Читать книгу Renaissance 2.0 - Christian Jesch - Страница 10
Kapitel 8
Оглавление"Herein", rief die donnernde, tiefe Stimme. Der Mann war sichtlich genervt. Die letzten anderthalb Stunden hatte der muskulöse Kerl mit der Bundessenatorin Mår-quell telefoniert. Er musste ihr Rede und Antwort stehen, wie es zu dem Zwischenfall im Parteienviertel kommen konnte. Dabei konnte der Mann selbst noch nichts Genaues sagen. Die Untersuchung des Tatortes war noch lange nicht abgeschlossen und das Bisschen, was man bislang gefunden hatte, gab keine Hinweise auf die Täter. Natürlich hatte er eine Vermutung. Und er war sich sicher, dass sie sich als richtig herausstellen würde. Trotzdem konnte der Mann nicht einfach irgendwelche Behauptungen in die Welt setzen. Wenn er falsch lag, würde er dem Gegner nur weitere Unterstützung der Bevölkerung verleihen.
"Centum, wir haben etwas Interessantes auf den Luftaufnahmen der Drohnen entdeckt", fing der junge Mann an, ohne sich die Mühe zu machen, die Tür hinter sich zu schließen. Er startete das Tablet, welches er mitgebracht hatte. Auf dem Display erschien eine Filmsequenz, die eindeutig aus der Luft aufgenommen war. Sie zeigte zwei Frauen und einige Männer, die eine Straße entlang gingen. Dann tauchten noch zwei Jugendliche auf, die erst folgten, sich dann aber zu den Frauen gesellten.
"Was genau sehe ich da, Quinquaginta Kivlo?", fragte der Centum.
"Wichtig ist nur diese eine Frau", erläuterte der Quinquaginta, während er mit dem Zeigefinger auf das Display zeigte. Mit einer kurzen Zweifingerbewegung vergrößerte er den Ausschnitt. Die kubischen Pixel wurden sofort von dem Programm heruntergerechnet, sodass der Centum ein scharfes Bild der Person zu sehen bekam. Überrascht sog er die Luft ein. Dann schaute der Mann seinem Mitarbeiter ins Gesicht.
"Das ist Kaziir. Kommandantin der Renegaten in Nuhåven. In den meisten Fällen lässt sie sich nicht in der Öffentlichkeit blicken. Auch an Missionen nimmt sie nur selten teil. Aber hier ist sie in voller Lebensgröße."
"Wenn das stimmt, was Sie sagen, dann frage ich mich, warum sie bei einer simplen Gebäudesprengung vor Ort war."
"Und ich frage mich, warum die Renegaten mit einem Anker das gegenüberliegende Haus, welches bereits von dem gesprengten Hochhaus zum Großteil zertrümmert wurde, endgültig zum Einsturz bringen. Das ist doch eine sinnlose Aktion."
Der Centum hatte seinem Quinquaginta sehr genau zugehört. Jetzt grübelte er über dessen Worte nach. Sein Mitarbeiter hatte vollkommen recht. Warum sollte sich die Kommandantin der Renegaten persönlich darum kümmern, dass ein altes Ziegelhaus vollständig zum Einsturz gebracht wird. Quinquaginta Kivlo riss ihn aus seinen Gedanken, um ihn auf eine weitere Sache aufmerksam zu machen.
"Wir konnten die Personen bis zur Hauptstraße verfolgen, wo sie in einen Wagen stiegen. Mit den Verkehrskameras war es uns möglich, die Strecke des Fahrzeuges zu überwachen. Bis zu diesem Punkt." Der junge Mann deute erneut auf den Bildschirm, der jetzt eine Straßenkarte zeigte. "Die Kamera an dieser Straße hat den Wagen zum letzten Mal aufgenommen. Dann ist er verschwunden."
Der Centum schaute auf. Seine Stirn legte sich in Falten, als würde er über etwas nachdenken. Das Gebiet kam ihm irgendwie bekannt vor. Doch er konnte sich nicht erinnern. Schließlich gab der Mann auf. Vermutlich würde es ihm noch zu einem anderen Zeitpunkt einfallen, dachte er. Vielleicht war es aber auch nicht wichtig.
