Читать книгу Renaissance 2.0 - Christian Jesch - Страница 6
Kapitel 4
ОглавлениеDer Wagen stoppte mit einem sanften Ruck. Stimmen wurden laut und kurze Zeit später öffnete sich die stählerne Tür am Heck. Neniu dachte, sie wären an ihrem Ziel angekommen. Doch dem war nicht so. Hinter dem Fahrzeug standen drei bewaffnete Männer, die in das Innere zielten. Der Proteqtor sah sie mit leichtem Erstaunen an.
"Na, ihr traut euch ja was", sagte er nur, während er aufstand.
"Endstation, bitte aussteigen", erwiderte einer der Bewaffneten. Das war allerdings unnötig gewesen, da Nenius Begleiter sich schon auf den Weg nach Draußen gemacht hatte. Die Männer machten zunächst Platz, verfolgten den Proteqtor aber immer noch mit ihren Waffen. Schließlich, als er an ihnen vorbei war, stiegen sie rückwärts ein und schlossen die Tür. Es dauerte nicht lange, bis sich der Wagen wieder in Bewegung setzte.
"Das war mal ein Spaziergang", sagte einer der Männer.
"Was hast du Anderes erwartet."
"Mit ein bisschen mehr Gegenwehr hatte ich schon gerechnet", erwiderte der Erste.
"Mach doch mal einer das Licht an", meinte jetzt die dritte Stimme. Aus dem Dunkel ertönte ein wehleidiges Ha ha ha und man könnt förmlich spüren, wie die anderen beiden Männer die Augen verdrehten.
"Geht doch nicht, du Ochse. Der EMP hat doch die komplette Batterie lahm gelegt."
"Hast ja recht. Hab ich vergessen." Eine Taschenlampe leuchtete auf. Der Besitzer regelte das Licht herunter und suchte dann nach einer Möglichkeit sie am Dach aufzuhängen.
"Schon besser", meinte einer der Männer. Sein Gesicht wurde von einem eleganten Vollbart umrahmt.
"Was haben wir eigentlich vor mit dem Fahrzeug?"
"Kann ich dir nicht sagen. Wir bringen es zum Areal 13. Die haben den Wagen angefordert."
"Areal 13? Das ist doch das ProTeq Spezialkommando. Richtig?", wollte einer der Männer wissen. Seine Gesichtszüge nahmen etwas Verträumtes an. "Da würde ich auch gerne mitmischen. Das sind die reinsten Maulwürfe."
"Es ist schon unglaublich, dass die noch keinen Mann oder Frau verloren haben. Ich habe großen Respekt vor denen."
"Den muss man auch haben", stimmte einer der Männer zu.
Es vergingen weitere lange Minuten, in denen keiner ein Wort sagte. Der Lichtkegel der Taschenlampe taumelte leicht über den Fahrzeugboden. Von der Außenwelt war kaum etwas in diesem gepanzerten Fahrzeug zu hören. Plötzlich wurde der Wagen heftig durchgeschüttelt, die Männer durcheinander gewirbelt während sie versuchten sich irgendwo festzuhalten oder abzustützen.
"Was war denn das?", fragte einer von ihnen erschrocken.
"Ein Schlagloch oder etwas Ähnliches", vermutete der Zweite mit dem Bart.
"Frag doch mal über das Intercom nach, was passiert ist", schlug der dritte Mann vor, worauf hin ihn die beiden anderen mit einem leicht genervten Blick ansahen.
"Was…?", fragte der unschuldig zurück.
"Strom…", antworteten die beiden anderen wie im Chor.
"Aaaah…."
"Alles in Ordnung", wollte der Mann mit der Narbe wissen, der zuvor noch nach dem Intercom gefragt hatte.
"Ich war das nicht", erwiderte der eine und der andere ergänzte "Ich auch nicht." Zwei weitere Taschenlampen gingen an und durchleuchteten das Innere. Sie hatten den Jungen nicht bemerkt, da sie weit hinten, an der Hecktür saßen, während er sich so gut wie eben möglich in die andere Ecke gedrängt hatte.
"Wo kommst du denn her?" Die Überraschung stand den Männern ins Gesicht geschrieben.
"Haben dich die Proteqtoren verhaftet?" Neniu sagte immer noch kein Wort.
