Читать книгу Renaissance 2.0 - Christian Jesch - Страница 12
Kapitel 10
ОглавлениеNach dem Gespräch mit seinem Freund ging Neniu zu seiner eigenen Räumlichkeit, in der er untergebracht war. Lange dachte der Junge über das nach, was passiert war. Warum hatten die Proteqtoren ein solches Interesse an ihm? Vorausgesetzt, er war der Junge, für den ihn jetzt schon zwei dieser Männer gehalten hatten. Der Teenie musste unbedingt in Erfahrung bringen, wen die ProTeq offensichtlich so angestrengt suchte, dass sie immer wieder auf ihn zurückkamen. Eine Sache war vollkommen schlüssig. Dieser Junge musste etwas verbrochen haben. Sonst würde man sich nicht bemühen, ihn zu finden. Das wiederum würde bedeuten, wenn er dieser Gesuchte war, was hatte er dann angestellt? Zu diesen Gedanken kamen immer mehr hinzu, die sich wie ein Wirbelsturm in seinem Gehirn ausbreiteten und alles mitrissen, was noch vorhanden war. Seine Gefühle schwankten zwischen Neugier, Angst, Wut über sein Vergessen, Hilflosigkeit bis hin zu dem Wunsche, alle dem ein Ende zu setzen. Schwermütig stand Neniu von seinem Bett auf. Mit ausdruckslosem Gesicht, ohne etwas wahrzunehmen, bewegte er sich zum Hauptausgang. Einige der Jugendlichen grüßten ihn, doch seine Reaktion darauf war gleich null.
"Hey, Neniu. Alles in Ordnung?", fragte ein junges Mädchen nach, mit dem er bereits einigen Kontakt gehabt hatte. Der Junge sah kurz zu ihr herüber, senkte dann wieder wortlos den Kopf und schlich weiter. Mara schaute ihm besorgt nach. So kannte sie ihn gar nicht. Schließlich folgte sie Neniu in einem etwas größeren Abstand. Dabei beobachtete das Mädchen ihn genau.
Neniu blieb für einen kleinen Moment stehen, wendete sich dann zu einem der Fenster, an denen er vorbeigegangen war, um sich dann einem von ihnen zu nähern. Er stützte die Stirn gegen das Glas und sah nach Draußen. Der Teenie fühlte sich elend. Nach einiger Zeit drehte sich Neniu wieder um, ohne dass sein Kopf den Kontakt zur Scheibe verlor. Dann rutschte er mit dem Rücken an der Wand runter, bis er auf dem Boden zum Sitzen kam.
"Was ist denn mit unserem Neuen los?", wollte jemand von Mara wissen, die einige Meter weiter in einem Türrahmen lehnte. Sie konnte einfach nicht die Augen von ihm lassen. Nach und nach machte sich ein ungutes Gefühl in ihrem Magen breit.
"Keine Ahnung. Ich habe ihn vorhin angesprochen, aber er hat überhaupt nicht reagiert. Vielleicht sollten wir Tandra Bescheid geben."
"Ich weiß, wo sie ist. Bleib du bei ihm."
Mara stand wieder alleine da, mit dem Wunsch, Neniu zu helfen. Als sie einen Schritt auf ihn zu machte, stand der Teenie auf. Erneut ging er in Richtung Ausgang. Das junge Mädchen überlegte jetzt verzweifelt, was sie machen sollte. Warten, bis der Junge mit Tandra zurückkam, oder Neniu folgen und die Verbindung zu Tandra verlieren. Sie entschied sich für eine Zwischenlösung. Mit schnellen Schritten begab sie sich zu einem Fenster, von wo aus man den Ausgang beobachten konnte. So war es ihr möglich zu sehen, wohin der Junge lief. Gleichzeitig war der Platz nicht so weit entfernt von dem Türrahmen, indem sie kurz zuvor noch gestanden hatte.
"Was ist mit Neniu?" Tandra war wenige Minuten später bei dem Mädchen eingetroffen, das immer noch am Fenster stand. Den Jungen hatte sie schon längst aus den Augen verloren.
"Ich habe ihn vorhin begrüßt, doch er reagierte überhaupt nicht. So als wäre er gar nicht da. Neniu hat sich wie einer dieser Verseuchten aus dem Krieg benommen."
"Das stimmt", pflichtete der Junge an Tandras Seite Mara bei. "Als wäre sein Gehirn völlig gelöscht."
"Ich will hoffen, dass das nicht der Fall ist", murmelte Tandra vor sich hin. Auf der einen Seite hielt sie es zwar für unwahrscheinlich. Auf der anderen Seite hatte sie aber auch nicht die geringste Ahnung, warum Nenius Gedächtnis sich so verhielt.
"Hast du gesehen, wo der Junge hingegangen ist, Mara?"
"Ja. Er ist die Straße dort entlang gegangen. Das war vor einigen Minuten."