"Schicken Sie sofort einige Leute dort hin. Sie sollen jeden Quadratmeter zwischen dieser Verkehrskamera und den nächsten in allen Richtungen absuchen. Senden Sie außerdem Verhörspezialisten an den Ort. Ich will, dass jeder Mann, jede Frau und vor allem jedes Kind befragt wird. Ganz besonders die Straßenkinder, die sich da jeden Tag aufhalten. Wenn es sein muss, geben Sie ihnen was zu essen, trinken oder spielen. Mir egal. Hauptsache wir erfahren, wo dieses Fahrzeug abgeblieben ist. Und dann sollen sich unsere Leute vor Ort mal dieses alte Ziegelhaus ansehen. Vielleicht übersehen wir etwas."
"Verstanden, Centum. Ich werde mich sofort darum kümmern."
"Und noch etwas. Das sage ich nicht oft. Bilden Sie sich also nichts darauf ein. Danke. Jetzt kann ich der Bundessenatorin erste Informationen überbringen. Ich hoffe, dass sie mich dann ein wenig in Ruhe lässt."
"Wenn ich mir noch eine Bemerkung erlauben dürfte. Erwähnen Sie die Renegaten, aber nicht die Kommandantin. Sonst erwartet die Bundessenatorin noch, dass Sie ihr Kaziir ausliefern. Und das könnte problematisch werden."
Der Centum nickte mit einem grimmigen, schmerzlichen Gesichtsausdruck. Damit hatte sein Mitarbeiter wahrscheinlich vollkommen recht. Mår-quell hatte nicht die geringste Ahnung, wie es im wirklichen Leben zugeht. Das interessierte sie auch nicht. Sie wollte nur, dass alles so funktioniert, wie sie sich das vorstellte, ohne dass die Bundessenatorin etwas dazu beitragen musste. Der Mann war innerlich neugierig, wie lange das noch so weiter gehen würde. Die ProTeq hatte schon einiges an Macht gewonnen. Und nicht mehr alles konnte die Regierung ohne sie machen. Das war auch gut so. Besonders das Militär der ProTeq konnte seinen Einfluss immer weiter erhöhen.
"Sie werden vom Standort dieser Verkehrskamera in alle Richtungen bis zur nächsten Kamera jeden Millimeter unter die Lupe nehmen. Wir übernehmen das Verhören der Passanten, Geschäftsinhaber, Kunden und so weiter. Kümmern Sie sich also nicht darum. Bis heute Abend will ich erste Ergebnisse sehen. Wenn nicht, machen wir die ganze Nacht und den kommenden Tag durch. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?" Der Mann, der diese Befehle gab, war groß und imposant. In seiner Gegenwart traute sich nicht einmal ein Suizidgefährdeter dem Proteqtor zu widersprechen. Jeder der angesprochenen Personen rannte wie ein Wiesel los, noch bevor er die letzte Frage gestellt hatte. Mit einem zufriedenen Grinsen sah er ihnen nach. Seine Arbeit für die ProTeq hatte ihm schon so manche Auszeichnung eingebracht. Das führte dazu, dass ein gewisser Erfolgsdruck auf ihm lastete. Glücklicherweise war er in der Position, einen Fehlschlag auf seine Mitarbeiter oder die ihm für einen Fall zugeordneten Beamten abzuwälzen. Solange er nachweisen konnte, er habe alles getan, was möglich war. Seine eigenen Leute waren schon seit einiger Zeit auf der Straße und in den Häusern unterwegs. Diese Männer und Frauen waren perfekt ausgebildet in den perfiden Methoden, den Leuten das zu entlocken, was sie wissen wollten. In einigen Stunden wusste der Mann mit Sicherheit mehr über dieses Fahrzeug und wo es versteckt wurde. Sofern es nicht sogar gefunden wurde bis dahin.
"Wo ist Tandra?", fragte das Mädchen den erstbesten Jugendlichen, den sie antraf.
"Das weiß ich nicht. Frag mal sie", dabei deutete er mit der Hand auf ein anderes Mädchen etwas weiter hinten im Raum. "Sie hat vorhin noch mit ihr gesprochen. Was ist denn los? Du scheinst aufgeregt."