"Der Junge blutet", erkannte jetzt der mit dem Bart. "Und zwar nicht wenig, wie es aussieht."
Jetzt sahen es auch die anderen. An der Stelle, wo ihn der Proteqtor beim Einsteigen angefasst hatte, war ein großer, dunkelroter Fleck auf seinem Shirt zu sehen. Einer der Männer näherte sich ihm vorsichtig. Dabei beobachtete er Neniu genau. Als dieser versuchte sich weiter zurückzuziehen, blieb der Mann stehen und machte dann zwei Schritte zurück.
"Alles in Ordnung, Junge. Wir wollen dir nichts tun. Haben die Proteqtoren dich so zugerichtet?" fragte der Bart.
Neniu schüttelte langsam und verängstigt den Kopf.
"Wie ist das dann passiert?"
"Kann ich nicht sagen.", waren seine ersten Worte. Doch vertrauensvoll klangen diese nicht.
"Warum kannst du es nicht sagen?", wollte jetzt die Narbe wissen.
"Ich weiß nicht."
Die Männer waren ratlos. Was sollte das bedeuten? Alle drei schauten ihn befremdet an. Keiner von ihnen wusste, wie sie vorgehen sollten. Jeder fragte sich, was mit dem Jungen passiert war und entwickelte im Kopf seine eigenen Theorien.
"Kann ich mir die Wunde einmal ansehen?", fragte jetzt wieder der Mann, der das Blut auf Nenius Shirt entdeckt hatte. "Nur ansehen", schränkte er ein. "Sonst nichts." Neniu überlegte, dann nickte er langsam. Der Mann kam näher und hob das Hemd vorsichtig nach oben, bis er die Wunde sehen konnte.
"Das sieht verdammt übel aus", meinte er zu seinen Kollegen. "Besser, wir bringen ihn in eines unserer Hospitäler. Wenn ich das hier richtig sehe, ist die Wunde schwer entzündet und vereitert. Keine Ahnung, was passiert, wenn das nicht behandelt wird."
"Schaut mal nach, ob hier ein Verbandskasten ist, Jungs. Vielleicht können wir schon einmal ein bisschen was ausrichten, wenn das für dich in Ordnung ist?", fragte der Bart mit Blick auf Neniu. Der überlegte wieder kurz und nickte dann zustimmend.
Mittlerweile hatten die anderen beiden den Verbandskasten gefunden und reichten ihn weiter. Der Mann bei Neniu öffnete ihn, durchsuchte den Inhalt bevor er dann eine Spraydose hervorholte. Er warf einen kurzen Blick auf die Beschreibung, machte dann den Deckel ab.
"Das ist ein Infektion hemmendes Sprühpflaster. Das wird jetzt brennen, wenn ich es auftrage. Versuch die Zähne zusammenzubeißen. Das Brennen geht nach einer Weile wieder weg."
Neniu nickte etwas unsicher, schloss die Augen und biss die Zähne kräftig zu. Das Brennen entwickelte sich zu einem Flächenbrand, den der Junge kaum in der Lage war auszuhalten. Aber es ging nicht anders. Und jetzt, wo das Pflaster schon aufgesprüht war, konnte er sowieso nichts mehr machen. Tränen liefen ihm aus den Augen. Langsam ließen die Schmerzen nach, bis sie nur noch ein leichtes Ziehen waren. In der Zwischenzeit hatte sich der Mann auch die anderen Verletzungen angesehen. Immer wieder schüttelte er den Kopf. Was musste dem Jungen widerfahren sein, fragte er sich.
"Warum möchtest du uns nicht sagen, wo du all diese Prellungen, Schwellungen, blauen Flecken und Wunden her hast?", wollte der Mann jetzt wissen.
"Ich möchte es euch schon sagen", antwortete Neniu jetzt etwas mehr vertrauensvoll. "Aber ich weiß nicht, woher ich sie habe. Ich kann mich immer nur an die letzten paar Stunden erinnern."
Nach diesen Worten schauten ihn alle ungläubig an, als hätten sie ihn nicht richtig verstanden. Keiner von ihnen hatte jemals so etwas gehört oder gar erlebt. Ein Junge ohne wesentliches Gedächtnis. Jeder von ihnen stellte sich vor, wie schrecklich das sein musste. Am liebsten hätten sie ihn gefragt, ob das schon immer so war. Aber diese Frage hätte er unmöglich beantworten können.
