komposition des betreffenden Liedes? Doch würde ich schon mit einem kleinen Gedicht zufrieden sein. Nimm mir diese Bitte nur ja nicht übel, lieber Freund; wenn ich Dir mit irgend Etwas die Freude, die Du mir durch Erfüllung dieser Bitte machen würdest, vergelten könnte, so würde ich Dir nach den Ferien ein kleines Bild, das ich hier gemacht habe, schicken; wenn Du also diese meine kleine Gabe nicht verschmähst, so schreibe es mir doch im nächsten Briefe. - Doch nun lebe wohl, grüße alle meine Freunde viel tausend mal ….. Lebe nochmals wohl, ein ander Mal mehr. - Dein Dich liebender Freund Guido.


Dank Paul Deussens späterem Bericht gibt es von keinem anderen, zumindest vorübergehend, so engen und innigen Freund Ns, wie Guido Meyer es in Pforta anscheinend gewesen war, eine annähernd gleich umfängliche Nachricht aus der Pfortaer Schulzeit. Einige, sehr wenige Freunde, von denen aus der Pfortaer Zeit so gut wie nichts an damals bestehenden Gemeinsamkeiten überliefert ist, begleiteten N in brieflichem Kontakt sein Leben lang. Ausgerechnet dieser Guido Meyer aber, der überdies Einfluss - wenn auch keinen unmittelbar „guten“! - auf N auszuüben verstanden hat, dem er mehrere Gedichte schenkte und zu dessen Abschied N der Mutter gegenüber so viele Worte fand, wie für sonst keinen seiner Schulkameraden, ausgerechnet dieser verschwand nach den beiden flehentlich um eine Gunstbezeigung bettelnden Briefen aus Ns Lebenshorizont. Nur einmal noch, 1866 erinnerte er sich an ihn, anlässlich einer Liste über eigene Gedichte z.B. „Vor dem Kruzifix“, „Am Meeresstrand“, „Klang aus der Ferne“, „Über den Gräbern“ und „Jetzt und Einstmals“, wo er notierte: „hat zumeist G. Meyer“ BAW3.135. Deshalb sind bis auf die ersten beiden zu den Gedichten keine Texte erhalten. Danach taucht in Ns Geschriebenem der Name Guido Meyer nie wieder auf.


In ungefähr diese Zeit fällt, was Paul Deussen in seinen Erinnerungen an den Pfortaer N berichtete:

Nur noch einmal, nach Meyers Abgang, wurde N auf kurze Zeit von mir durch eine schöngeistige Koterie [ein verächtlich für Kaste, Klüngel, Sippschaft benutztes Wort] abgezogen, deren innere Hohlheit ihn jedoch nicht auf die Dauer mir zu entfremden vermochte [woraus auch ein gewisses Maß an Eifersüchtelei von Deussen erhellt]. Er fiel mir wieder zu, umso mehr, als er damals noch ein zurückhaltendes, etwas scheues Wesen hatte [und wie Deussen selbst] wenig Befriedigung an dem Treiben der Menge fand und daher auch von den meisten wenig gekannt wurde. Man wusste nur von ihm, dass er sehr gute deutsche Aufsätze und hübsche Gedichte machte, in der Mathematik außerordentlich schwach war und meisterhaft auf dem Klavier zu phantasieren verstand.

Öfter zogen wir uns beide in ein leerstehendes Auditorium [das Carl von Gersdorff in seinen Erinnerungen eine „Differenz“ nannte] zurück, ich deklamierte mit Pathos ein Gedicht und N begleitete die Deklamation, z. B. von Schillers Glocke, mit den Tönen des Klaviers, wobei er mich immer wieder drüber tadelte, dass mein Vortrag zu laut sei. Durch derartige stille Unterhaltungen [die so still ja nicht gewesen sein können] und tägliches Spazierengehen zu zweien isolierten wir uns von unsern Kameraden, welche, wie bemerkt, den stillen, in sich gekehrten Knaben wenig kannten und um so öfter verkannten. Seine Gleichgültigkeit gegen die kleinen Interessen der Kameraden, sein Mangel an esprit de corps [Gemeinschaftssinn] wurden ihm als Charakterlosigkeit [und nicht als sein berechtigtes „Herrscheramt“?] ausgelegt.

Wenn ich jetzt auf die ehrbaren Pastoren, Lehrer, Ärzte, Offiziere, Architekten usw. hinsehe, zu welchen sich unsere damaligen Kameraden fortentwickelt haben und welche in der Sorge für Amt und Familie den eigentlichen Ernst des Dasein finden, so wird mir begreiflich, dass den meisten schon damals das Organ abging, einen N zu verstehen. Was aus mir geworden wäre [denn Deussen erhielt eine durch N vermittelte, sehr wesentliche und außerordentlich gut honorierte Hauslehrerstelle!], wenn ich ihn nicht gehabt hätte, [das] kann ich mir schwer klar machen. Die Hochschätzung, vielleicht [sicherlich sogar die!] Überschätzung alles Großen und Schönen, und eine entsprechende Verachtung für alles, was nur materiellen Interessen diente [und keinen wild gewordenen, maßlosen, ästhetizistischen Idealen entsprach], lag wohl von Natur in mir [wie in all denen, die zu N eine besondere „Seelenverwandtschaft“ entwickelten]; aber dieser glimmende [jedoch auch unkritische] Funke wurde durch den täglichen Umgang mit N zu einer Flamme der einseitigen Begeisterung für alles Ideale entfacht, welche nie wieder erloschen ist, auch nachdem sich meine Wege von denen des Freundes trennten. Damals, in Pforta, verstanden wir uns vollkommen. Auf einsamen Spaziergängen wurden alle möglichen Gegenstände der Religion und Philosophie, der Poesie, der bildenden Kunst und Musik besprochen; oft liefen die Gedanken ins Dunkle aus und wenn dann die Worte versagten, so blickten wir uns in die Augen und der eine sprach zum andern: „Wir verstehen uns schon.“

Diese Redensart wurde zwischen uns zum geflügelten Wort; wir nahmen uns vor, sie als trivial zu vermeiden und mussten lachen, wenn sie uns gelegentlich trotzdem entschlüpften. Alle großen [Superlativitäten vertretenden] Namen der Geschichte, Literatur und Musik belebten unsere Unterhaltung und wenn ich mit den Alten mehr vertraut war, so besaß N die größere Kenntnis der deutschen Literatur und Vorzeit. In der Regel stand irgendein Gegenstand im Mittelpunkt seines Interesses und reizte ihn zu produktiver Bearbeitung, wie er sich denn eine Zeit lang mit dem Entwurf zu einem Heldengedicht über Hermanarich trug [doch ist es N dabei eher um einen erheblichen Gruselfaktor innerhalb von Ermanarichs katastrophal entgleisten familiären Beziehungen gegangen]. Es ist merkwürdig, dass N, der ein so feines und tiefes Verständnis für alle Poesie hatte, doch niemals ein guter Rezitator gewesen ist. Er ist daher auch zu unsern alljährlichen Fastnachtsaufführungen, soweit ich mich irgend erinnere, wenig oder gar nicht herangezogen worden ….. PDE.8f


Paul Deussen schilderte hier erstmalig, was sich immer wiederholen sollte. Von allen Gesprächspartnern Ns - und es gibt etliche! - klingt immer hauptsächlich nach, wie großartig, erhaben, erhebend, idealistisch, tiefsinnig, weitblickend, - wie „über alles bisher Gedachte hinaus“ und wie doch „das Größte umfassend“ diese Gespräche gewesen wären. Sie entziehen sich aber alle der Realität, nämlich dem, was denn nun auf diese ausgefallene Weise jeweils konkret besprochen wurde! Da ging es um die Stimmung in der sie stattgefunden hatten, aber nie um den eigentlichen „Gehalt“! Wenn es denn einmal offenbar wurde, was dahinter stand, so erschien dies als reichlich banal. Es war seit den Zeiten des „kleinen Pastors“ Ns Eigenart, eine mit Emersonschem Pathos aufgeladene Aura überragender Bedeutenheit zu verbreiten, wenn er in seiner Begeisterung für etwas bereit war, dieses ihn Begeisternde mitsamt seinem eigenen Tun, Sein und seinem Wertschätzen „an der konkaven Sphäre des Himmels sichtbar werden“ zu lassen, wo es denn auch in den Augen des jeweiligen Gesprächspartners „eins wurde mit dem Umlauf der Sterne“! EE.113

Es waren Gefühle, Eindrücke, Stimmungen, - aus! Mehr nicht! Was Deussen hier unfreiwlligerweise „zu Protokoll gab“, war der erste, feine, unmerkliche Ansatz zu einer - wie es in der Psychologie heißt - „Folie à deux“, einer „gemeinsamen psychotischen Störung“, abgehoben von den normalerweise wirkenden Bezügen zur Realität: eine „psychotische Infektion“ oder „symbiontischer Wahn“, infolge der Übernahme einer Wahnsymptomatik durch einen nahestehenden, primär nicht wahnkranken Beteiligten! Ns Wahn, dessen eigentliche Ursache in Ns Anlagen begründet lag, wurde unter anderem deutlich in Ns Neigung und Fähigkeit oder eher wohl seinem Zwang zur Identifikation mit den - herrlich zu ihm „passenden“! - Wahrheiten Emersons. Hinter der Maske von „Idealen“ war dieser auf Gleichgesinnte - wie sich erweisen sollte sogar massenhaft! - relativ leicht übertragbar durch das den an sich schwachen „Persönlichkeiten“ unmittelbar schmeichelnde Element des Elitären, erhebenden, heraushebenden aus der schwer ertragbaren Gleichheit mit „den Anderen“, was als Erlebnisfaktor ja immer wieder von den verschiedensten „Teilnehmern“ Erwähnung fand und sich bei N-Fans heutzutage noch findet.

Der Wahn äußert sich in der Überzeugtheit von der Wahrheit eines logisch nicht haltbaren „Wissens“ über die Welt und dass sich dieses „Wissen“ auch im Widerspruch zu gegenteiligen Beweisen nicht korrigieren ließ und oder lassen wollte: In Ns Fall wegen der Gefahr, durch die Anerkennung der Widerspruchsgründe, seine früh schon übernommenen, von Emerson segensreich zusätzlich berechtigten „Herrscheramtsgefühle“ einzubüßen! Über dieser tief in ihm immer wieder erfühlten „Gefahr“ wird N im Laufe der ihm zur Verfügung stehenden Jahre - wie sich nachweisen lässt! - ein „schützendes“ Riesengebäude vorgeblicher „Philosophie“ errichten! Mit dessen allerersten Ansätzen hatte Deussen in Pforta, sich mitreißen lassend, erste Berührungspunkte gefunden.


Am Abend des 8. März 1863 schrieb N an Mutter und Schwester in Naumburg:

Liebe Mamma! Sehr angenehm, dass ihr glücklich wieder angekommen seid und mir sicherlich viel zu erzählen haben werdet. Umso mehr tat es mir leid, dass ich heute ob des schlechten Wetters nicht nach Naumburg kommen konnte. Denn ich hätte euch auch etwas angenehmes zu erzählen gehabt; dass ich nämlich seit gestern zum Famulus [zum Gehilfen] von Herrn Prediger Kletschke ernannt worden bin; er lässt sich dir vielmals empfehlen. Da er jetzt übrigens gerade die Inspektionswoche hat, so bin ich heute und diese ganze Woche in voller Amtstätigkeit [sich diesmal ernsthaft um die auffällig gewordenen Beanstandungen zu kümmern]; dass ich mich an ihn [als neuem Tutor] empfehlen lasse, ist mir nun ganz gewiss. Bewerkstelligen wir also nächsten Sonntag eine Zusammenkunft in Almrich; mit diesem Tag beginnt unsre Examenszeit. Diese acht Tage sind noch sehr schwierig und unbequem. Unsre Osterferien sind übrigens gekürzt; fast weiß ich nicht, ob ich überhaupt verreise. Die dauern von Mittwoch vor dem Fest bis Mittwoch nach dem Fest, also 8 Tage. Sollte ich bis dahin in irgend eine größere Arbeit hineingeraten, so werde ich wohl diesmal hier bleiben und arbeiten, besonders da der Herr Rektor diese Zeit als besonders geeignet für Privatlektüre empfohlen hat.

Indessen zieht mich die Sehnsucht auch sehr wieder nach Naumburg; schreibt mir eure Ansicht darüber. An Herrn Kletschke schreibst du wohl einen Dankesbrief mit einigen Worten über deinen Wunsch, dass ich mich an ihn empfehlen lasse. Den Brief schicke an mich, das Weitere werde ich dann abmachen ….. Lisbeth ist mir noch viel zu erzählen schuldig. Schreibt alle recht bald und lebt wohl! Fritz (344)


Acht Tage später, am Donnerstag den 16. April 1863 schrieb N an die Mutter in Naumburg:

Wenn ich dir heute schreibe, so ist es mir eins der unangenehmsten und traurigsten Geschäfte, die ich überhaupt getan habe. Ich habe mich nämlich sehr vergangen und weiß nicht, ob du mir das verzeihen wirst und kannst. Mit schwerem Herzen und höchst unwillig über mich ergreife ich die Feder, besonders wenn ich unser gemütliches und durch keine Misslaute getrübtes Zusammenleben in den Osterferien mir vergegenwärtige. Ich bin also vorigen Sonntag betrunken gewesen und habe auch keine Entschuldigung weiter, als dass ich nicht weiß, was ich vertragen kann und den Nachmittag gerade etwas aufgeregt war [als Gefühl der Unruhe, die zu den Symptomen der „Allzusammenklangsmomente“ gehörten?]. Wie ich zurückkam, bin ich von Oberlehrer Kern dabei gefasst worden, der mich dann Dienstag in die Synode zitieren ließ, wo ich zum Dritten meiner Ordnung herabgesetzt und mir eine Stunde des Sonntagsspaziergangs entzogen wurde. Dass ich sehr niedergeschlagen und verstimmt bin, kannst du dir denken und zwar am meisten, dass ich dir solchen Kummer bereite durch eine so unwürdige Geschichte, wie sie mir noch nie in meinem Leben vorgekommen ist.

