Читать книгу Renaissance 2.0 - Christian Jesch - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеAbermals wurde er von dem Schrei und der Explosion aus seinem Alptraum gerissen. Erneut zuckte sein Kopf in alle Richtungen gleichzeitig, tasteten seine Hände die Umgebung ab. Schließlich blieb er mit weit aufgerissenen Augen und heftigen, kurzen Atemstößen sitzen. Das Metall in seiner Hand war kalt und dünn. Langsam dreht er den Kopf und erkannte einen Zaun. Auf der anderen Seite war eine Straße mit Beleuchtung. Erstaunt fragte sich der Junge, wo er war. Er fand keine Erklärung dafür, warum er zwischen einem Busch und einem Zaun lag. Noch weniger konnte er sagen, wie er dort hingelangt war. Der Teenie ließ seien Blick schweifen. Auf der Straße war reger Verkehr zu beobachten. Aufgrund der Dämmerung musste es früher Morgen sein. Er schaute von der Straße weg in die entgegengesetzte Richtung. Dort befand sich ein riesiges Gelände, dessen Funktion er nicht erahnen konnte. Irgendetwas sagte ihm jedoch, dass er dort nicht hin wollte. Seine Augen folgten dem Zaun nach oben. Der Junge schätzte die Höhe auf zweieinhalb Meter. Er stand auf, griff nach der obersten Querstrebe, die er erreichen konnte – und ein heißer Schmerz durchstieß seinen Brustkorb. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Der Teenie ließ die Querstrebe wieder los und tastete seine Brust ab. Er betrachtete sich den tief dunkelblau verfärbten Striemen, der quer über seinen Thorax verlief. Ungläubig grübelte der Junge darüber nach, wie er an diese Verletzung gekommen war. Seine Erinnerung stieß immer weiter ins Leere. Ohne eine Antwort gefunden zu haben, versuchte er es ein weiteres Mal den Zaun zu erklettern, da er dies für das einzig richtige hielt. Auch, wenn er es nicht begründen konnte.
Es dauerte eine geraume Zeit, bis er unter den starken Schmerzen den oberen Rand erreicht hatte. Mühsam quälte der Junge sich darüber hinweg. Da die Querstreben auf der Innenseite des Zauns angeschweißt waren, fehlte ihm auf dieser Seit jedweder Halt für Füße und Hände. Weshalb er mehr rutschte und fiel, als dass er kletterte.
"Na, Kleiner. Wo kommst du denn her?", sprach ihn ein Jugendlicher an. Auch wenn seine Erinnerung gleich Null war, sein Gefühl arbeitete noch perfekt. Und dieses Gefühl sagte ihm, dass er in Schwierigkeiten war.
"Was ist los", fuhr ihn der Jugendliche an. "Kannst du nicht reden oder willst du nicht?" Noch bevor der Teenie antworten konnte, wendete sich der Straßenjunge an seine Begleiter.
"Ich glaube, der feinen Herr braucht mal eine Lektion in Sachen Manieren. Dafür sind wir doch bestens geeignet. Oder was meint ihr?" Seine Begleiter grinsten und schlugen ihre Fäuste in die Handflächen. Der Junge wusste genau, dass er sich jetzt so schnell es nur ging, von den Dreien entfernen musste. Doch die standen um ihn herum. Mit dem Zaun im Rücken war dem Jungen damit jeder Fluchtweg verschlossen. Trotzdem versuchte er es und wurde prompt von zwei starken Armen daran gehindert. Was dann folgte, war eine wilde Schlägerei, bei der er nicht die geringste Chance hatte. Er versuchte sich so gut es ging vor den Schlägen zu schützen. Das war aber auch schon alles, was er konnte.