"In Ordnung. Sobald wir mit unserem Auftrag fertig sind, bringen wir dich in ein Hospital."
"Wer seid ihr eigentlich?", wollte Neniu jetzt neugierig wissen.
"Wir sind Renegaten. Freiheitskämpfer, die gegen die Regierung und die Reichen antreten. Nach dem letzten Krieg hat die Regierung sich zunächst um die geschädigte Bevölkerung gekümmert", führte einer der Männer aus, "Jedoch bald erkannte sie, dass dies ein finanzielles Projekt ohne Boden war. Sie haben fünf Städte mit einer Biosphäre versehen, bis ihnen klar wurde, dass es einige Milliarden kosten würde auch alle andere Städte damit zu versorgen. Ab da hat die Regierung nichts mehr für uns getan."
"Was ist eine Biosphäre?", führte Neniu das Gespräch weiter. "Und warum musste man die Städte damit versorgen?"
"Eine Biosphäre ist eine Art riesiger Glaskuppel die ein bestimmtes Gebiet hermetisch umschließt", führte jetzt der Mann mit der Narbe aus. "Dies musste sein, da der letzte Krieg mit biochemischen Waffen geführt wurde, welche die Atmosphäre und den Boden verseucht haben. In dieser Biosphäre befinden sich riesige Ventilatoren, die Luft von Außen ansaugen und sie durch eine Filteranlage schickt, damit sie dort gereinigt und für uns nicht gesundheitsschädlich ist. Das Gleiche gilt auch für das Wasser hier. Lebensmittel, wie Gemüse und Fleisch werden in sogenannten Trabantensphären produziert. Du solltest mal diese Airo Farmen sehen. Alles ohne Erde und mit nur ganz wenig Wasser", schwärmte der Mann. "In zwei Wochen ist das Gemüse zum Ernten bereit. Einfach grandios. Mein Vater hat früher mal in so einer Farm gearbeitet. Nach der Ernte werden die Lebensmittel dann mit dem Zug hier her gebracht"
Zug. Bei dem Wort blitze kurz eine Erinnerung auf, die sogleich wieder verschwand. War er… War er was? Woran hatte er eben gedacht? Er bat den Mann das, was er gesagt hatte, noch einmal zu wiederholen. Was er auch tat. Nur dieses Mal passierte bei Neniu nichts. Innerlich zuckte er mit den Schultern und dachte nicht mehr weiter darüber nach.
Das Fahrzeug hielt an und einer der drei öffnete die Hecktür. Draußen standen weitere Männer und Frauen, alle in ziviler Bekleidung, die jedoch irgendwie der seiner Begleiter ähnelte. Der Mann ging sofort auf einen von ihnen zu. Er sprach mit ernster Miene und deutete dabei ein paar mal mit dem Daumen über seine Schulter in das Innere des Wagens. Der Mitte Zwanzigjährige rief eine Frau zu sich, die dann in das Fahrzeug kletterte und sich Neniu näherte.
"Lass mich mal sehen", forderte sie den Jungen mit einer freundlichen, samtweichen Stimme auf. Bereitwillig drehte er sich so, dass sie auf die bereits versorgte Wunde blicken konnte. Mit einem ernsten Gesichtsausdruck nickte sie, reichte ihm die Hand und half ihm beim Aussteigen. Sie gingen zurück zu dem Mann, der die Frau geschickt hatte.
"Wenn Sie erlauben bringe ich den Jungen in ein Lazarett von uns. Er muss dringend versorgt werden, sonst bekommt er einen Wundbrand. Außerdem muss sein Oberkörper in einer Röhre gescannt werden. Möglicherweise hat er einige Brüche im Bereich des Thorax."