Das Betrunkensein gehörte nicht in die „Tugenden“ seiner Moral, so war es ihm leicht, zerknirscht zu sein und das zuzugeben: Im Gegensatz zum von sich selbst überzeugten „Humor“ der vormals verulkten Inspektion, die aus voller Überzeugung seinem Herzen entsprungen und deshalb keiner Einsicht zugänglich war!

Und dann wie tut es mir auch des Predigers Kletschke wegen leid, der mir erst solches unerwartetes Vertrauen erwiesen! Durch diesen Fall verderbe ich mir nun meine leidliche Stellung, die ich mir im vorigen Quartal erworben hatte, völlig. Ich bin auch so ärgerlich über mich, so dass es mit meinen Arbeiten gar nicht vorwärts gehen will und kann mich noch gar nicht beruhigen. Schreib mir doch recht bald und recht streng, denn ich verdiene es und keiner weiß mehr als ich, wie sehr ich es verdiene.

Ich brauche dich wohl nicht weiter zu versichern, wie sehr ich mich zusammennehmen werde, da es jetzt sehr darauf ankommen wird. Ich war auch wieder zu sicher geworden und bin jetzt, allerdings höchst unangenehm, aus dieser Sicherheit aufgescheucht worden. Heute werde ich zu Prediger Kletschke gehen und mit ihm reden. - Bitte, erzähle die ganze Sache nicht weiter, wenn sie sonst nicht schon bekannt sein sollte. Schicke mir übrigens doch baldigst meinen Shawl, ich leide jetzt immer noch an Heiserkeit und Brustschmerzen. Auch den betreffenden Kamm. Nun lebe wohl und schreib mir ja recht bald und sei mir nicht zu böse, liebe Mutter. Sehr betrübt Fritz. (350)

Mit so viel Schuldbewusstsein und Reue hatte er die schlimmsten Reaktionen wohl zu seinen Gunsten schon unterlaufen. Die Reaktion der Mutter ist nicht überliefert. Im synodalischen Strafbuch der Landesanstalt Pforta ist dazu unter dem 14. April festgehalten: „N und Richter trinken am Sonntage auf dem Bahnhofe zu Kösen während einer Stunde je vier Seidel Bier. N war davon betrunken und noch ersichtlicher Richter. Dazu am Rande: N: vom Primus abgesetzt und 1 Stunde Ausgang; Richter: 2 Stunden Carcer und 1 Stunde Ausgang.“ J1.114


Am 17. April 1863 schrieb Ns Mutter aus Naumburg an Ns Tutor Hermann Kletschke in Pforta:

Verehrtester Herr Prediger! Kaum kann ich Ihnen sagen, wie sehr mich heute die Mitteilung meines Sohnes betrübt hat, dass er sich auf so gemeine Weise vergangen und Ihre Unzufriedenheit so wie die der treuen Lehrer auf sich gezogen hat. Ich habe ihm, freilich unter vielen Tränen, gleich nach dem Empfang seines Briefes geschrieben und zwar, sehr strafend, ich denke aber recht getan zu haben. Er selbst schreibt sehr bereuend mich in diesen Kummer und sich in eine so traurige Stimmung versetzt zu haben und bedauert sehr sich des Vertrauens, mit welchem Sie ihn gewürdigt, gewiss auf immer verlustig gemacht zu haben. Ich rechtfertige vollständig dieses Ihr Verhalten gegen ihn und bitte Sie aber dennoch, ihn nicht ganz als ein verlorenes Kind zu betrachten, sondern sich seiner in Ihrer lieben christlichen Weise anzunehmen, denn er hat viel Vertrauen zu Ihnen und schrieb: Er wolle noch heute zu Ihnen gehen, um mit Ihnen darüber zu reden, es beunruhigte ihn dieses Vergehen gar so sehr, was mir noch tröstend ist. Ich weiß, dass Sie verehrter Herr Prediger diese meine mütterliche Bitte mir nicht versagen und unter den besten Empfehlungen von meinem Bruder und mir, verbleibe ich Ihre ewig dankbar Fr. verw. N.


Im Pfortaer Krankenbuch ist eingetragen, dass N vom 24. April bis 5. Mai 1863 auf der Krankenstube war, wegen „Katarrh“. Aber es kam unmittelbar anschließend noch eine „Entzündung des Ohres, des processus mastoidei ossis petrosi“ [des hinter dem äußeren Gehörgang liegenden Warzenfortsatzes des Felsenbeins] hinzu und dauerte vom 7. bis zum 20. Mai. J1.129


Am 27. April schrieb N seiner Mutter nach Naumburg:

Liebe Mamma! Ich bin seit einigen Tagen auf der Krankenstube wegen meiner Heiserkeit; sie wollte gar nicht weichen, ein fataler Schnupfen stellte sich ein. Letzterer verschwindet immer mehr auf der Krankenstube, aber die Heiserkeit ist noch da. Gestern, Sonntag, habe ich früh ein Paar Blutigel an meinem Halse gehabt; sie sogen gut, es ist auch ein wenig besser. Ich muss sehr Diät und warm leben und nicht viel sprechen. Ich benutze die Zeit zu vielem Lesen und Schlafen. Es ist langweilig, wenn ich nicht interessante Lektüre hätte. Mitunter besucht mich auch Jemand ….. Das Wetter ist schlecht und wechselvoll; ich bin froh, jetzt in der warmen Stube zu sein, ebenso, dass ich gerade jetzt unwohl bin, wo ich an der schönen Natur nichts verliere. Schade, dass ich jetzt alles Klavierspielen entbehren muss, es kommt mir alles tot vor, wo ich nicht Musik höre. Wie ich noch drüben war, spielte ich sehr viel die vierhändigen Haydnschen Sinfonien; kindlich, reizend und rührend sind sie [aber wer die beiden anderen Hände spielte - oft war es Freiherr Carl von Gersdorff, 1844-1904, - das verriet er - bezeichnenderweise! - nicht, weil sein Interesse an „einem Anderen“ grundsätzlich nicht so weit über sich selbst hinausreichte! Ein Gefühl für das Sonderbare in seiner Ausdrucksweise, dass Er, mit nur zwei Händen, die vierhändigen Haydnschen Sinfonien spielte, ergab sich ihm nicht - und eine eigentlich ganz natürliche „wir“-Vorstellung brachte er anlässlich dieser Darstellung von Klavierspiel auch nicht zustande].

Mitunter und mehr als sonst denke ich [im vorletzten Schuljahr vor dem Abitur! - denn eigentlich stand es außer Frage, dass er beruflich der Familientradition folgte] über meine Zukunft nach: äußere und innere Gründe machen sie etwas schwankend und ungewiss. Vielleicht könnte ich noch jedes Fach studieren [auch Mathematik beispielsweise?], wenn ich die Kraft hätte, alles andere mir Interessante von mir zu weisen [wenn! - Aber er hatte diese Kraft nicht! - Von daher war die Formulierung also ziemlich vermessen!]. Schreibe mir doch einmal deine Ansicht darüber [obgleich er doch wissen musste, dass für die Mutter nur der Nachfolgeberuf des Vaters, Pastor, in Frage kommen konnte!]; dass ich viel studieren werde, ist mir ziemlich klar, aber wenn nur nicht überall nach dem Brotstudium [nach den Belangen der Wirklichkeit!] gefragt würde! -

Irgendwovon musste er schließlich leben. Das war die Nützlichkeit. Seiner Lust und Neigung nachzugehen war der Luxus „freier Entscheidung“ und entsprach seiner „Herrscheramtlichkeit“. In dieser Funktion etwas für die Menschheit „Nützliches“ zu schaffen lag außerhalb seiner Fähigkeiten.

Sonnabend vor 8 Tagen war Beichte, Sonntag Abendmahl [woran er fraglos beteiligt war; - was er in späteren Jahren dennoch rundweg in Abrede stellen sollte!]. Dass ich mir das Beste vorgenommen habe und die vergangne Geschichte [wohl das nicht beabsichtigte und schwer bereute Besäufnis] in mannigfacher Beziehung mich zum Nachdenken aufgefordert hat, dass ich besonders alles das, was Du mir geschrieben, reiflich überdacht und auf mich habe wirken lassen - das will ich nicht weiter versichern, ich hoffe, dass mein ferneres Verhalten dafür zeugen wird. Sobald ich wieder ganz wohl bin und das Wetter schön, komme ich einmal nach Naumburg. Wir haben uns ja lange nicht gesehn. Es wird euch hoffentlich besser als mir gehen. Ich grüße Lisbeth und den Onkel von Herzen. Lebt alle recht wohl! Fritz. (352)


Die Krankheit, der Aufenthalt auf der Krankenstube und das Nachdenken über die eigene Zukunft hielten an. Am 2. Mai 1863 schrieb N der Mutter nach Naumburg:

Liebe Mamma. Dein lieber Brief mit den Brustkaramellen [die Mutter hatte sofort zu geeigneten Hausmittelchen gegriffen!] kam mir sehr angenehm, da ich manches wieder von euch hörte was mich ja auch sehr interessierte. Um zuvörderst nun von meinem Unwohlsein Bericht zu erstatten, so ist die Heiserkeit immer noch da und zwar unvermindert; ich trinke seit gestern Selterwasser mit Milch und das scheint die Kehle ein wenig zu erleichtern. Es wird mir allmählich grauenhaft auf der Krankenstube, besonders da heute Wetter und Himmel lustig aussehen. Obwohl ich hier arbeite, will es doch nicht viel werden, da mir immer ein oder das andre Buch fehlt. Ich mache mir Auszüge aus Hettners Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, überhaupt treibe ich viel Literaturgeschichte.

Was meine Zukunft betrifft, so sind es eben diese ganz praktischen Bedenken, die mich beunruhigen. Von selbst kommt die Entscheidung nicht, was ich studieren soll. Ich muss also selbst darüber nachdenken und wählen; und diese Wahl [diese Freiheit seines Willens!] ist es, die mir Schwierigkeiten macht. Gewiss ist es mein Bestreben, das, was ich studiere ganz [superlativ, maßlos gedacht!] zu studieren, aber um so schwieriger wird die Wahl, da man das Fach heraussuchen muss, worin man etwas Ganzes zu leisten hoffen kann. Und wie trügerisch sind oft diese Hoffnungen! Wie leicht lässt man sich von einer momentanen Vorliebe oder einem alten Familienherkommen [zu welchem bei ihm kaum noch ein intaktes Verhältnis bestand] oder von besonderen Wünschen fortreißen, so dass die Wahl des Berufes ein Lottospiel [als eine irgendwo immer nur zwischen den Extremen liegende Entscheidung] erscheint, in dem sehr viele Nieten [sehr durchschnittliche Lebensverläufe] und sehr wenig Treffer [erfolgreiche, berühmte und auf Emerson‘sche Art und Weise ungeheuer angesehen machende, jenseits aller üblichen Maße liegende Leistungen möglich!] sind.

Die Art wie N dieses Thema hier anging zeigt, wie schwankend und unsicher er sich allein der Kriterien war, nach denen er zu entscheiden gehabt hätte. Es ging ihm nämlich nicht um Neigung und wirkliches Interesse, die er beide an und in sich nicht kannte, sondern er wollte vor allem a) die Sicherheit, das einzig Richtige, nicht zu Bereuende und b) das zu seiner „herrscheramtshörigen“ Neigung superlativ Passendste und von daher das Erfolgversprechendste wählen: Etwas, das wegen dem N fehlenden ausgewogenen - sich nicht nur an Extremen orientieren müssenden! - Maß ohnehin nicht erreichbar war, weil ewig ein Ungenügen am Erreichten ihn quälen musste. Und so ist es - wie noch erkennbar wird - mit ihm gekommen!