Wie er so am Boden lag, mit Blut im Gesicht, Schmerzen in Brust und Bauch, begann er irrwitziger Weise die Passanten zu zählen, die an ihm vorbeigingen, ohne ihn zu beachten oder gar zu helfen. Der eine hielt ihn für drogenabhängig, der Nächste für einen Alkoholiker, der Dritte für die größte Schande der Menschheit. Nach einer unbekannten Zeit ließen die Schmerzen etwas nach, sodass er aufstehen konnte. Wie ein Betrunkener stützte sich der Teenie an dem Zaun mit einer Hand ab, während er versuchte die Straße entlangzugehen. Die Menschen, die er passierte, ekelten sich vor ihm und riefen wüste Beschimpfungen hinter dem Jungen her, der nichts für seinen Zustand konnte. Nach einigen hundert Metern versperrte eine am Zaun befestigte dunkelgrüne Plane den Weg. Sie war mit zwei Eisen schräg im Boden festgemacht. Davor stand eine hochgeklappte Palette, die wie eine Tür mit Kabelbindern als Angel am Zaun festgemacht war. Das Ganze erinnerte weitestgehend an ein provisorisches Zelt. Er schaute durch die Zwischenräume des Holzkonstruktes ins Innere. Dort lag eine weitere Palette am Boden. Auf ihr eine alte, vergammelte Matratze. Der Teenie schaute sich um. Niemand kümmert sich um das, was er dort trieb. Er schob die Palette zur Seite, betrat den kleinen Raum und zog dann die hölzerne Transporthilfe wieder zu. Erschöpft ließ er sich auf die Matratze fallen. Nach und nach betastete er seine schmerzenden Körperteile. Dabei fand er die ein oder andere Stelle die mehr oder minder blutete. Dass er dabei Dreck in die Wunden rieb, kam ihm nicht in den Sinn. In was für eine Welt war er hier nur geraten? Er versuchte sich daran zu erinnern, ob da, wo er herkam, die Menschen genauso grässlich waren. Doch diese Frage blieb unbeantwortet, da ihm klar wurde, er wusste überhaupt nicht, wo er hergekommen war. Sein Alter, sein Name, seine Herkunft, seine Eltern. Da war einfach nur eine unendliche Leere. Ihm wurde schwindelig. Übelkeit machte sich in dem Jungen breit. Dann Dunkelheit.
"Hey! Verschwinde hier! Das ist mein Platz. Oder glaubst du, ich habe mir all die Mühe gemacht die Sachen hier zusammenzutragen, nur damit so ein Penner, wie du, hier herumlungert?"
Diesmal war es nicht der Schrei aus seinem Alptraum, der ihn hochriss, sondern der Jugendliche, der vor ihm stand. Seine erste Reaktion war es, in Panik sich so weit wie möglich von der Person zu entfernen, die so herrisch auf ihn einbrüllte. Wie ein Käfer auf dem Rücken liegend schob sich der Teenie immer weiter in die Ecke. Der Jugendliche beobachtete ihn dabei. Der Junge konnte nicht sagen, ob der große Kerl wirklich wütend war. Das Licht seiner Taschenlampe blendete den Teenie, sodass er nur einen vagen Umriss erkennen konnte. Auf einmal wanderte der Lichtkegel an ihm runter und wurde kleiner, als der Unbekannte auf ihn zukam.
"Was ist denn mit dir passiert?", fragte die Stimme jetzt erstaunt und vielleicht auch ein wenig besorgt. "Du siehst ja aus, als hätten sie dich in die Presse gestopft." Es entstand eine Pause. "Du musst neu hier sein. Ich hab dich noch nie zuvor in der Gegend gesehen. Und ich kenne fast jeden. Wie heißt du?"
Er war sich nicht sicher, was der plötzliche Wandel zu bedeuten hatte. Misstrauisch beäugte er den Fremden, der mittlerweile die Taschenlampe wie eine Deckenleuchte aufgehängt hatte. Er war eindeutig größer als der Teenie und auch nicht so schmächtig. Dafür aber genauso dreckig. Sein Gesicht wurde von einem leichten Bartwuchs verziert. Die Kleidung war nicht so heruntergekommen, wie man vielleicht glauben sollte. Eigentlich sah er harmlos aus, aber der Junge traute ihm trotzdem nicht.