"Schnell, Kaendra. Stell einen Trupp zusammen. Wir müssen Neniu finden und dürfen ihn dann nicht mehr aus den Augen lassen. Ich gehe mit Mara schon einmal los. Du weißt, wie du mich erreichen kannst." Tandra fasste dem jungen Mädchen unter den Arm und schob sie zum Hauptausgang.
Im Laufschritt versuchten die beiden den Teenie einzuholen. Als sie an der ersten Abzweigung ankamen, war nichts von ihm zu sehen. Aus dem Bauch heraus und weil es nur eine kleine Nebenstraße war, entschied sie sich weiter geradeaus zu gehen. Auch die nächsten zwei Nebenstraßen ließ sie außer Acht. An dem nächstgrößeren Verkehrsweg angekommen, wurden ihre Entscheidungen belohnt. In einer Straße, die schräg links vor ihnen lag, schlurfte eine zusammengekrümmte Person über den wenig bevölkerten Gehweg. Bevor die beiden an dem Punkt angekommen waren, wo sie Neniu gesehen hatten, meldete sich Kaendra bei ihr. Tandra gab ihm ihren derzeitigen Standort durch und in welche Richtung sie gingen. Mara machte weit ausladende Schritte, um näher an den Jungen heranzukommen, doch Tandra hielt sie davon ab.
"Wir dürfen ihn nicht auf uns aufmerksam machen. Ansonsten versucht er noch uns abzuhängen."
"Das ist mir klar, Tandra. Aber fällt dir nicht etwas auf?" Tandra schaute genauer hin zu dem Jungen vor ihnen.
"Ich verstehe nicht. Was meinst du?"
"Der Junge vor uns geht nicht langsam, er hat eine Behinderung." Tandra erkannte, dass Mara vollkommen recht hatte. Sofort kontaktierte sie Kaendra, um ihm mitzuteilen, dass sie nicht zu ihr aufschließen, sondern in der näheren Umgebung nach ihm suchen sollten. Danach stellte sie sich die Frage, was diese Gegebenheit bei Neniu ausgelöst haben könnte. Tandra versuchte mit Logik herauszubekommen, wohin der Teenie vielleicht gehen würde. Den Schock mit dem versteinerten Decem hatte er schnell überwunden. Als ihm die Jugendlichen erzählten, sie hätte die Statue im Riss zum Süd-West-Flügel versenkt, lächelte er schon wieder. Die Welt war wieder in Ordnung. Was konnte ihn nur so aus der Bahn geworfen haben? Tandra überlegte, was übrig blieb, wenn sie den versteinerten Proteqtor bei Seite ließ.
"Was ist jetzt?", unterbrach Mara ihre Gedanken. "Wollen wir hier stehen bleiben und warten, ob er vielleicht vorbeikommt?"
"Natürlich nicht", antwortete die Leiterin des Wohnheims. "Ich muss überlegen, wo Neniu möglicherweise hingehen will."
"Wie willst du das machen?", wollte Mara mit einem fragenden Blick auf sie wissen.
"Ich muss darüber nachdenken, was passiert ist, bevor diese Gemütswandlung bei ihm stattgefunden hat."
"Das wissen wir doch alle. Der Proteqtor wollte ihn mit in die Zentrale nehmen. Mal wieder."
"Was meinst du mit, mal wieder?"
"Weißt du das nicht? Da gab es doch schon einen Proteqtor, der ihn mitnehmen wollte."
"Daran konnte er sich erinnern?", fragte Tandra überrascht.
"Ja. Allerdings nur daran. Was danach passierte, hatte er schon wieder vergessen. Er sagte nur noch, es gäbe wohl zwei von ihm."
Tandra verfiel in Schweigen, während sie die neue Information überdachte. Wenn er jetzt möglicherweise Angst davor hatte, die Proteqtoren könnten ihn erneut aufgreifen… Doch warum sollte er dann von dort weglaufen, wo er sicher war? Es gäbe zwei von ihm. Eventuell hatte sich Neniu auf die Suche nach dem anderen gemacht. Dann war es hoffnungslos zu glauben, ihn ausfindig zu machen. Unter diesen Umständen könnte er sonst wo in der Stadt sein. Die Alternative zu diesem Gedanken, überlegte Tandra jetzt, wäre, dass er sich doch für die gesuchte Person hält. Und dann… Tandra riss die Augen auf.
"Was ist?" Mara hatte die Veränderung im Gesicht der Frau mitbekommen.
"Stell dir mal vor, Neniu wäre zu der Vermutung gekommen, er wäre wirklich die Person, nach der gesucht wird. Wo würde er hingehen?"
"Zur ProTeq, natürlich. Um sich Klarheit zu verschaffen."
"Richtig."
"Das müssen wir verhindern, Tandra. Das überlebt der Junge nicht."
"Kaendra. Schick deine Freunde alle in die Straßen, die zur ProTeq führen. Es sieht so aus, als wollte Neniu dort hin." Noch bevor eine Bestätigung von dem Jugendlichen kam, rannten Mara und Tandra auf dem kürzesten Weg zum Gebäude der Firma.