Nun bin ich noch in der besonders unangenehmen Lage, wirklich eine ganze Anzahl von auf die verschiedensten Fächer zerstreuten Interessen zu haben [wobei diese „Interessen“ nicht - wie N es tat! - mit Könnerschaft zu verwechseln waren], deren allseitige Befriedigung mich zu einem gelehrten Manne [à la Byrons phantastischem Manfred? - schon ging es mit den übertriebenen Maßen los!], aber schwerlich zu einem Berufstier [einem nicht nur ins Manfredisch Ungeheure greifenden, sondern einen etwas praktisch „Anwendbares“ könnenden Menschen] machen würde. Dass ich also einige Interessen abstreifen muss ist mir klar [nur welche?]. Dass ich einige neue [aber wiederum: welche?] hinzugewinnen muss, ebenfalls [genau dazu ist ihm alles Konkrete unklar geblieben!]. Aber welche sollen nun so unglücklich sein, dass ich sie über Bord werfe, vielleicht gar meine Lieblingskinder! Ich kann mich nicht deutlicher [nicht zwangsläufig in Emerson‘sche Tiefen greifender!] aussprechen, die kritische Lage ist einleuchtend und übers Jahr muss ich mich entschieden haben. Von selbst kommt es nicht und ich selbst kenne die Fächer zu wenig. Genug. - Ich habe eigentlich nichts weiter zu schreiben ….. Grüße Lisbeth und Onkel [Theobaldchen] recht sehr von mir! Lebt recht wohl allesamt! Fritz (352)

Entgegen seiner Ankündigung war N nicht auf das zurückgekommen, was er meinte und ihn interessierte, bevor er schrieb „zuvörderst nun von seinem Unwohlsein Bericht zu erstatten“. Sein ganzes Denken und Fühlen, sein Interesse und Auffassungsvermögen drehte sich wieder nur um ihn selbst, um für ihn sicher sehr wichtige „Dinge“, aber das Leben besteht - mitden Anderen“! - aus mehr! Vor allem, wenn es darum gehen sollte, ihnen - „diesen Anderen“! - etwas zu geben und mitzuteilen, womit sie etwas anfangen können, d.h. für sie von erkennbarem - aber leider ach so unangesehenen! - Nutzen wäre!


Am 11. Mai 1863, einem Montag, schrieb N wieder an seine Mutter in Naumburg:

Liebe Mamma! Wie gern hätte ich dir im Lauf der Woche Nachricht zukommen lassen, wie es mir geht; aber du glaubst nicht, wie man auf der Krankenstube abgeschnitten lebt. Wie selten kommt ein Mensch herüber und nun gar bei dem schönen Wetter. Dazu keine Schreibmaterialien da. Bis Donnerstag habe ich noch zu Bett gelegen, es eiterte im Ohr ganz tüchtig und eitert noch. Täglich wird eine Art Tee eingespritzt. Hinter dem Ohr haben sich drei kleine Schwären [Ulcera, Geschwüre, „tiefliegenden Substanzdefekte“ der Haut oder Schleimhaut infektiöser, immunologischer oder duchrblutungsgestörter Herkunft.] gebildet. Die Nächte habe ich noch recht zu leiden, es ist überhaupt wohl die schmerzhafteste Krankheit, die ich gehabt. Schnupfen habe ich immer noch, aber sonst bin ich doch wohler, wenn auch noch recht matt. Ich gehe jetzt etwas in der Sonne spazieren und kann auch wieder arbeiten. Ich höre aber noch recht schlecht und sehe auch noch nicht so wie gewöhnlich aus. Appetit habe ich auch wieder. Die ganze Woche habe ich mich recht nach Euch gesehnt, schreiben konnte ich nicht und war so allein immer.

Morgen will ich den Doktor fragen, ob ich herübergehen kann. Ich freue mich recht aufs Schulfest; wenn ich es nur recht genießen kann. Gestern habe ich einen hübschen Brief von Onkel Edmund bekommen, der euch und Onkel Theobald herzlich grüßen lässt. Er wird in der Woche nach dem 3. Juni kommen. Schreibt mir vor dem Schulfest ja noch. Und dann brauche ich notwendig noch Geld, so auf der Krankenstube wie zum Schulfest. Lebt recht wohl! Viele Grüße an Lisbeth und den Onkel. Vielleicht komme ich Mittwoch nach Tische, wenns nicht zu heiß ist nach Naumburg. In herzlicher Liebe Fritz. (355)


Sechs Tage später, am 17. Mai 1863, hieß es:

Liebe Mamma. Heute, Sonntag, schreibe ich Euch wieder, da ich mich wohler fühle und morgen, falls es da noch besser geht, herüberzugehen gedenke. Ich bin in der letzten Zeit sehr verdrießlich gewesen, da ich gar keine Änderung meines Zustandes wahrnahm und doch mit Pillen und Öleinreibungen gequält worden war. Noch gestern Nacht hatte ich zwei Stunden lang den fatalsten Hustenanfall mit Schnupfen und fließenden Augen. Heute ist die Heiserkeit geringer, doch noch Schnupfen blieb zurück.

Das Wetter ist auch so schön, ich sehne mich weg von dieser traurigen Stube, habe auch gar keine Zeit hier zu liegen; Arbeiten von allen Seiten, die drängendsten. Ich habe gegenwärtig große Lust, die Hundstagferien mit Studien hinzubringen; ja ich sehne mich gewissermaßen darnach. Natürlich in Naumburg; Gustav ist wahrscheinlich allein zu Hause, da Krugs verreisen. Ich habe so viel noch zu tun, dass ich die Ferien dazu brauchen muss. Und alles bis Michaelis [29. September].

Das Interesse von Pforta haftet ausschließlich am Pfortaer Schulfest. Die Erwartungen sind die größten, auch für die Damen, da ungefähr 30 - 50 offiziell zu erwarten sind ….. Das Diner am ersten Tag ….. wird auf 200 - 400 Personen gerechnet. Im Turnsaal ist das Essen, vorher der Aktus [Festakt], an dem Stöckert [ein Schüler in Pforta] eine deutsche Rede halten wird, famos, sag ich euch. Ihr müsst auch dazu heraus. Bewerbt euch bald um Einladungen, es ist hohe Zeit. Am zweiten Tag ist Bergtag, darnach vielleicht Ball. Geld wird die Geschichte kosten, auch den Alumnen. Aber es wird sehr lustig, wofern alles gut abläuft und man sich überhaupt amüsieren will. Ungelegen ist mirs nur, weil’s mir noch mehr Zeit zum Arbeiten wegnimmt. Nun lebt allesamt recht wohl! Schreib mir recht bald, liebe Mamma, auch meine letzten Zeilen harren noch auf eine Antwort. Adieu! Fritz. (356)

Er drehte sich, wie immer wieder und zumeist, weitgehend um sich selbst, griff ganz selten nur mal über sich hinaus. Die Briefe zeigen, verglichen mit Briefen anderer, eine beengte Geschlossenheit, einen eng gezogenen Horizont um ihn selbst, in den selten etwas zu dringen vermochte und auftauchte, was neben ihm und unabhängig von ihm existierte.


Ende Mai oder Anfang Juni 1863 schrieb N aus Pforta wieder an die Mutter in Naumburg:

Hier übersende ich dir recht schmutzige Wäsche, teilweise noch von meiner Krankheit her, außerdem die versprochenen Noten, dazu etwas, was ihr der Tante mitschicken möget „ein Albumblatt“ wenig aber mit Liebe, wie auf allen Albumblättern. Etwas Neues habe ich nicht erlebt, heute habe ich schon sehr viel gearbeitet, das Wetter ist schön, Sonnabend denke ich euch wieder zu besuchen. Heute Nachmittag werde ich zu Herrn Prediger Kletschke gehen und alles ausrichten. Wenn du mir meine Kiste wieder schickst, liebe Mama, kannst du mir vielleicht einmal Kirschen mitschicken, ich habe noch keine einzige dies Jahr gegessen [es hatte sich scheinbar noch nicht bis zu ihm hin herumgesprochen, dass die Reifezeit der Kirschen im Juli liegt!]. Ihr habt mir ja lange, sehr lange nichts geschickt. Auf die Ferien [die noch gut 5 Wochen hin waren] freue ich mich mopsartig, eigentlich wie jemals kaum. Macht mir nur die Stube recht hübsch zurecht, so dass sie nicht mehr so riecht und es recht frisch drin ist. Mein Tageslauf wird etwa folgender sein: Früh circa 4 - 5, stehe ich auf, arbeite etwas, trinke um 6 mit euch dann Kaffee, arbeite dann wieder bis gegen neun, spiele dann mit Gustav den einen Tag bei Krugs, den andern bei uns vierhändig [auf dem Klavier], gehen dann zusammen baden: zu Mittag bin ich wieder da und den Nachmittag bin ich zu eurer Disposition, wofern ihr mich nicht jeden Tag in Gesellschaft schleppen wollt. Indessen zusammen spazieren gehen, bei rechter Glut, darauf freue ich mich. Nun lebt recht wohl! Übermorgen hoffentlich auf Wiedersehen! Euer Fritz. (363)


Das waren die Pläne. Dazu gab es genauere Notizen „Für die Ferien“:

Nibelungenlied [ein hochmittelalterliches „Heldenepos“ in etwa 2.400 Strophen aus der Zeit um 1200 n. C., - wiederentdeckt in verschiedenen, unterschiedlich alten Handschriften im 18. Jahrhundert, die eine mit dem „Ideal“ der vasallenorienten „Nibelungentreue“ verbundene, aus Neid, Meineid, Betrug, Verrat und Mordgelüsten sich entwickelnde Vernichtungs- und Untergangsorgie ohne Sieger - das zum verhängnisvoll vorbildlichen „deutschen Nationalepos“ geraten sollte]. Die heidnischen und christlichen Anschauungen scharf hervorzuheben, ebenso die ethischen Ideen. Die Charaktere sind im Gegensatz zu den homerischen [aus dem zehnjährigen Kampf um Troja und den abermals zehnjährigen Irrfahrten des Odysseus] zu betrachten. Der ästhetische Standpunkt des Liedes bei der Darstellung des Schrecklichen und des Schönen. Zu lesen mit der Lachmannschen Ausgabe [Karl Konrad Friedrich Wilhelm Lachmann, 1793-1851, war ein deutscher germanistischer Mediävist, Altphilologe und vorbildlich kritischer Herausgeber von historischen Texten]; zu beobachten das Ältere und das Neuere. Am besten frühmorgens zu lesen im Freien. Aber mit genauen Auszügen.

Das liest sich, als wären es Regieanweisungen für den „arbeitenden“ und sich dabei in Szene setzenden N! - Danach ging es N, mehr schulisch ausgerichtet um den römischen Dichter, Satiriker und stoisch orientierten Philosophen etruskischer Abstammung Aulus Persius Flaccus, ein römischer Dichter, 34-62 n. C. und um den gut eine Generation jüngeren Satirendichter Decimus Junius Juvenalis: „Vielleicht am besten von 9-12 zu lesen, um nach der Nibelungenlektüre eine scharfe ‚Abwechslung zu haben.“ - Danach folgen Bemerkungen zum Ferien-Umgang mit dem Neuen Testament: „Jesus als Volksredner zu betrachten, dazu die Evangelien durchzulesen. Er [Jesus] errät die Gedanken. Die Gleichnisrede Matth.13 und ihr Zweck“ usw.: „Zu lesen in Gorenzen vornehmlich mit Gerlachs Übersetzung ….. Früh wohl am Besten. Dann dem Onkel vorzulegen.“ Danach folgt dann, nach einer Unterbrechung von weit mehr als einem Jahr als eine Rück- oder Wiederkehr eine Notiz zu:

Emerson. Eine Skizze des Buches für meine Freunde. Seine Betrachtungsweise amerikanisch. „das Gute bleibt, das Böse vergeht.“ Über Reichtum. Schönheit. Kurze Auszüge aus allen Essays. Über Philosophie im Leben. Vielleicht in Sangerhausen [dem Wohnort des Vormunds von N, von Naumburg aus 50 km nordwestlich an Südrand des Harzes gelegen] zu schreiben, morgens. Mit Muße und Sorgsamkeit.

„Mit Muße und Sorgsamkeit“ betrachtet ergeben sich zu diesen wenigen Zeilen etliche Fragen: Was meinte N mit „eine Skizze des Buches“? Sollte es ihm „für seine Freunde“ wirklich nur um ein Buch von Emerson gegangen sein? Dann hätte es sich dabei - den angegebenen Kapitel-Überschriften entsprechend! - eindeutig um Emersons „Führung des Lebens“ handeln sollen, - bilden die beiden Titel „Reichtum“ und „Schönheit“ doch darin das dritte und achte „Hauptstück“, was so viel wie Kapitel bedeutet. Aus diesen beiden Kapiteln hatte N jedoch vor gut Jahresfrist - außer dem typischen Emerson-Flair, dem auch sie unterliegen - nichts wörtlich oder auch nur so gut wie wörtlich in seine beiden Jugendaufsätze über „Fatum, Geschichte und Willensfreiheit“ übernommen! Andererseits notierte N: „Kurze Auszüge aus allen Essays“, obwohl in Emersons „Gedanken und Studien“ zur „Führung des Lebens“ - im Gegensatz zu dem Band „Essays“! - mit keinem Wort von „Essays“ die Rede ist.

Was ist solchen Unstimmigkeiten zu entnehmen? Es gibt keinen Hinweis darauf, dass N anderweitig geplant gehabt hätte, die Freunde mit den tatsächlich „Essays“ genannten Kapiteln aus Emersons Büchern bekannt zu machen. Ns Wesen entsprach, dass er die ihm besonders viel bedeutenden „Essays“ und „Hauptstücke“ für sich behielt, - schon um sich nicht in die Karten blicken zu lassen. Dass er in seiner Notiz ausgerechnet zwei Kapitel-Überschriften anführte, die ihn nicht zu sonderlich viel Identifikations-Aufwand verleitet hatten, passte zu seiner Maskenspiel-Neigung, das für ihn Wesentliche letztlich doch für sich und im Verborgenen zu behalten.