"Entschuldige bitte, dass ich vorhin so harsch war. Um hier auf der Straße überleben zu können, muss man laut und auch aggressiv sein. Sonst machen dich die anderen fertig. Ich bin übrigens Veizs. Und wie ist dein Name?"
Der Junge dachte noch einige Momente über das Gesagte nach, bevor er sich traute etwas zu erwidern. Doch was sollte er erzählen? Er wusste ja nichts.
"Ist schon gut", ermunterte ihn Veizs. "Wir können morgen darüber reden."
"Nein, das ist schon in Ordnung. Nur …", er zögerte. "Ich weiß nicht, wer ich bin."
"Was meinst du damit, du weißt nicht, wer du bist?" Veizs war vor Erstaunen fast die Kinnlade heruntergefallen.
"Ich habe wohl keine Erinnerung. Alles ist so leer."
"Woran kannst du dich denn noch erinnern?", wollte der Jugendliche neugierig wissen. Etwas Ähnliches hatte er noch nie erlebt.
"Dass du mich angeschrien hast."
"Und davor? Erinnerst du dich noch daran, wie du in meinen Unterschlupf gekommen bist?" Es entstand eine lange Pause, in der der Junge suchend umherschaute.
"Nein."
Jetzt klappte Veizs die Kinnlade runter. Mit weit geöffnetem Mund stand er da und überlegte. Da er zu keinem Ergebnis kam, schüttelte er den Kopf und betrachtete sich dann die Wunden, die der Junge offensichtlich unter seiner Kleidung hatte.
"Du meine Güte", stieß er laut aus. "Bist du von einem Bus überfahren worden?" Er stockte. "Du weißt, was ein Bus ist, oder?"
"Ja, das weiß ich. Und ja, vielleicht. Jedenfalls fühle ich mich so. Da hast du recht."
"Einige der Wunden sehen übel aus. Schlaf dich erst einmal aus. Wir seh'n uns das am Morgen noch einmal genauer an."
Bei dem Gedanken an Schlaf mischte sich Freude mit Unsicherheit. Der Junge benahm sich zwar nett und höflich, nachdem er ihn so angeschrien hatte. Trotzdem sagte ihm sein Bauchgefühl, er solle sich nicht zu sehr auf diesen Veizs einlassen. Er war ein Straßenjunge. Und auch, wenn er nicht wusste, wo er war, Straßenkinder waren überall nur an einer Sache interessiert. Überleben. Was also sollte er jetzt machen?
"Neniu", sagte Veizs plötzlich aus dem Nichts heraus und unterbrach somit die Gedanken des Teenie.
"Was meinst du?", fragte der verwirrt zurück.
"Dein Name. Wir nennen dich von jetzt ab Neniu. Das heißt soviel wie Unbekannter."
"Wenn du meinst. Das habe ich sowieso wieder vergessen, wenn ich nachher aufwachen sollte."
"Gib mir deine Hand", forderte Veizs ihn auf. Der Junge war sich nicht ganz sicher, ob er das wirklich machen sollte. Doch da griff der Jugendliche schon nach ihr und schrieb etwas mit Kugelschreiber auf den Handrücken: Mein Name ist Neniu.
"Das Lesen hast du doch hoffentlich nicht auch vergessen?", erkundigte er sich jetzt.
"Nein, auch das kann ich noch. Es sind nur die Dinge, die ich erlebe. Nach kurzer Zeit sind sie weg."
"Das muss verdammt schwer für dich sein. Wie kommst du damit klar?"