"Die Proteqtoren verhören die Malsata einige Straßen weiter, wegen eines Fahrzeuges. Dabei rücken sie dem Wohnheim immer näher."
"Wer sind die Malsata?", wollte der Junge noch wissen, als das Mädchen bereits weitergelaufen war. Die Frage musste sie ihm wohl ein anderes Mal beantworten. Er beobachtete noch, wie sie mit dem Mädchen sprach, auf das er gedeutet hatte, dann verschwand sie. Der Jugendliche schüttelte den Kopf über den Rotschopf, der wie ein Wirbelwind gerade eben noch durch die Vorhalle gerauscht war. Dann dachte er jedoch darüber nach, was sie gesagt hatte. Die Proteqtoren kamen näher. Das war kein gutes Zeichen. Die Jugendlichen im Wohnheim hatten zwar nichts zu verbergen, jedenfalls die meisten. Trotzdem waren diese Männer und Frauen dafür bekannt, alles andere als zimperlich zu sein. Sie suchten etwas. Und wenn sie es nicht fanden, würden sie immer wieder kommen. Nicht selten waren diese Monster beim zweiten Besuch nur noch gewalttätig und gefühllos. Der Junge ging zur Vordertür und blickte die Straße zum Wohnheim entlang. Noch konnte er nichts sehen. Doch er wusste, das würde sich von der einen zur anderen Sekunde ändern.
"Tandra! Bist du hier?", rief das Mädchen, als sie in dem Bereich ankam, den ihm die junge Frau genannt hatte. "Tandra!? Es ist wichtig."
"Wo bist du?", kam die Gegenfrage.
"Warte, ich komme zu dir." Ronar lief in die Richtung, aus der sie glaubte, die Stimme vernommen zu haben. Nach nur kurzer Zeit stand sie der Leiterin gegenüber, die sie gleich erkannte.
"Was ist los, Ronar? Du siehst ja aus, als hättest du einen Geist gesehen." Tandra kniete sich zu ihr herunter.
"Die Proteqtoren verhören die Malsata einige Straßen weiter und kommen immer näher."
"Die Malsata?", fragte Tandra.
"Ja, die Hungernden. Du kennst sie doch."
"Ich weiß, wen du meinst. Wonach suchen die Proteqtoren denn?"
"Nach einem Fahrzeug. Ich habe es nicht ganz verstanden. Irgendwas von Militär oder so etwas."
"War das Wort, was du gehört hast, vielleicht Renegat?"
"Ja, das haben die auch gesagt. Die wollen wissen, wo es hingefahren ist."
"Ist schon in Ordnung, Ronar. Ich denke nicht, das wir etwas zu befürchten haben, wenn wir mit denen zusammenarbeiten und alle die Wahrheit sagen. Ich danke dir." Sie gab dem Mädchen einen Kuss auf die Stirn und begab sich in ihr Büro.
Dort angekommen, nahm sie das Mikrofon der Sprechanlage in die Hand und informierte alle Bewohner über das Bevorstehende. Tandra erwähnte ausdrücklich, dass sich niemand gegen die Proteqtoren stellen und dass jeder die Wahrheit sagen sollte. Zusammenarbeit war unumgänglich. Dann würden die Männer und Frauen vermutlich schnell wieder abziehen. Zumindest hoffte sie das, dachte Tandra, nachdem sie die Durchsage beendet hatte. Sie kannte die Berichte von Kaziir über diese Tiere gut genug. Erfolgsorientiert und gefühllos. Dazu noch machtbesessen und völlige Selbstüberschätzung. Sie hoffte nur, dass keiner ihrer Schützlinge zu Schaden kam.
Auf einmal fiel ihr ein, sie musste noch Kaziir warnen. Schnell verließ sie das Büro und rannte rüber in den Süd-West-Flügel. Kaziir war nicht wirklich überrascht darüber, dass die ProTeq eine Spur verfolgten. Das lag jedoch nicht daran, dass Kaziir der Fehler mit dem Fahrzeug bereits bekannt war. Es lag einfach nur daran, Kaziir war nie überrascht, was die Proteqtoren anging.
"Es tut mir leid. Wir hätten besser einen größeren Umweg fahren sollen, damit der Verdacht nicht hierher gelenkt wird."