Dennoch drängte ihn etwas, die Freunde mit seinem Lieblingsschriftsteller bekannt zu machen. Er suchte die Gelegenheit, sein nicht nur von Emerson übervolles Herz von diesem - und von sich selbst! - künden zu lassen. Dabei dachte er zuerst - in instinktivem Vermeiden von allzu Persönlichem! - an die ihn weniger tief berührenden Kapitel und sicherlich nicht nur aus der „Führung des Lebens“, darauf verweist die Absicht, „Kurze Auszüge aus allen Essays“ bringen zu wollen. Ihm ging es doch um das sehr Vieles umfassende und ihm sehr bedeutsame Thema der „Philosophie im Leben“! - und dies war in der Fülle gemeint, in der Ihn das „philosophisch Grundsätzliche für sein Leben“ - und das Leben überhaupt! - beschäftigte: Eingeschlossen seine erhobenen, seine alles in widerspruchsfreiem Zusammenklang erscheinen lassenden „Momente“, - aus deren extrem spezieller Erfahrung heraus allein ihm gegeben und möglich war, auf die Frage, ob beispielsweise „der Ruhm“ - die Besonderheit, nach der sich in ihm so sehr „herrscheramtliche“ Sehnsüchte regten! - „wirklich nur der köstlichste Bissen unserer [d.h. ganz speziell seiner!] Eigenliebe“ wäre, eine Antwort zu geben - ohne in dieser Antwort, als er sie denn - vieles von ihm verratend! - gab, zu erklären von wem er dabei berichtete, - er wählte dafür gern Heraklit! - redete aber von eignen Erfahrungen! - und schrieb dazu - aus welcher über sein persönliches Empfinden hinausreichenden Erfahrung und Erkenntnis heraus aber? - jedenfalls aus den Tiefen seiner eigenen Seele mit bewegenden und auch betroffen machenden Worten - 9 Jahre später, 1872, die schon einmal zitierten, aber in anderem Zusammenhang betrachteten, für ihn so überaus wichtigen Zeilen:

„Er [der Ruhm] ist doch an diese seltensten Menschen [von denen einer zu sein N sich begriff!], als Begierde, angeknüpft und wiederum an die seltensten Momente derselben [was darauf hinweist, dass N diese Momente kannte, erlebt hatte und sich deshalb für berechtigt hielt, sich über sie auszulassen - wie wäre er sonst darauf gekommen?; auch in der Weise, wie er es tat! Und es ist angeraten, ihm gerade darin gut zuzuhören! Er berichtete da:] Dies sind die Momente der plötzlichen Erleuchtungen, in denen der [beispielhafte] Mensch seinen Arm [„herrscheramtlich“ natürlich!] befehlend, wie zu einer Weltschöpfung, ausstreckt, Licht aus sich schöpfend und um sich ausströmend. Da durchdrang ihn [hinter dem vorgeschobenen „Menschen“, Heraklit oder sonst wem immer: Er war es selbst! - denn woher - außer aus seiner eignen Erfahrung! - sollte ihm derlei ausgefallenes „Wissen“ - mit der verratenen Intensität! - ins Bewusstsein geraten sein?] die beglückende Gewissheit, dass das, was ihn so ins Fernste hinaus hob und entrückte, also die Höhe dieser einen Empfindung, keiner Nachwelt vorenthalten bleiben dürfe; [und] in der ewigen Notwendigkeit dieser seltensten Erleuchtungen für alle Kommenden erkennt der Mensch [N selbst letzten Endes!] die Notwendigkeit seines Ruhmes; [mit dem N aber die von Ihm erlebten speziellen „Momente“ meinte! Andere kannte er schließlich nicht! Denn:] die Menschheit, in alle Zukunft hinein, braucht ihn und wie jener Moment der Erleuchtung der Auszug und Inbegriff seines eigensten Wesens ist, so glaubt er als Mensch dieses Momentes unsterblich zu sein, während er alles Andere, als Schlacke, Fäulnis, Eitelkeit, Tierheit oder als Pleonasmus [als im Grunde ekelerregend und überflüssig] von sich wirft und der Vergänglichkeit preisgibt.“ 1.755

So empfand N! Letztlich diesem Wortlaut entsprechend! Das war kein Denken sondern ein entscheidender Bestand- und Basisteil seines Welterlebens, - sonst wäre er unfähig gewesen, derlei schreiben und empfehlen zu können! Er fühlte so und auch dass dies seine unumstößliche „Wahrheit“ war! Einschließlich der ihn durchdringenden „beglückenden Gewissheit, dass das, was ihn so ins Fernste hinaus hob und entrückte, also die Höhe dieser einen Empfindung, keiner Nachwelt vorenthalten bleiben dürfe“! - Man bedenke was dazugehört, dergleichen von sich zu geben! Es war ein Bekenntnis persönlichster und zugleich pathologischster Art! Dieser Absatz, so wie er da - zitiert! - nun einmal steht, ist - als philosophische Aussage! - ungeheuer! Ihn überhaupt geschrieben zu haben, das heißt: dazu fähig gewesen zu sein ihn geschrieben zu haben! - bedeutete für Ns Schaffen seine in jeder Beziehung zentrale Befindlichkeit und ist als Aussage der Dreh- und Angelpunkt und Antrieb für seine gesamte Schriftstellerei. Durch diesen - gleichsam als Lupe oder sogar als Mikroskop zu benutzenden Absatz hindurch gewissermaßen - muss N betrachtet werden, um die Struktur seiner „Persönlichkeit“, sein wahres „Ausmaß“ erkennen zu können. Um eben diese Bedeutung herauszustellen war es nötig, diesen Absatz hier noch einmal vollumfänglich anzuführen.

N hatte sich dessen Inhalt, Aussage und die damit gemachte Behauptung aus den psycho-somatisch subjektiv bedenklichsten Abgründen seiner ureigensten, wenn man so will ungeheuer „weit gefassten Seele“ geholt. Nirgends sonst hat er mit dermaßen klar offengelegten - eigentlich ja nur an Cosima Wagner gerichteten Worten - beschrieben, worum es ihm ging und woher er die Überzeugung für seine Ziele und sein Tun genommen hatte. Von Emerson darin mehrfach bestärkt hatte N sich entschlossen, dieser dunklen Wahrheit seines Wesen folgen zu dürfen und folgte ihr: In Allem nur auf sich und sein Innerstes gestützt und berufen, - sich darzustellen als unbeschreibliche Neuheit in dieser und für diese Welt - was er in seiner extremen Selbstmittelpunktlichkeit ja auch tatsächlich, - wie ja - allerdings in deutlich anderen, „normaleren“ Maßen als Er es für gut befand - jeder andere auch war! So wollte N die „Philosophie im Leben“ erleben und verstanden wissen und repräsentieren. So weit sein Anspruch! Hat er diesen aber, „den Anderen“ gegenüber eingelöst?


Dass Emersons „Betrachtungsweise amerikanisch“ wäre, hat N sich aus der geographisch dort offensichtlich sehr anderen Luft gegriffen. Der Emerson, den N kennengelernt hatte, war ein Prediger, ein Selfmademan, der bei den Amerikanern Erfolg hatte, - seinem Wesen nach aber schwärmerisch humanistisch-bildungsbürgerliche Europaverbundenheit bewies und auf diese Weise brillierte. Für die schlagwortartige Beschreibung Emersons mittels der Worte „das Gute bleibt, das Böse vergeht“ findet sich in Emersons Texten keinerlei Bestätigung. Die Ansicht, dass es so wäre, dürfte in erster Linie aus Ns Erinnerung an das Erlebnis, wie sehr Emersons Erklärungen doch dazu angetan waren, ihn alle Zweifel an sich selbst vergessen zu machen, gekommen sein; - und dass N damit alles bis dahin bedrückend Wirkende „verging“!

Über das Gute und Böse berichtete Emerson wenig. In der Lebensführung heißt es im „Hauptstück“ mit dem Titel „Gelegentliche Betrachtungen“ nach Ausführungen darüber, dass sich die Massen im Tier- oder Puppenzustande, also noch nicht in einem wirklich menschlichen befänden, die Aussage:

„Gegenüber diesen trübseligen Zuständen ist die erste Belehrung aus der Geschichte die vom Guten und Bösen. Das Gute ist ein guter Arzt, aber das Böse ist manchmal besser.“ EL.176 Diese Belehrung hatte sich N, wie jedermann leicht feststellen kann, in seinen eigenen und eigentlichen „philosophischen“ Betrachtungen gründlich zu eigen gemacht.

In den „Essays“ hat Emerson unter dem Titel „Selbstvertrauen“ „das Gute“ auf folgende Weise beschrieben, - im ursprünglichen Zusammenhang:

Wenn wir ein neues Bewusstsein haben [und die Menschheit, wie N es zu hoffen wagte, mit all ihren freigeistlichen Sinnen nach dem Übermenschen streben würde], so werden wir mit Freuden das Gedächtnis von seinen aufgehäuften Schätzen wie von altem Schutte befreien. ….. Wenn du dem Guten nahe bist, wenn du Leben in dir fühlst, - nicht auf einem dir schon bekannten oder bezeichneten Wege; du sollst nicht die Fußstapfen Anderer zu entdecken suchen ….. so soll dir der Weg, der Gedanke, das Gute etwas völlig Fremdes und Neues sein. Es soll alles andere Sein ausschließen. EE.51

Was N so las, dass er „noch nicht Gedachtes“ hervorbringen müsste und unter diesem Vorsatz entdeckte, dass dies am leichtesten durch „Umwertung“ geschehen kann! - durch die grundsätzliche Erklärung, dass allein im Gegenteil vom allgemeinhin Geglaubten die wirkliche Wahrheit läge! Über „das Gute“ schrieb Emerson:

Wenn das Gute da ist, so ist auch das Böse da; wenn die Verwandtschaft, so auch die Abstoßung; wenn die Kraft, so die Beschränkung [was vor allem poetisch wohlklingender Nonsens war, weil er nichts erklärte] ….. Alle Dinge sind in der Moral begründet. Dieselbe Seele, die in uns Gefühl ist, ist außer uns Gesetz EE.77

Aber das war ein gefährlicher geistiger „Kurz-Schluss” und musste einen Mann mit den Anlagen Ns sehr wohl auf verdächtige Bahnen locken, so dass er sich verleitet sah, seine Gefühle mit Gesetzmäßigkeiten innerhalb des Universums in einen Zusammenhang zu bringen, - was er schließlich getan hat, - und dies vielleicht auch unabhängig von dieser Art ihm gestellter „Falle“, in die er bereitwillig tappte!


Es ist nichts erhalten geblieben, was auf eine tatsächliche Information der Freunde über Emerson hinweisen würde! Sicher hatte N es geplant, aber er hat es, - wie später so viel Geplantes! - nicht wirklich ausgeführt! - Sicherlich weil er - wie Ritter Blaubart - dabei zu viel von sich, von seinen geheimsten Winkeln und Verließen, hätte preisgeben müssen und so hat er es lieber doch unterlassen. Es gab niemanden, der über Ns Verbundenheit mit Emerson ihrem wahren Umfang nach Kenntnis bekommen hätte! In diversen „Chroniken“ der „Germania“, wie sie überliefert sind, gibt es keinen Hinweis darauf, dass N tatsächlich „eine Skizze des Buches für seine Freunde“ vorgetragen oder geliefert hat. Es kam nämlich, wie so oft im Leben, anders als geplant. Aus der „Muße und Sorgsamkeit, morgens, in Sangerhausen zu schreiben“ wurde nichts. Um vorerst aber bei Ns Notizen „Für die Ferien“ zu bleiben:

Nach dem Eintrag zu Emerson befand N sich wieder auf glühend romantisch-Byron-Manfredischen Pfaden. Da riecht es beinahe nach Schwefel und zeitgemäßer Alchimistenküche und -künsten, nach „Weisheitssteinsuche“ und der Sehnsucht nach unverlierbarer, für die Ewigkeit geltender Allwissenheit:

Gedichte. 1. Windsbraut. Das schweifende Geschick sucht sich mit den unheimlichen Tiefen des Menschen zu vereinigen und vernichtet alles wenn die Vereinigung geschehen“ [was einen irgendwie seltsamen, ins Abstrakte verirrten Nihilismus und Zerstörungsgenuss verrät. Es ist davon nichts erhalten geblieben. Darauf folgt:]

2. Irrstern. Wandlung durch den Weltkreis, suchend die verlorne Bahn. O dass seine Augen geöffnet würden, denn er geht den vorgeschriebenen gleichen Weg durch die Ewigkeit [„vorgeschrieben“? Von wem? - Und dazu „Ewigkeit“ - wie geht das je logisch zusammen?]. Und so jede Seele, die ein ewiges Ziel im Auge hat [wie N ein solches hatte!], sie wandelt eine sichere Bahn, ob sie gleich in Nacht und Irrtum zu wallen scheint [auch davon ist nichts erhalten!].

3. Gesang des Sommers. Grundidee: „Das Gute bleibt, das Böse verschwindet“ [was kurz zuvor noch Emerson angedichtet war!]. Noch nichts Näheres. Jedenfalls Schlussgedicht von den „Sturmliedern“. [Von den geplanten Gedichten hat sich trotz so Vielem anderen keines erhalten, was nahe legt, dass sie gar nicht entstanden sind, wie wohl auch die „Skizze des Buches für meine Freunde“.]