"Wie soll ich schon damit klar kommen? Überhaupt nicht. Du siehst, ich bin über und über mit blutenden Wunden, blauen Striemen und noch einigen anderen Dingen übersät und habe nicht die geringste Ahnung, wie es dazu gekommen ist. Ich erinnere mich noch nicht mal daran, ob ich schon immer hier gelebt habe. Und, wenn ja, habe ich dann schon immer auf der Straße gelebt. Was ist passiert, dass ich kein Zuhause habe?"
Veizs nickte zustimmend. Er konnte Nenius Situation zwar nicht vollkommen nachempfinden, wie er sich fühlte, aber er konnte es sich grob vorstellen. Und das reichte ihm schon. Für ihn war es wirklich schwer genug auf der Straße zu überleben. Er war kein harter Kämpfer oder so, der sich überall durchsetzen konnte. Dafür konnte er sich wenigstens jeden Tag daran erinnern, wem er aus dem Weg gehen sollte. Veizs überlegte angestrengt, wie er Neniu helfen konnte. Er hatte einige Freunde, die wiederum Freunde kannten, die Freunde kannten. Möglicherweise konnte einer von ihnen dem Jungen helfen. Nur wen oder was brauchte Neniu? Einen Arzt. Das war deutlich. Und den brauchte er nicht nur wegen seiner Wunden am Körper, sondern auch wegen seiner Wunden an der Seele und im Kopf.
Während er so überlegte war Neniu eingeschlafen. Veizs verließ den Unterschlupf, um an der frischen Luft weiter nachzudenken. Auf der Straße lag eine halb gerauchte Zigarette, die noch glimmte. Er nahm sie gedankenverloren auf und rauchte sie zu Ende. Dabei dachte er an seine Familie, die von den Proteqtoren vollständig ausgelöscht wurde. Und das nur, weil sie über die Asylpolitik der Mår-quell diskutiert hatten. Sie hatten lediglich die Frage in den Raum gestellt, wer nach dem kostspieligen Krieg die Gelder dafür aufbringen sollte, die Assylanen zu versorgen. Und was mit all den anderen Menschen ist, die schon vor der Flutwelle an Flüchtigen nicht mehr überleben konnten. Und dann war da noch seine jüngere Schwester, die einige dieser Asylaken mehr als nur bedrängt hatten. Und wer war gegen die vorgegangen? Niemand. Damals hatte er sich geschworen, den Tod seiner Familie zu rächen. Doch sein Ziel, bei den Renegaten aufgenommen zu werden, war nicht in Erfüllung gegangen. Sie hatten zwar sein Potenzial erkannt. Sie hatten aber auch seine Wut gesehen, die einfach fehl am Platz war. Damals war er frustriert und aufgebracht davon gegangen. Er hatte sogar damit gedroht den Standort, an dem man mit ihm das Interview geführt hatte, an die Proteqtoren zu verraten. Doch das hatte er nie getan. Denn bereits kurze Zeit, nachdem er sich beruhigt hatte, musste sich Veizs eingestehen, er hätte nicht anders gehandelt. Das war jetzt über drei Jahre her. Vielleicht sollte er sich noch einmal bei ihnen vorstellen. Der Schmerz über den Verlust seiner Familie war jetzt auch älter als drei Jahre und zerfleischte ihn nicht mehr so, wie damals.
Wie zur Bestätigung seiner Gedanken über die Renegaten, hörte er irgendwo in der Stadt eine Explosion. Er lächelte zufrieden. Nicht weil er an seinen Vater, die Mutter und die beiden Schwestern dachte, sondern, weil jemand versuchte, die Regierung zu entmachten. Diese Regierung mit Mår-quell an der Spitze hatte nicht nur ihm weh getan, sie würde noch viel mehr Menschen leiden lassen. Ohne dabei jemals selber Leid zu erfahren. Irgendwann würde jemand kommen, der den Angriff auf die Hauptstadt leitet und koordiniert. Ein Angriff, dem die Regierenden und die Reichen nichts entgegenzusetzen hatten.