"Ich weiß. Aber ich wollte auch so schnell wie möglich medizinische Hilfe für die Beiden. Also bin ich auch schuldig. Ich habe meinen Kindern Anweisungen gegeben, sich mit den Proteqtoren gut zu stellen. Hoffentlich reicht das und sie verschwinden wieder schnell."
"Das hoffe ich auch. Beeil dich jetzt besser. Die ProTeq kann jeden Augenblick bei dir einschlagen. Wir fahren hier alles runter, damit man uns nicht anpeilen kann. Sag mir nachher Bescheid, wenn sie wieder weg sind."
"Mach ich, Schwester. Und nochmal danke für die Rettung."
"Geh schon. Deine Kinder warten auf dich."
Tandra erreichte den Eingang zum Wohnheim gerade noch rechtzeitig. Durch die Fenster konnte sie bereits die ersten Proteqtoren sehen, wie sie in der Gegend herumschnüffelten. Allem Anschein nach war dies nur der Vortrupp, denn sie kamen nicht in das Möbelhaus, sondern interessierten sich mehr für die Umgebung. Die Männer schoben jeden einzelnen Busch auseinander, um dahinter zu sehen. Langsam wurde der Leiterin bewusst, was die Leute dort taten. Sie hofften, den Wagen zu finden, der jedoch im Untergeschoss des Süd-West-Flügels stand. Vielleicht würden sie auch gar nicht hereinkommen und Fragen stellen, wenn dieser Trupp hier nichts fand. Doch Tandra wusste, dies war ein Wunschtraum. Natürlich würden sie kommen. Und natürlich würden sie wie die Vandaloj durch das Wohnheim stampfen. Die Kinder trotz ihrer Zusammenarbeit hart ran nehmen. Jeden einzelnen Stein, jedes Bett, jeden Schrank umdrehen und durchsuchen. Innerlich zitterte sie. Nach Außen hin gab sie sich gelassen.
Sie erinnerte sich an ihre Kindheitstage. An diesen einen Tag. Plötzlich flog die Haustür auf. Drei Männer stürmten in die Wohnung und stießen alles um, was ihnen im Weg war. Tandra wurde dabei auch überrannt. Das kleine Mädchen, welches sie damals noch war, flog durch den halben Raum, bis sie mit der Ecke eines Tisches zusammenprallte. Diese Ecke bohrte sich tief zwischen ihre Schulterblätter. Damals hatte Tandra das Gefühl, es würde ein Loch bis hinein in ihre Lunge entstehen. Gedankenverloren tastete sie nach der Narbe. Panisch schrie das kleine Mädchen auf, begann hektisch zu atmen, bevor sie dann laut um Hilfe schrie. Einer der Männer brüllte sie an, die Schnauze zu halten. Dann deutete er an, sie schlagen zu wollen. Tandra zuckte ängstlich zusammen. Tränen liefen ihr in Bächen die Wangen herunter. Überall war Geschrei, Lärm und Poltern. Das Mädchen versuchte wegzukriechen. Plötzlich riss einer der Eindringlinge sie an den Haaren hoch, schaute ihr ins Gesicht und schleuderte sie dann in einen Sessel. Von dort aus konnte Tandra sehen, wie die Nachbarn vorsichtig um den Türrahmen in das Innere blickten. Als sie Tandra erkannten, wurde die Verzweiflung in ihren Gesichtern nur noch größer. Die Nachbarn wollten ihr helfen. Doch sie wussten genau, was passieren würde, wenn sie die Wohnung betraten. Irgendwann in diesem Chaos fiel ein Schuss. Dies war das Zeichen für die Nachbarn, sich so schnell es ging zurückzuziehen. Erneut wurden die Männer laut. Diesmal schrien sie sich gegenseitig an. Dann stürmten sie unerwartet wieder aus der Wohnung. Zurück blieb ein geschundenes Kind, eine angeschossene Mutter und ein Stiefvater, der von dem Tag an nur noch unbetroffen vor sich hin vegetierte. Die Aufregung, so erfuhr sie später, hatte einen Hirnschlag ausgelöst. Das waren die Proteqtoren, die Tandra in Erinnerung hatte. Und die, von denen Kaziir immer wieder erzählte, waren nicht anders. Nichts hatte sich geändert.