"Was sollen wir machen, wenn wir ihn gefunden haben", meldete sich Kaendra plötzlich bei Tandra.
"Macht gar nichts. Beobachtet ihn nur. Wir sind in wenigen Minuten bei der ProTeq. Dann sehen wir weiter."
"Was wollen wir denn machen, wenn er dort ankommt?", wollte unerwartet das junge Mädchen an Tandras Seite wissen.
"Ganz ehrlich, Mara? Ich habe keine Ahnung. In einem solchen Umstand war ich noch nie. Ich kann nur hoffen, dass er nicht wegrennt, wenn er uns sieht." Und ich hoffe, ich kann mich zusammennehmen, wenn ich einen von diesen Kerlen sehe, dachte sie noch für sich hin. Erst das, was diese Tiere ihrer Familie angetan hatten und dann auch noch dieses hier. Die Kinder und Jugendlichen waren zu ihrer zweiten Familie für sie geworden. Ganz besonders der Junge ohne Gedächtnis.
Sie erreichten das Gebäude lange Zeit vor dem Teenie. Durch Kaendra ließ sie sich immer wieder auf den neuesten Stand bringe, wo sich der Junge gerade befand. Das gab ihr Zeit, darüber nachzudenken, was sie machen sollte. Tandra spielte mehrere unterschiedliche Variationen im Kopf durch. Keine von ihnen brachte ein befriedigendes Ende. Dann war es soweit.
Der Junge tauchte etwa hundert Meter weiter unten auf der Straße auf. Aus einem Gefühl heraus schickte Tandra das Mädchen vor. Sie solle nur auf ihn zu gehen. Mit etwas Glück würde er auf sie ansprechen. Und wenn nicht, dann war es wenigstens einen Versuch wert gewesen. Tandra war verzweifelt. Sie wollte so gerne jedem Menschen helfen, sein Leben glücklich zu leben. Doch dieses Mal musste sie erkennen, dass ihr Vorhaben auch Grenzen hatte. Wenn Neniu nicht wollte, musste sie ihn gehen lassen. Unabhängig davon, was dann mit ihm passieren würde. Wie durch einen Schleier sah sie, dass der Junge stehen geblieben war, als er Mara erkannte. Zu gerne hätte sie gewusst, was die beiden in diesem Augenblick miteinander sprachen. Dann kamen sie gemeinsam auf die Leiterin des Wohnheims zu. Er blieb unsicher stehen. Nicht wissend, was er tun sollte. Der Teenie schaute Mara Hilfe suchend an. Doch der fiel nur ein, ihn in den Arm zu nehmen. Das verwirrte ihn um so mehr. Aber der Junge ließ sie gewähren. Im Geiste wägte er ab, was in diesem Fall das Richtige wäre.
"Wenn ich der Gesuchte bin,...", sagte er plötzlich in Maras Ohr, "...dann werden sie mich einsperren. Und wenn nicht. Werden sie mich dann gehen lassen? Muss ich überhaupt wissen? Ich erinnere mich doch sowieso an nichts."
"Du musst gar nichts", flüsterte Mara zurück. "Doch. Du musst eins", korrigierte sie sich "Du musst überleben. Wie wir alle."
Tandra war in den letzten Sekunden langsam näher gekommen und hatte einen Teil der Worte mitbekommen. Abwartend blieb sie bei den beiden stehen. Nachdem Mara ihn wieder freigegeben hatte, wendete sie sich an Neniu.
"Wenn du wissen willst, wer du bist, versuche ich dir zu helfen, so gut ich kann. Ich habe auf dem Weg hierher viel darüber nachgedacht. Es gibt einen Therapeuten, den ich sehr gut kenne. Er hat einigen Veteranen aus dem Krieg geholfen. Naja, genaugenommen kennt Kaziir ihn. Wenn es dir vielleicht hilft, können wir ihn besuchen. Ich werde dir nichts versprechen. Das wäre vollkommen falsch. Aber ich verspreche dir, ich werde mich so gut ich es eben kann um dich sorgen."
"Glaubst du, du kannst mir helfen?", fragte Neniu überraschend.
"Mir ist klar geworden, ich kann nicht jedem ein glückliches Leben bereiten. Doch ich kann vor Ort sein, wenn jemand mich braucht. Oft bedarf es nur eines anderen Blickwinkels, um die Lösung für ein Problem zu finden. Manchmal gibt es auch keine Lösung, sondern nur eine Linderung. Auch das kann bereits helfen. Zu mir hat mal jemand gesagt: 'Am Ende ist alles gut. Und ist es nicht gut, so ist es noch nicht das Ende.' Klingt für mich wie ein guter Wahlspruch. Einen, den man sich merken sollte." Neniu lachte kurz auf.
"Merken. Ich? Du bist gut. Kennen wir uns?" Tandra blickte ihn erschrocken an.
"Nun guck nicht so entsetzt, Tandra. Natürlich erinner ich mich an dich."