Der Mann, eventuell der Kommandant des Lagers, nickte. Sie solle eines der Zivilfahrzeuge aus dem Fuhrpark nehmen und vorsichtig sein. Ohne weitere Worte trennten sie sich und Neniu ging mit der Frau in einen anderen Bereich des Lagers. Der Boden unter ihren Füßen war merkwürdig schräg, als würde man eine Rampe heruntergehen. Das war ihm auch schon aufgefallen, nachdem der Wagen zum Stillstand gekommen war. Wenig später traten sie ins Freie und Neniu konnte erkennen, warum dem so war. Sie standen neben einem umgestürzten Hochhaus, dessen Basis etwa einhundert Meter weiter entfernt war. Dort standen einige wenige PKWs, von denen sie einen nahmen. Neniu stieg auf der Beifahrerseite ein, während sich die Frau hinter das Steuer setzte.
"Ich bin Ezar", stellte sie sich jetzt vor und streckte ihm die Hand entgegen.
"Mein Name ist Neniu", las er von seinem Handrücken ab. "Glaube ich." Dann schüttelte er ihre Hand.
"Du kannst dich nicht erinnern, wie du heißt?", fragte Ezar neugierig.
"Ich kann mich an vieles nicht erinnern." Erneut erklärte Neniu seine Geschichte, der Ezar aufmerksam zuhörte.
"Wenn du aus dem Lazarett wieder raus bist, werde ich dich zu einer Freundin bringen, die sich um dich kümmern wird. Sie hat einige Jugendliche, die sie betreut. Und einige davon haben Probleme, wie du. Nicht genau das Gleiche. Aber eben Probleme. Möglicherweise kann sie auch dir helfen. Bevor sie hier herkam, war sie im Kinder- und Jugendamt tätig. Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie eine Idee haben wird."
"Das wäre wundervoll. Ich hasse mich dafür, dass ich mir nichts merken kann."
"Du darfst dich dafür nicht hassen. Es ist nicht deine Schuld. Wer weiß, was dieses Dilemma ausgelöst hat. Du warst es mit Sicherheit nicht."
"Wie können Sie sich da so sicher sein. Ich erinnere mich ja nicht daran, wie alles angefangen hat."
"Das ist richtig. Nur, wie willst du absichtlich bei dir eine Amnesie auslösen. Das geht gar nicht. Amnesien werden immer von außen ausgelöst. Dadurch, dass du etwas auf den Kopf bekommen hast. Ein Schock, der dein Gehirn dazu veranlasst, diese und alle anderen Erinnerung zu vergraben, die nicht gut für dich sind. Auch ein Tumor könnte möglich sein. Das lässt sich allerdings in unserem Lazarett feststellen. Aber genau diese Ereignisse erzeugen einen Erinnerungsverlust. Nicht du."
Ihre Stimme war so weich und zärtlich, dass Neniu gewillt war ihr alles zu glauben. Sie war aber auch so weich und zärtlich, dass sie ihn einschlafen ließ.
Im Lazarett angekommen wurde er in einen Rollstuhl gesetzt, mit dem man ihn zur ersten Untersuchung fuhr. Ezar erklärte der Ärztin alles, was sie über Neniu, seine Verletzungen und sein geistiges Problem wusste. Die Frau versprach ihr, sich um jede Einzelheit zu kümmern und sie auf dem Laufenden zu halten. Als erstes untersuchte sie die offene, vereiterte Wunde am Rücken. Es bedurfte keiner großen Bedenkzeit zu entscheiden, den Jungen in Narkose zu versetzen. Die Ärztin meinte, man müsste einiges von den Wundrändern entfernen und den Rest ausgiebig sterilisieren. Das würde sehr schmerzhaft werden. Danach wollte sie noch während der Narkose den Oberkörper scannen und wenn nötig Knochenbrüche oder anderes operieren. Zum Schluss nahm sie sich den Kopf vor, auf der Suche nach einem eventuellen Tumor, der seine Erinnerungen beeinträchtigen könnte. Doch derartiges war nicht festzustellen.
Stunden später kam die Ärztin auf Ezar zu. Mit Erleichterung konnte sie ihr berichten, dass alle Operationen gut verlaufen waren. Der Junge blieb jetzt noch einige Tage zur Beobachtung. Dann konnte er entlassen werden, wenn nicht noch etwas sich ereignen sollte. Ezar war sehr zufrieden mit dieser Entwicklung. Auch wenn sie ihn nicht kannte, tat ihr der Junge Leid. Hoffentlich konnte Tandra ihm helfen. Zumindest konnte sie ihm eine feste Unterkunft bieten.