Einige Nächte sind zum Komponieren zu verwenden. Zuerst Fortsetzung des Allegro der Sonate. Vorläufig zweihändig. [Die folgenden Angaben beziehen sich auf die Vertonung fremder Texte: „So lach doch mal“ Gut abzuschreiben. Ebenso „aus der Jugendzeit“ für [den Pfortaer Schulkameraden Georg] Stöckert. Dann vor allem „O Glockenklang in Winternacht“. Aus Leipzig muss ich mir wieder Notenpapier verschaffen. BAW2.221f


Es folgen in den Notizen Aufstellungen, welche Bücher N, wohl für die Ferien aus Pforta brauchte, - unter anderen ein „Nibelungenlexikon“ und „Emerson“ BAW2.222; und an welche Bücher aus Naumburg zu denken war; - dann etwas über schulische Arbeiten und dass ein Notizbuch, Papier, Löschblätter und Gänsefedern zu besorgen waren. Das wirkt alles sehr mühsam organisiert, als ob ihm solche Kleinigkeiten Schwierigkeiten bereitet haben und er sich mit Zettel, Bleistift und Notizen behelfen musste, um die Übersicht zu behalten. Dann folgen die Titel von 6 „Sturmesliedern“, unter denen von den zuvor genannten über die „Windsbraut“, den „Irrstern“ und der abschließende „Gesang des Sommers“ keines aufgeführt ist und die anderen nicht aufgeführt wurden! Dann notierte er, was er nach den Hundstagsferien tun wollte. Anschließend folgen über 23 Druckseiten hinweg viele „Anmerkungen zu den Nibelungen [als ginge es um wissenschaftliche Gründlichkeit!]. Gelesen mit dem Lachmannschen Text in den Hundstagen 1863.“ BAW2.223-247

Zwischendrin gibt es eine Seite auf welcher steht:

„Ich [gefolgt von einem zweiten „ich“] habe, las ich einmal, die Natur des Menschen in allen Erdgegenden kennengelernt und sie umso tugendhafter, je wilder sie waren, gefunden [ohne anzugeben wieso? - Das ist doch absolut nicht zwingend, sondern gewollt!].“ So geht durch das Nibelungenlied ein tief sittlicher Zug [einer archaisch bedingungslosen, sich selbst und auch eigene Moralvorstellungen aufgebende Vasallentreue, die über jede Art Unrecht hinweg in die unabwendbare Katastrophe des kollektiven Nibelungenuntergangs führte, welche seelisch-geistig nicht weit entfernt war von dem, worein sich Deutschland 1933 eingelassen hatte und was 1945 „nibelungenartig“ zu seinem Ende kam]; der alte Mythus mit seinem Verhängnis, seiner Geisterwelt, der Erscheinungen des Menschenherzens zu sich herüberzieht [aber in welchem Sinn?] und sie [die Menschenherzen?] mit seinem phantastischen Schmuck überkleidet, ist in spätern Jahrhunderten aus dem Gedächtnis des Volkes fast verschwunden ….. - usw. BAW2.245

Bei wem wollte N - ungeschickt ausgedrückt wie manches in diesem Zusammenhang - solches gelesen haben? - Bei Emerson natürlich! So bringt er unbedenklich seinen Liebling Emerson und das ihn gerade begeisternde, jedenfalls beschäftigende Nibelungenlied „logisch“ zueinander. Bei Emerson heißt es auf zwei aufeinanderfolgenden Seiten in der „Führung des Lebens“ im „2. Hauptstück“ betitelt „Von der Macht“:

Dieser männliche Kraftüberfluss hat in der Weltgeschichte dieselbe Wichtigkeit wie im häuslichen und Geschäftsleben. Die Stärke einer Rasse wie eines Individuums lässt sich zuletzt auf Naturkräfte zurückführen, welche bei dem Wilden am kräftigsten sind, der, gleich den Tieren um ihn herum, noch seine [von noch nicht sonderlich viel Erkenntnis getrübte] Milch aus den Brüsten der Natur empfängt. EL.48

Auf der nächsten Seite heißt es dazu noch - und bei diesem Grundsatz ist N in seiner Art „Philosophie“ zu machen und in seiner Auffassung von „Kultur“ sein Leben lang geblieben:

In der Weltgeschichte ist der große Moment derjenige, in welchem der Wilde eben aufhört, ein Wilder zu sein und all seine langhaarige, pelasgische [unter den Pelasgern verstand man im antiken Griechenland die sagenhaft älteste griechische Bevölkerung, - deren] Kraft in seine der Schönheit geöffneten Sinne überflutet: da habt ihr Perikles [490-429 v. C., einen der führenden demokratischen Staatsmänner Athens] und Phidias [500-432 v. C., den bedeutendster Bildhauer der Antike], die noch nicht in der korinthischen Überbildung verschwommen sind. Alles was gut ist in Welt und Natur, geschieht in dieser Übergangsperiode, wenn die gesunden Säfte noch voll und natürlich strömen, aber ihre Bitterkeit und Schärfe durch Moral und Menschlichkeit geläutert worden ist. EL.49

Von daher stammt sicherlich auch Ns Geringschätzung für den der „korinthischen Überbildung“ zugehörigen Sokrates, 469-399 v. C., den N über alle Arten vernünftiger Argumentation hinweg in eifersüchtiger Feindseligkeit geradezu hasste: Dafür dass er dem totalitären Aristokratismus abhold war.


Danach geht es über gut 5 Seiten hinweg um Biblisches und irgendwie - denn es kommt immer wieder hoch! - muss N erhebliche Probleme mit seiner Orientierung im täglichen Lebensallerlei und mit dem Umgang des Nötigsten gehabt haben: Damit er nichts vergaß - denn er hatte in den seltensten Fällen „alles beisammen“ - selbst so benötigte Dinge wie „Kamm“ und „Brillen“ standen ihm alle naslang nicht zur Verfügung und waren weg - für derlei hielt er es für nötig, sich selbst solche Kleinigkeiten notieren zu müssen: „Mich erkundigen, wo Onkel Theobald wohnt.“ BAW2.252 Das steht einfach so zwischen Anderem. Wohl in dem Verdacht, den Onkel vielleicht während der bevorstehenden Sommerferienreise besuchen zu können? Oder weil, wie im kommenden Jahr, jemand ihn nach so etwas fragen könnte?


In seinen in diesem Sommer gemachten Notizen folgten unter anderem stark von Emerson‘schen Vorgaben beeinflusste Auslassungen über „die Quellen des Naturgenusses“. In dem nachfolgenden Abschnitt „Über Naturgenuss“ hat er sogar, ohne dies kenntlich zu machen, seitenlang Textstücke aus dem achten Hauptstück der „Führung des Lebens“ betitelt „Schönheit“ übernommen. Ebenso in den wiederum darauf folgenden Betrachtungen zur „Naturphysiognomie“ BAW2.259ff - Alles von Emerson, aber keine eigenen Anschauungen! Es macht den Eindruck, als hätte N bis in Kleinigkeiten hinein durch Emerson gelebt und die Welt durch dessen Augen sehen wollen.


In den Hundstagsferien fuhr N nicht nach Sangerhausen sondern nach Plauen, dem Wohnort von recht wohlhabenden Verwandten väterlicherseits, ca. 100 km südlich von Naumburg. Von dort schrieb er am 22. Juli 1863 an Mutter und Schwester in Naumburg:

Liebe Mamma. Denkst Du, dass ich Dich mit einer langweiligen Reisebeschreibung heimsuchen werde? [Aber eine Reisebeschreibung ist immer nur so langweilig, wie sie abgefasst wird!] Nein. Ich verspare mir alles auf mündliches Erzählen. Bis jetzt habe ich alles so erlebt, wie Ihr es Euch denken könnt und habe mich sehr wohl und heiter befunden. Die lieben Tanten tun alles für mich und ich lebe sehr gemächlich, habe oben zwei Stuben zu meiner Verfügung, esse gut, mache viel Besuche usw. ….. Allseitige Grüße und Bedauern, weshalb Du nicht mitgekommen. Onkel Theodor ist sehr krank, schleichendes Nervenfieber wahrscheinlich, hat Fieber, Schmerz in der linken Seite, dass er sich nicht im Bett bewegen kann, die Leber ist krank. Wir sind alle sehr besorgt. Onkel Hermann ist Montag abgereist …… ; Morgen reise ich fort zu Fuß, über Ölsnitz, Triebel, Elster, Asch usw. Geld habe ich nicht mehr als Du mir gegeben. Hilft nichts, wird trotzdem gereist. Die Hand ist noch nicht aufgetan. Ich lebe wirklich sehr fidel ….. Wann ich wieder zurückkomme? Weiß ich gar nicht. Etwa 6, 7 Tage reise ich, dann bleibe ich noch 2 Tage circa in Plauen und komme zurück. Auf glücklich Wiedersehen! Grüß Lisbeth recht schön. Die nun bald verreisen wird nach dem tristen Sangerhausen [wo der Vormund von beiden lebte und N doch „morgens. Mit Muße und Sorgsamkeit“ seine in Emerson einführende „Skizze des Buches für seine Freunde“. BAW221f hatte erarbeiten wollen]. Möchte nicht eben mit. Sind Briefe an mich da? Lasst sie ruhig unerbrochen liegen. Steht per expr. drauf, schickt sie mir nach Plauen. Nun nochmals Adieu! Denkt Ihr viel an mich? Ich sehr oft an Euch. Ihr werdet immer denken können, wo ich gerade bin. (Wenn nur mehr Geld!) Euer Fritz.


Am 4. August 1863 schrieb N aus Naumburg an seine Schwester, die inzwischen zu den Verwandten in Sangerhausen gefahren war:

Liebe Lisbeth! Es ist heut mein letzter Ferientag und für eine Zeit hat es nun wieder geschnappt. Gern möchte ich dir noch Nachricht davon geben, wie ich meine Tage vollbracht [es müsste - etwas schlichter! - doch eigentlich verbracht heißen?], da du leider abhanden gekommen bist und ich dir nicht mündlich meine Abenteuer erzählen kann. Genug, dass ich auf der Straße von Wunsiedel [im Fichtelgebirge] nach Weißenstadt [gut 12 km Luftlinie nach Nordwesten marschierend] mich darüber ärgerte, dass du, wenn ich zurückkomme, verreist seiest. Nun mag es dir recht wohl gehn und mir ist’s ebenso gegangen - arbeiten - nicht gerade gar nichts - erlebt - nicht gerade viel - aber alles in einer netten, glatten Form, mit dem Anstrich von Eleganz und Leichtlebigkeit, aber auch in humoristischem Gegensatz mit einem starken Aufguss von bayerischer Biergemütlichkeit; ich bin ein wenig dicker geworden und habe mich von meiner Anstrengung durch tägliche Mittagsschläfchen wieder hergestellt. Jetzt nun - o jerum - bis zu nächsten Hundstagen lachende Aussicht auf nichts als Arbeit, Mühe, Schweiß.

Mein Leben in Plauen - du kennst es und kannst es dir vorstellen, meinen Brief an Mamma hast du auch gelesen, näheres, wenn es dir gefällt - was wir gegessen, gesprochen, gelesen, besucht, erfahren, spazieren gegangen - kann ich dir mündlich mitteilen. Durchweg sehr niedliche Stimmung, ohne eingreifende Ereignisse, wie Ball oder Konzert, aber doch im Vollgenuss des Privatlebens unter Verwandten. Dann bin ich eine Woche von dort verreist; notizhaft will ich dir alles mitteilen; denke dir alles in novellistischem Stile vorgetragen und du hast manche interessante Szene darunter.

Donnerstag. Wetter unsicher, Abschied, nach Ölsnitz [gut 10 km südsüdöstlich von Plauen], mit einem Handwerksburschen und Buchbinderlehrjungen, dort Schützenfest, Auszug, Diakonus [Gemeindehelfer] Strobels, mit ihm über Schießhaus nach Voigtsberg [gut 1 km gen Osten], zurück, nach Mittag mit ihm nach Triebel [knapp 9 km südlich], dort auf dem Wege Schulrevision von ihm, dem interimistischen Rektor. Bei Pastor Strobels.

Freitag. Früh auf dem Kirchberg [etwa 4 km in östliche Richtung] ….. nach Tische wieder nach Ölsnitz, den Abend auf dem Schießplatze, Volksfest, gemütlich. Dort geschlafen.

Sonnabend. Fort bis Elster [in Richtung Süden, ca. 18 km, nahe der tschechischen Grenze] sehr heiter, auf und ab, in Pförtner Trapp, Waldfelsen mit roten Blumen, Onkel Hugo Lehmann schon fort, nach Asch [ca. 10 km über Elster hinaus], böhmische Passrevision, auf einem Leiterwagen, zu Stößens, abends nach Neuhausen, bayerischen Grenzort [ganz in der Nähe), dort mit dem Direktor getrunken bis 12. Dann in Asch geschlafen.

Sonntag. Turnerfahnenweihe, Volksfest, mit ausgezogen, Reden von Bürgermeister, von drei Damen, die auf den Hund kamen. Dann wieder nach Neuhausen, dort bis 1 Uhr Nacht. Mit bayerischen, böhmischen Grenzbeamten zusammen.

Montag. Um 9 Uhr fort nach Franzensbad [ca. 18 km nach Südosten], wo ich etwa ½2 eintreffe, hoher Luxus, Modejournale von Menschen, dort Konzert gehört, bis 5 mich unter den Puppen bewegt, unter Larven und Polinnen (kohlschwarz) die einzig fühlende Brust [meinte er, weil ihn wieder einmal seine Einzigartigkeitsgefühle überkamen! Ausgedrückt in der schon mit Guido Meyer gepflegten „Formel“]. Nach Eger [wo der Generalissimus „Herzog von Friedland“, einer der großen Heerführer des dreißigjährigen Krieges, Albrecht von Wallenstein, 1634 ermordet wurde], altes, berühmtes Schloss angesehn, alles katholisch, Heiligenbilder ganz bunt, dann um 8 noch fort durch Waldungen [ein winziger, nicht zu ermittelnder Flecken, von Eger aus in westlicher Richtung], mit einem Bierbrauer und Wirtschaftsbesitzer 3 Stunden noch gegangen, es regnete etwas. Über die bayerische Grenze. Dorfkneipe, zwischen Fuhrmann und Hausknecht auf der Streu. Schnarcht gewaltig, stinkt nach Pferd.

Früh Dienstag um 5 fort durch Wald nach Wunsiedel [von Eger aus waren das rund 35 km] 6 Stunden, durch und durch nass, im Kronprinzen umgezogen und table d’hôte gegessen, fin, auf die Luxburg, in Begleitung eines jungen Doktor, ein Berg in granitnen Trümmern, Felsenlabyrinth, mit langem Moose, Fichten durchwachsen, Durchbrüche, Schlünde, Brücken, Leitern. Zurück über Wunsiedel [und ab da in nordöstlicher Richtung, ca. 14 km] nach Weißenstadt, links Schneeberg und Rudolphstein, Abends um 9 Uhr dort im Löwen gut gespeist (Suppe Forellen Kartoffeln Bier), sehr gut geschlafen (Sprungfedermatratzen, alles sehr elegant) gut gefrühstückt, recht gut gezahlt, fort nach den Waldstein [von Weißenstadt aus ein etwa 4 km entfernter, 877 Meter hoher Berg in nordnordwestlicher Richtung.]

Am Mittwoch, ein Gewitter mit starkem Regen, zwei Stunden darin aufwärts gestiegen, endlich Treppen und Leitern, Glashäuschen, umgezogen, wundervolle Weitsicht, weiße Nebelmassen aus den Schluchten nach dem Gewitter, herab nach Schwarzenbach [ungefähr 12 km] durch und durch nass auf Eisenbahn gesetzt, nach Plauen [rund 50 km] gefahren. Dort sehr erwartet. Sic! [tatsächlich!] Was dort noch erlebt, nicht viel. Der Onkel Theodor sehr gefährlich krank. Am Sonntag bin ich wieder zurück gereist [nach Naumburg] und habe sehr gemütlich und nett mit der Mamma noch das Kirschfest verlebt. Nun ist’s aus. Grüße den Onkel und die Tante recht schön von mir, bleibe mir recht gesund, amüsier Dich recht (mit deinen Leutnants), grüße auch in Gorenzen alles recht von mir und denke mitunter einmal an mich, wenn du zum Schreiben keine Zeit hast. Lebe recht wohl! Gutes Tierchen! Fritzchen! Das Alumnuschen. (371)

Diese schnuckeligen Verkleinerungsformen galten unter den Geschwistern als Ausdruck einander besonders zuneigender Herzigkeit. N hatte sich da seiner Schwester gegenüber einen zwar ausführlich gemeinten, letztlich aber doch außerordentlich bruchstückhaft nichtssagenden, gleichsam „aphoristisch“ geratenen Brief abgerungen, einen Nachweis gewissermaßen, eine gerade mal nachzuvollziehende Spur nur, wo er gewesen war, - mehr aber auch nicht: Keine zusammenfassende Schilderung. In seiner Darstellungsform entsprach der Brief seiner Art der Umwelt-Wahrnehmung und erinnert an die ähnlich verknappten Notizen zu Ns Nürnberger Reise zwei Jahre zuvor. Der Brief demonstriert geradezu, wie schlaglichtartig und unzusammenhängend Ns Wahrnehmung war. Er war gar nicht in der Lage, etwas in seinem zeitlichen Ablauf lebendig nachvollziehbar darzustellen und musste sich für das, was direkt ins Auge stach, mit quasi aphoristischen Schlagwortreihungen begnügen. Da wurde von ihm etwas ganz anderes verlangt als für sein im Vergleich zu „den Anderen“ ja so besonderes Innenleben große Worte zu finden. Vielleicht aber lag die Sterilität auch daran, dass er bei solchen Beschreibungen durchweg keine „würzenden“, seinen persönlichen „Stil“ kenntlich machenden Wertungen nach ureigenstem superlativem Empfinden anbringen konnte.

N, der sonst nicht müde wurde, bedenkenlos von sich und seinen unmittelbarsten Belangen, Interessen, Empfindungen, Ansichten und Wertungen zu künden, gab hier mit Ach und Krach kärglichste Stichworte über nackteste Fakten zum Besten: Ohne die geringsten persönlichen Regungen und Bezüge! Man erlebt beim Lesen auf beklemmende Weise, wie Ns sprachliche Möglichkeiten bei derlei geradezu versiegen! - Als ginge ihn das alles nicht viel an, dabei hatte er zuvor von „novellistischem Stil“ getönt, - nur um zu beweisen, dass er nicht wusste, was darunter zu verstehen war? Was er bot, war fragmentarisch vorüberziehen zu lassen, was nur wie durch einen dem offenen Blick das Meiste verdeckenden schmalen „Schlitz“ in einer Wand zu erkennen war.

Die Ursache für diese umfassende Teil-Blindheit lag kaum an Ns mangelnder Bereitschaft oder gar an seiner Unfähigkeit, sich des Genaueren auszudrücken. Wenn es darum ging, zu beschreiben was sich in ihm regte, woran ihm gelegen war, war N ein Meister, solches zu formulieren und dafür die passenden, ja passendsten und doch verschleiernden Worte zu finden. Die Kargheit seiner Berichterstattung lag hier daran, dass bei dem, was von außen her auf ihn zukam, er keinen Zugang zu den diesen Vorgang begleitenden eigenen, eigentlich doch dazu gehörenden Emotionen, hatte. Die von außen auf ihn zugekommenen Eindrücke lösten nichts oder nur sehr schwer etwas in ihm aus, so scheint es - entsprechend seiner früh getroffenen Feststellung - aus dem Jahr 1858 bereits, dem Entdeckungsjahr seines „Herrscheramtes“! - dass das Leben nur „ein Spiegel“ sei, - für das Wichtigste! - nämlich „in ihm sich zu erkennen“. BAW1.32

Sich selbst! Also das, was für ihn allgegenwärtig unmittelbar vorhanden war! - Das war eine Erkenntnis, die jemand nur aufgrund und wegen einer entsprechenden Veranlagung gewinnen und haben konnte, - sonst wäre so jemand nicht geneigt, derlei als Lebensmaxime anzunehmen und vor sich herzutragen: Die Empfindungen für - oder auch gegen! - diese Welt mussten dazu von vornherein gegeben sein und passen!

Zu dem, was von außen auf N zukam fehlte ihm - aus Prinzip gewissermaßen! - grundsätzlich der emotionale Zugang, es sei denn, es traf ihn ins Herz; - genau seinen Nerv, - so, wie Emersons Tiraden es fertig gebracht hatten. Bei Derartigem - wo er, wie in einem Spiegel, sich wiedererkannte! - war es um ihn geschehen, da setzte sein sonst überreiztes Kritikvermögen aus, da verlor er die Fassung und verschmolz damit zu eins. So schwankte er hin und her zwischen den Extremen, Ablehnung/Ausgrenzung einerseits und zum andern der Identifikation! Wenn letztere nicht gegeben war, erfasste ihn leicht „lange Weile“ 2.696, - die nicht zu verwechseln ist mit Gelassenheit! Das von außen Kommende ging ihn - in seinem Eigentlichen! - nichts an! Zu voller „Größe“ lief er erst auf, wenn er die in ihm selbst ruhende, verankerte, gegebene und entdeckte Gültigkeit für sich selbst erlebte! Das war dann immer das, was er auf seine unheimlich extreme Weise - aber dennoch vom Prinzip her wie alle anderen Menschen auch! - als einzig mögliche Wahrheit anzuerkennen liebte.


Insofern war N von seiner Veranlagung her ein Expressionist und schuf dementsprechend so etwas wie einen „philosophischen“ Expressionismus, sofern eine so „verrückte“ Begriffskombination überhaupt etwas Sinnvolles bezeichnen kann: Er war stets geneigt, sein eigenes Ich, sein ganz persönliches Werten, als „Gesetz für die Menschheit“ und damit sich als die ganze Welt aus sich herauszustülpen und für allgemeingültig erklärt sehen zu wollen, und dies, obgleich - oder gerade weil? - er, wie der Brief an die Schwester belegt, über keinen Zugang zu seinen auf die Welt bezogenen Emotionen verfügte. Wie anlässlich der Nürnberg-Reise verrät kein Wort, was ihn tief - in seiner Tiefe, darauf kam es an! - beeindruckte, was ihn abstieß, was ihn betont gleichgültig gelassen hat. Die Tatsache, dass er derlei nicht benennen konnte, lässt - oberflächlich? - darauf schließen, dass es nichts gab, was in dieser Hinsicht zu beschreiben, auszuführen, anzudeuten, eben zu benennen gewesen wäre. Die autistische Ader in N machte sich auf diese „enthaltsame“ Art und Weise bemerkbar. Es sind Nuancen, Spuren und Schimmer, an denen diese extreme Veranlagung Ns Bestätigung fand und als Fehlstelle leicht zu übersehen war. N hatte anlässlich der angesprochenen Fakten nichts weiter für wichtig genug gefunden, es mitzuteilen; - weil da - seelisch! - nichts war? Er selbst sollte später - nach vielen Jahren! - mit dem normalerweise aktiv gemeinten Begriff des „Erreichens“ und „Erreicht-Habens“, wie ihn N weit über 200 Mal, besonders oft im Nachlass der Achtzigerjahre verwendete, - aber nur wenige, ganz seltene Male in der passiven, erleidenden Form des Gebrauchs dieses Wortes als „Erreicht-Werden“ schilderte, - was alles seinen Kern, sein Eigentliches nicht getroffen hat: Zum ersten Mal klang diese passive Verwendung 1879 an, ganz vorsichtig vorerst, im 328. von insgesamt 350 Aphorismen des letzten Teils von „Menschliches Allzumenschliches“, unter dem Titel „Der Wanderer und Sein Schatten“, einem Zwiegespräch mit sich selbst, letzten Endes, wo es unter dem Titel „Tiefe und Langweiligkeit“ - eben diesen beiden Polen von Ns Empfinden zwischen Tiefe, Identifikation, Einssein oder der Langweiligkeit des Außerhalb-seiner-selbst heißt:

Bei tiefen Menschen [und damit meinte N selbstverständlich - zumindest auch! - sich selbst!] wie bei tiefen Brunnen dauert es lange bis Etwas, das in sie fällt, ihren Grund erreicht. Die Zuschauer, welche gewöhnlich nicht lange genug warten, halten solche Menschen leicht für unbeweglich und hart - oder auch für langweilig.

Der nächste Gebrauch des „Erreichens in Märtyrerform“ geschah in Ns letztem Jahr, 1888, in diesem Sinn und Zusammenhang gleichlautend in seinem Selbstbekenntnis oder eher seiner Selbstbelobhudelei „Ecce homo“ und in einem Brief. Die Stellen lauten:

- Trotzdem bleibt wahr, dass ich fast jeden Brief, der mich seit Jahren erreicht, als einen Zynismus empfinde: es liegt mehr Zynismus im Wohlwollen gegen mich als in irgendwelchem Hass… Ich sage es jedem meiner Freunde ins Gesicht, dass er es nie der Mühe für wert hielt, irgendeine meiner Schriften zu studieren; ich errate [aus purer Selbstüberschätzung!] aus den kleinsten Zeichen, dass sie nicht einmal wissen, was drin steht. Was gar meinen Zarathustra anbetrifft, wer von meinen Freunden hätte mehr darin gesehn als eine unerlaubte, zum Glück vollkommen gleichgültige Anmaßung? … Zehn Jahre: und niemand in Deutschland hat sich eine Gewissensschuld daraus gemacht, meinen Namen gegen das absurde Stillschweigen zu verteidigen, unter dem er vergraben lag: ein Ausländer, ein Däne war es, der zuerst dazu genug Feinheit des Instinkts und Mut hatte, der sich über meine angeblichen Freunde empörte… 6.363

Dazu Ns ziemlich gleichzeitigen, aber auch schmeicheln wollende Zeilen an den schwedischen Schriftsteller und Dramatiker August Strindberg , 1849-1912, über diesen dänischen „Freund“, Georg Brandes, Literaturkritiker, Philosoph und Schriftsteller, 1842-1927:

Jetzt aber fünf Worte unter uns [was bei N eine beliebte Form des Einweihens und der Kumpelei, der Zugehörigkeit zu den „Ersten der Zeit“ darstellte!], sehr unter uns! Als gestern mich Ihr Brief erreichte - der erste Brief in meinem Leben, der mich erreicht hat [in den Tiefen seines Wesens!] - war ich gerade mit der letzten Manuskript-Revision von „Ecce homo“ fertig geworden. Da es in meinem Leben keinen Zufall mehr gibt, so sind Sie folglich auch kein Zufall ….. 8.12.88

Denn „es“ war so gut wie vollbracht: Alles geriet in die Wohlgeratenheit dessen, wozu N meinte, bestimmt zu sein: Zu seinem „Herrscheramt“, das von keinen Zufällen mehr betroffen sein durfte, - so wenig, wie eben ein Gott von Zufällen betroffen werden darf!


Am 11. August 1863, jedenfalls unter dieser Datumsangabe, dichtete N in Pforta mit „1“ bis „5“ betitelte „Lieder“, - mit regelmäßig 6 Strophen zu je 4 Zeilen, weltschmerzlich bis zum Herzerweichen aber völlig uninspiriert und für alles Poetische eher unbegabt. Danach entstand:

Was tönen meines Geistes Glocken? [was können solche gewesen sein?] Was bin ich doch so tief erschrocken Was lausch‘ ich ängstlich ihrem Schwunge [geht das überhaupt? Das Schwingen der Glocken dient doch nur dem vernehmbaren harten Anschlag des Klöppels gegen den Schlagring des Glockenkörpers!] Was kündet ihre Zauberzunge [was bis auf die Reimfähigkeit zum Glockenschwunge keinen erkennbaren Sinn ergibt!]? Wer wars der ihre Stränge [die Seile, mit denen die Glocken in Bewegung gesetzt wurden!] rührte Der meines Herzens Flamme schürte BAW2.257 [was dazumal wohl auch nur des Reimes wegen geschah!]

Eine poetische Meisterleistung ergaben diese zusammengestoppelten Worte nicht. Danach folgte noch - unter dem Datum des 17. August 1863 inzwischen - ein vorerst letzter poetischer Erguss:

Wie das Leben auf und nieder schwankt Und sich bald an Rosen, bald an Dornen rankt [was einen schiefen Doppelmoppel ergeben hat], Wie es traumhaft schnell vorüberirrt [mit einem Widerspruch in der Wahl des Verbs!], Hier beklatscht, dort ausgepfiffen wird - S’ist ein Jammer, trostlos bis zum Grund‘, Sei’s nun ein Traum, sei’s Wahrheit. Hols der Hund! Dein Ordnungsgenosse [in den Pfortaer Hierarchien!] von ehedem zur Erinnerung für alle Zeit. Fritz N BAW2.268


Am 11. September 1863 schrieb N an seine Schwester nach Naumburg:

Meine Grüße voran! Siehe, ich bekam ihn am Schopfe, nämlich deinen [nicht erhalten gebliebenen] Brief, las ihn und lachte und als ich ihn ausgelesen, lachte ich noch einmal. Also förmlich entsetzt bist du gewesen, weil ich [in einem nicht erhalten gebliebenen Brief der letzten Zeit] nicht wie gewöhnlich über schmutzige Strümpfe, allerlei Wünsche meines Magens und meiner Kasse und ähnliche saubere Gegenstände [das war der Schwester aufgefallen!], die dir meine Briefe immer so teuer machen, geschrieben habe, sondern weil ich in einem Selektatöchterschulenstil [eine Privatschule für „höhere Töchter“], in sentimentalen, haarsträubenden Phrasen, den Wunsch aussprach, mir einige Noten zu besorgen: gewiss ein bescheidener Wunsch, der mir aber doch nicht Erfüllung gegangen.

Es tut mir leid, dir Schrecken gemacht zu haben, und ich will es gewiss nicht wieder tun, besonders wenn ich befürchten muss, dass du aus Schrecken über das Ungeheuerliche des Briefes seine Pointe ganz vergisst.

Wir haben gestern schlechtes Fleisch zu Mittag gehabt und werden morgen Klöse essen. Der eine meiner Stiefeln hat eine Oeffnung, welche man ein Loch zu nennen pflegt. Heute fand man im Primanergarten einen Vogel, der schon der Verwesung nahe war. Es war ein Spatz. Er duftete. Wenn es regnet, so wird es nass und wir haben keinen Spaziergang. Trotzdem hatten wir heute Spaziergang.

Beiläufig bin ich ein „ehrwürdiger Primaner, du eine ehrwürdige Schwester und Domrich ein Buchhändler. Und indem wir alle drei dies verbleiben, empfehle ich mich.

N.B. Ich hatte eben „Wäsche“, und bin nicht in der Stimmung, dir so gefühlvoll zu antworten, mein „Herzenslieschen, Zuckersüßchen, Mietzemieschen“, N.B. alles umschlossen von „Gänsefüßchen“. Frédéric. (377)

Ns Brief, der tatsächlich - seltenerweise! - nichts von dem enthielt, was hier konzentriert und eben auch sonst auffällig zur Sprache kam, erwähnte allerdings in der Bitte, dass die Schwester ihm Notenpapier besorgen sollte, es sei für Anna Redtel gedacht. Ist Elisabeth ihretwegen, aus Eifersucht also, nicht darauf eingegangen? Es wäre eine für sie typische Reaktion die in späteren Jahren finstere Folgen zeitigen sollte. Aber irgendwie ist N zu Notenpapier gekommen, oder er hatte seine Reste aufgebraucht und musste die Noten aus diesem Grunde fein säuberlich abschreiben lassen, denn: Im September schenkte N der Schwester eines Pfortaer Schulkameraden aus dem auf der anderen Seite aber nur knapp halb so weit wie Naumburg von Pforta entfernt gelegenen Bad Kösen „einen Band mit eigenen Kompositionen, den er von einem Kopisten in sauberer Reinschrift hat schreiben lassen und der schön gebunden, in schwarzem Karton mit Goldvignette auf dem Deckel, von Ns Hand nur Titel und Widmung enthält“ J1.125 und in Ns musikalischem Nachlass erhalten blieb: „Rhapsodische Dichtungen an Frl. Anna Redtel, im September des Jahres 1863“. N hatte gelegentlich mit ihr Klavier gespielt und auf einem Schulfest wohl auch mit ihr getanzt, was als Anzeichen für eine geschlechtsspezifisch für N vorteilhafte, weil normale „schwärmerische Verliebtheit“ gedeutet wurde, aber bei N kaum Spuren hinterließ. Anna Redtel bedankte sich für das Geschenk mit den auf eine Visitenkarte geschriebenen Worten:

Unmöglich kann ich verreisen ohne Ihnen vorher meinen herzlichsten Dank gesagt zu haben für das mir von Ihnen so freundlich zugedachte Notenheft. Da mir aber der mündliche Weg versagt ist, so sollen Ihnen diese Zeilen schriftlich versichern, wie herzlich ich mich darüber gefreut habe und dass ich noch oft und gern mich der schönen Stunden mit Ihnen zusammen verlebt erinnern werde. Ein herzliches Lebewohl ruft Ihnen Anna Redtel.

Nüchtern betrachtet war die aufwendige Verpackung dieser Noten mit immerhin 7 Kompositionen wohl eine der N häufiger im Leben unterlaufenden Unangemessenheiten in Hinsicht auf Beziehungen zum weiblichen Geschlecht, wo es gelegentlich sogar zu so unvorhersehbaren wie auch unangemessenen und ebenso erfolglosen Heiratsanträgen kommen sollte. Ende August hieß es der Mutter gegenüber anlässlich des Pfortaer Bergtages, einem Schulfest „bei dem angenehmsten Wetter der Welt. Schade dass ihr nicht da ward, es war sehr hübsch und amüsant. Ich habe leidlich viel getanzt. Frau Geheimrätin Redtel war da alsam [d.h. zusammen mit] ihren Töchtern. Ich werde sie öfter besuchen, da ich eingeladen bin und es sehr liebenswürdige Menschen sind.“ 29.8.63 Darüber hinaus gibt es nur zwei weitere Erwähnungen ihrer Person.


Die September 1863 erteilten Zeugnisse sahen nicht rosig aus: Durch die Bank gut, mit Zweien bedacht, aber in Französisch abgerutscht stand N auf 4, in Mathematik auf 3, in Hebräisch schon länger auf 3.


Am 25. September 1863 schrieb N aus Pforta an seine Mutter nach Naumburg:

Liebe Mamma. Morgen also werde ich glücklich die letzte Stufe vor dem Abiturientenexamen erstiegen haben, die mir in Pforte noch zu ersteigen war: ich werden nach Oberprima versetzt [was in Relation zu dem, für wie genial man N zu halten bereit war, ein bemerkenswert später Abiturtermin, mit 20 Jahren endlich, war!]. Sende mir doch ja morgen Wäsche, insbesondre Taschentücher und außerdem das notwendige Übel, was mit jeder Versetzung verbunden ist: Geld. Also bitte. Ich denke du wirst nun wieder besser bei Kasse sein. [Das waren für ihn alles Selbstverständlichkeiten! Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass er sich, wie Freund Deussen es tat, je darum gekümmert hätte, woher das Geld kam.] Sonntag wollen wir uns doch jedenfalls in Almrich sehen, ich freue mich recht darauf ….. Nächsten Freitag also komme ich, hoffentlich werde ich noch Platz haben: richtet mir nur das Stübchen recht hübsch ein. Diese Tage jetzt arbeite ich sehr fleißig, es geht nun gewaltsam auf das letzte Jahr zu, man muss sich immer mehr anstrengen. Man lebt jetzt recht viel in der Zukunft und macht sich Pläne für die Universitätszeit: selbst meine Studien beginne ich schon darauf einzurichten …..

Der letzte Geburtstag, den wir so nah zusammen verleben. Das nächste Mal sendet ihr mir meine Geschenke wer weiß wohin. Lisbeth danke ich recht für ihren Brief, der mit verschiedenen Stimmungsansätzen und ebensoviel Absätzen sich recht wunderlich ausnahm. Nun freilich, die Herbstluft und das Manoevre - und um poetisch zu werden - die Uniformen - mag schon ein bisschen viel Leben in - die Beine bringen. Daher die vielen Ansätze und Absätze. Also Sonntag sehn und sprechen wir uns. Morgen ist Umzug [in den räumlichen Bereich der Oberprimaner!], darum fürchterlicher Schmutz. Habe leider keine Zeit. Darum Adieu! Vergesst mich nicht! Fr. (382)


Am 30. September 1863 ging der Musiker-Freund Gustav Krug N „mit der allerdings etwas kühnen Bitte“ an, ihm doch, da er sich nicht fühlt und unter Druck steht, ein Gedicht für das auch an seiner Schule am 18. Oktober zu feiernde 50. „Jubiläum der Schlacht bei Leipzig“, gegen Napoleon, zu verfassen. N steht ganz offenbar in dem Ruf, dass ihm derlei recht leicht von der Hand ging. „Ich werde in meiner Bitte dadurch bestärkt, dass es Dich nur die Mühe weniger Stunden kostet, etwas zu produzieren und es Dir nur Spaß und Vergnügen macht, ein Gedicht zu machen.“ So bat der Freund. N ging darauf ein und schrieb unter dem Titel „Über fünfzig Jahre.“ ein ellenlanges, kompliziertes Gedicht mit 15 8-zeiligen Strophen, auch in einer etwas verdeutlichteren, überarbeiteten Version und mehr aus der Perspektive des Kaisers Napoleon geschrieben als derjenigen der Sieger, die erst in den letzten beiden Strophen zum Zuge kamen. - Die Naumburger Freunde, Wilhelm Pinder eingeschlossen, freuten sich darüber und fanden es im Brief zu Ns Geburtstag „durch und durch eigentümlich und steigert sich besonders gegen den Schluss sehr wirksam. Allerdings kommen einige wenige Stellen vor, die ich bei uns auf dem Katheder nicht vortragen könnte, die sind aber leicht zu ändern. Noch einmal also meinen herzlichen Dank für die Mühe, die Du meinetwegen Dir gemacht hast. Ich beruhige mich aber einigermaßen damit, dass es Dich eigentlich gar keine Mühe kostet bei Deiner Gewandtheit etwas zu produzieren. Lebe wohl und empfange noch einmal meine Glückwünsche für das kommende [Lebens-]Jahr Dein Gustav Krug 15.10.63


Der 19. Geburtstag war der letzte, den N in Pforta zu feiern hatte. Dazu schrieb ihm der Freund Wilhelm Pinder aus Naumburg am 13. Oktober 1863 schon:

Mein lieber Freund! Wenn ich mich nicht irre, so ist an einem der nächsten Tage Dein „Wiegenfest“. Wie alt Du wirst, habe ich Dir schon in Naumburg gesagt, ich brauche es Dir also nicht zu wiederholen, noch nicht aber habe ich Dir gesagt, dass ich das Füllhorn der Fortuna in dem neuen Jahre über Dich ausgegossen wünsche ….. in dem neuen Jahr magst Du ….. möglichst auf Rosen gebettet liegen, wenn auch nicht am Anfang desselben ….. aber doch am Ende, nachdem Du Dein Examen cum laude [mit Lob, - N gehörte zu jenen Menschen, die aus eigentlich unerfindlichen Gründen - aber es gibt solche Fälle! - von allen Seiten - gewissermaßen grundsätzlich! - überschätzt wurden und werden; tatsächlich stand dagegen sein Examen insgesamt - allein wegen nicht ausreichender Leistungen in Mathematik! - auf der Kippe! Und unmittelbar anschließend nennt Freund Wilhelm die nächste überspannte Erwartung] und mit Weltumsturzplänen schwanger gehend die Universität beziehst [wobei zu bedenken ist, dass zum Entstehen einer solchen Vermutung und oder „Erwartung“ seitens N eine typische, bereits seit längere Zeit gepflegte Vielzahl von umwertungsbemühten Bemerkungen in eine solche Richtung gehört haben müssen!]. Nächstes Jahr ….. wirst Du es [das kommende „Wiegenfest“!] begehen in Halle Dich rumtreibend oder vielleicht auch in Paris oder sonst wo, da wirst Du es begehen mit wonnigem Wohlbehagen zuerst von dem Zucker der akademischen Freiheit leckend ….. Wie geht es Dir ? Was tust Du, was lässt Du ? u.s.w. Dein WP.

Da werden in kleinen aufquiekenden Bruchstücken Verhältnisse offenbart, die im normalen Umgang miteinander ihre sicherlich harmlos wirkende Bedeutung hatten. Da ging es um die Selbstverständlichkeit, dass er sein Examen ganz hervorragend „mit Lob“ bestehen wird und ebenso selbstverständlich findet ein gewisses Maß an Weltumsturzplänen als ein Bestandteil von Ns Selbstverständnis Erwähnung, weil solches - für Jedermann? - einen erheblichen Teil der Erhabenheit und Bedeutsamkeit der Unterhaltungen mit ihm ausmachte? Vielleicht mag das nicht viel zu bedeuten haben, aber bei einem, der späterhin von und für derlei vornehmlich lebte, ließe sich meinen, dass die frühen Erwähnungen auch auf ein ebenso frühes, darauf ausgerichtetes Rollentraining verweist und damit auch auf eine gewisse Gewöhnung und Routine im „Rollenverständnis“ - auch seitens „der Anderen“ - hindeutete.


An Ns Geburtstag selbst, am 15. Oktober 1863, schrieb ihm auch Tante Rosalie aus Naumburg nach Pforta:

Mein lieber guter Fritz. Zu Deinem lieben Geburtstag muss doch auch ich die Feder ergreifen um Dir zu demselben meine besten Wünsche zu bringen! Ach, ich möchte Dir recht viel Kraft vom lieben Gott erbitten - Kraft des Geistes, Kraft des Willens, Kraft des Körpers! Denn ein schweres Jahr hast Du vor Dir - wenigstens meiner Ansicht nach - es ist das letzte Deiner Schulzeit; wenn Du Deinen Geburtstag wieder feierst ist es der erste Tag, der liebe Gott gebe es, der Universitätszeit! ….. wie oft wird Dein Wille sich gehorsam beugen müssen in menschliche und göttliche Ordnung (nun das muss allerdings das ganze Leben hindurch sein ….. ) und die Macht der Sinnlichkeit sollst Du durch die Macht des Geistes und ein frommes Gott ergebenes Herz überwinden! Mein lieber Fritz oh! dazu erbitte ich Dir Gottes Segen! Möge das Gefühl Seiner Nähe in Dir lebendig sein und, wenn Dir Arbeit, Beugen und Überwinden gelingt, mögest Du dann gewiss sagen, dass Dein treuer Gott und Herr Dir beigestanden, Dir geholfen hat! Wie oft hat mich dies Gefühl schon beseligt, natürlich je älter ich werde immer lebendiger und eben weil ich dies an mir selbst erfahren habe, so wünsche ich es auch Dir von ganzem Herzen denn ich habe Dich ja so lieb!

Das unreflektierte „Mach-es-wie-ich“, das seine Umgebung erfüllte, hatte längst so sehr und zweifelsfrei als gültige Art der Weltbetrachtung auf ihn abgefärbt, dass er keine Vorstellung mehr davon haben konnte, wie fraglich ein solches Verhalten war; auch wenn er es längst zehnmal mehr mit Emerson anstatt mit Tante Rosalies „liebem Gotte“ hielt. Da wurden - wieder von vielen Seiten her - viele Anforderungen gestellt und viele Erwartungen waren zu erfüllen. Ns weiche, vielfach gepriesene rücksichtsvolle Art war geneigt darauf einzugehen und zu erfüllen, was man in ihn setzte. Sein Aufbegehren fand auf einer anderen Ebene, auf der Bühne seiner vorgenommenen und seinem Willen scheinbar gehorchenden „geistigen“ Selbstverwirklichung und auch Selbstverherrlichung statt, nicht plötzlich, aber so nach und nach, - den unausweichlichen Bahnen seines Wesens folgend und auf den schon betretenen Spuren Emersons würde er seine Ziele auf seine Weise erreichen und zeigen, - was für ein ungeheures - oder auch maßloses! - Parallelwelt-Potential in ihm steckte.


Auch Gustav Krug meldete sich am 15. Oktober 1863 aus Naumburg. Mit den Worten:

Lieber Fritz! Vor Allem sage ich Dir die herzlichsten Glückwünsche zu Deinem Geburtstage. Es ist das letzte Mal, dass Du ihn auf der Schule feierst, das letzte Mal, dass Du ihn in Umgebungen feierst, die Dir einen Zwang auflegen und Deine Freiheit beschränken [was einmal mehr darauf verweist, wie viel „Vorarbeit“ in Sachen Dämonisierung der Zwangsgefühle, von denen es sich zu befreien galt, schon geleistet war!]. Und doch wenn Du zurückblickst auf die lange Reihe von Geburtstagen, die hinter Dir liegen, wirst Du Dir sagen können, dass sie trotz der Beschränkung der Freiheit, dennoch immer als angenehme Erinnerungen fortleben, weil Du an ihnen manchen Vorsatz gefasst, manchen Plan entworfen hast, der später entweder wirklich ausgeführt oder als töricht bei Seite gelegt ist. Und welches Interesse gewährt gerade dieser Rückblick auf die Bestrebungen der frühen Jahre! Da liegt der eigene Entwicklungsgang so klar vor Augen ….. dann wird uns aus allen diesen Betrachtungen eine Stimme entgegen tönen, die uns gemahnt, mit Vorsicht und Überlegung Pläne zu fassen, nicht sich an Aufgaben zu wagen, deren Erreichen entweder an und für sich unmöglich ist oder über unsre Kräfte geht. -

Was - wieder einmal! - eine Mahnung war, die vor Ns Ohren so gut wie ungehört verhallte!

Doch in welch unnützes Schwatzen bin ich hineingeraten! Ich habe ganz vergessen, dass ich an Dich das schreibe, der ja selbst das alles sich und viel besser sagt, als ich es kann [eben nicht, wie sich zeigen sollte!]. Doch eins hätte ich beinahe vergessen, Dir meinen großen Dank für das Gedicht [für das „Jubiläum der Schlacht bei Leipzig“] auszusprechen, das Du mir geschickt hast! Allerdings kann ich es jetzt nicht gebrauchen, da bei uns sehr wahrscheinlich gar keine Feier stattfinden wird. Ich werde mir es aber zum Bücherfest aufsparen, um es dann zu deklamieren ….. Leb wohl und empfange noch einmal meine Glückwünsche für das kommende Jahr Dein Gustav Krug.


Ns letzter in Pforta zu feiernder Geburtstag zog also vorüber. Die Vorarbeiten zum Abitur im kommenden Jahr setzten Zeichen und zwangen zu vollem Einsatz. Nebenbei aber beschäftigte N sich noch einmal mit den Mordgemetzeln der Ermanarich-Sage, in ihren verschiedenen Versionen. Dazu hatte er „viel in alten hohen Schweinslederbänden und Chroniken herumgewühlt. Es ist ein Werkchen von sechzig [handgeschriebenen] Seiten geworden. - “ 10.11.63


Am 1. Dezember schrieb der Naumburger Musiker-Freund Gustav Krug aus Naumburg an N in Pforta:

Lieber Fritz! Es ist ein eigentümliches Zusammentreffen, dass jeder von meinen Briefen an Dich mit einer Entschuldigung beginnt ….. dass Du von Pforta am letzten Sonntag so vergeblich hereinliefst, ohne uns zu finden, daran ist meine Lässigkeit im Briefschreiben schuld. Allerdings hattest Du Dich in Deinem Brief über unser Zusammentreffen in Almrich unbestimmt ausgedrückt ….. Hoffentlich können wir uns in der nächsten Zeit einmal sehen an einem Sonntag. Dann lass uns nur bestimmte Nachricht zukommen.

Mit Betrübnis habe ich gehört, dass Du bloß einen Tag in den Weihnachtsferien hier verweilen willst. Ich hatte mir schon ausgemalt, wie schön wir wieder zusammen ….. musizieren und in der Erinnerung der früheren Weihnachtsferien schwelgen würden, zumal es ja das letzte Weihnachten ist, das wir auf der Schule erleben. Kannst Du Dich noch jener schönen Wintertage erinnern, wo wir zusammen den Schumann’schen Manfred kennen lernten und uns in seinen Schönheiten vertieften? Wie herrlich ist doch noch die Erinnerung an jene Zeit! Wenn ich jene Bruchstücke, die wir uns damals aus dem Manfred abschrieben, durchspiele, dann fühle ich mich so recht zurückversetzt in die Vergangenheit, dann nähern sich wieder [in Anlehnung an eine Wendung in Goethes „Faust“!] jene schwankenden Gestalten die Gefühle, die man damals hatte und die unbestimmten Empfindungen, denen man sich hingab. Und wie bald werden wir auch auf unsern jetzigen Zustand so zurücksehen können …..

Bis jetzt ist die Saison im Allgemeinen still gewesen, von Konzerten haben wir nicht viel aufzuweisen, ausgenommen ein Kirchenkonzert des Gesangvereins ….. Schulze wird auch in diesem Winter 3 Soireen geben, außerdem werden auch noch einige Gesangvereinskonzerte stattfinden. Ich habe jetzt mehr interessante Sachen gespielt, so die beiden Romanzen von Beethoven für Violine, die beiden großen Sonaten von Raff [Joseph Joachim Raff, 1822-1882, ein deutscher Komponist und Musikpädagoge] und augenblicklich bin ich mit dem famosen Mendelsohn’schen Violinkonzert [es ist unklar, welches er meinte. In d-moll aus dem Jahr 1822 oder in e-moll aus dem Jahr 1844?] beschäftigt. Selbst etwas zu komponieren, dazu bin ich gar nicht aufgelegt …..

Gedanken [gemeint waren musikalische Einfälle] trage ich zwar genug mit mir herum, mir graut es aber vor der weiteren Ausführung. Hoffentlich wird es in den nächsten Jahren anders werden und ich hoffe da endlich einmal etwas Vernünftiges zu Stande zu bringen. Bis jetzt war ja alles so verworren geschrieben, mit Mühe herausgepresst und zusammengeleimt, dass es einem beim Anhören Angst und Bang wird. Man muss ja noch so viel vorher Theorie studieren, ehe man ordentlich praktizieren kann, dass jetzt bei den ungenügenden Kenntnissen nur höchst mangelhaftes zu Stande kommen kann. Doch genug nun! Müdigkeit und Kälte treiben mich ins Bett. Schreibe recht bald und gib uns Nachricht. Dein treuer Freund Gustav.

Von derart offen ausgesprochenen Skrupeln wurde N nicht geplagt. Er hatte sein „Herrscheramt“ - und Emerson, der ihm das Rückgrat stärkte und ihn weit hinaushob über irgendwelche Bedenklichkeiten in Bezug auf die Beschränkungen der eigenen Leistungsfähigkeit.


Am 6. Dezember 1863 schrieb N an die Mutter und Schwester in Gorenzen:

Liebe Mamma und Lisbeth. Nun so habe ich denn euren Brief und sehe, dass es euch wohl geht, wie mir, nur dass wir uns beide nach Veränderung sehnen, ihr nach Naumburg, ich zu euch. Eure Bestimmungen über Weihnachten sind mir alle recht, genießen wir sie fröhlich und mit dem Gefühl, dass es die letzten sein können für einige Zeit, die wir gemeinsam verbringen [einschließlich einer geplanten „Harzreise im Winter“]. Das nächste Mal einsam in einer etwas fernen Universität oder - nun auch im Felddienst in einer Wintercampagne für Schleswig Holstein.

Da fällt mir gleich das Wichtigste ein, was ich zu schreiben habe, dass ich nämlich bis Weihnachten noch meine sämtlichen Militärzeugnisse brauche, die Bewilligung des Vormundes usw. Teile dies dem Onkel Bernhard mit und bitte ihn, mir alles baldigst zuzuschicken. Loskommen werde ich [vom Militärdienst] schwerlich, mag es auch kaum - ….. Es geht mir ganz gut; ich besuche die liebe Tante Rosalie häufig und sie ist sehr gütig gegen mich. Mitunter gehe ich auch zu Geheimrat Backs in Kösen. Mit meiner Reise mag es kommen wie es will; zwar sollte der eine Tag hübsch in Naumburg werden und ich wollte zum Abend mir meine Freunde einladen ….. Nun lebt wohl, Mamma und Lisbeth, recht wohl! Fritz (400)


Vom 12. bis zum 16. Dezember 1863 befand sich N laut Pfortaer Krankenbuch wieder einmal auf der „Krankelei“, diesmal wegen „Diarrhö“. J1.129

Also schrieb Friedrich Nietzsche:

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