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Kapitel 5

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Fünf Tage später holte Ezar ihn aus dem Hospital ab. Die Ärzte waren sehr zufrieden mit der Heilung seiner Wunden. Nur was sein Erinnerungsvermögen anging, konnten sie ihm nicht helfen. Zumindest hatten sie keinen Tumor feststellen können, der für das Problem zuständig gewesen wäre. Ezar war darüber erleichtert. Es wäre ihr zwar lieber gewesen, wenn man Neniu durch eine Operation hätte helfen können, doch auf der anderen Seite ist ein Eingriff im Bereich des Gehirns immer mit einem Risiko verbunden, welches weitaus schlimmere Auswirkungen nach sich ziehen konnte. Dafür sah der Junge besser aus. Sein Gesicht war nicht mehr eingefallen. Auch der Rest seines Körpers wirkte gestärkt. Offensichtlich hatte Neniu die Ruhe und das Essen gut getan. Trotz allem war es für den Teenie eine schwere Zeit, da er ständig neu daran erinnert werden musste, wo er sich befand und dass man ihm nur helfen wollte. Ezar gegenüber war er sehr zurückhaltend, als sie ihn abholte. Die Ärztin versuchte Neniu zu erklären, dass sie sich bereits kannten. Doch das waren nur Wort, die ihn nicht überzeugen konnten. Er blieb bei seinem gesunden Misstrauen, welches ihm seiner Meinung nach ein Überleben sicherte.

"Guten Morgen, Tandra", rief Ezar durch den großen Raum, als sie die schlanke Figur der Rothaarigen am anderen Ende wahr nahm. Die junge Frau drehte sich überrascht um. Offensichtlich hatte sie diesen Besuch nicht erwartet.

"Ezar", rief sie überschwänglich und eilte zu der Renegatenärztin herüber. "Dich habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen. Was machst du hier?"

"Ich habe eine Bitte an dich", dabei deutete sie auf Neniu, der unsicher neben ihr stand und sich die neue Umgebung betrachtete. Man konnte sehen, dass ihm nicht ganz wohl bei der Sache war. Unzählige Jugendliche und Kinder liefen hier durcheinander, saßen gemeinsam an Tischen, aßen und tranken. Keiner von ihnen beachtete den leicht zusammengekrümmten Teenie an Ezars Seite. Als wäre er nicht da. Neniu schaute hoch und bemerkte, dass die Frau mit dem Namen Tandra ihn musterte. Er starrte abwartend zurück. Nicht sicher, was im nächsten Moment kommen würde.

"Du brauchst nicht schüchtern sein", sprach Tandra ihn jetzt direkt an. "Ich verstehe, dass dies alles hier neu für dich ist. Aber du wirst dich schon sehr bald daran gewöhnen. Für deine Erinnerungslücken werden wir uns etwas einfallen lassen, damit du hier besser klar kommst." Während sie sprach, lächelte sie ihn zuversichtlich an. Ein falsches oder ein echtes Lächeln, dachte sich Neniu. Die Tage im Krankenhaus hatten dem Teenie gutgetan. Er hatte an Zuversicht und auch an Selbstvertrauen gewonnen. Auch wenn ihn immer wieder die Erinnerungen verließen, Neniu wusste, dass er sich auch wehren konnte, wenn es sein musste. Er fühlte sich kräftiger als zuvor und das gab ihm Mut.

"Was genau ist das hier?", fragte er Tandra mit fester Stimme.

"Das ist eine Art Wohnheim, welches ich seit einiger Zeit leite. Früher war dies ein Möbelhaus. Aus irgendeinem Grund wurde es dann verlassen. Aber die Möbel blieben hier. Somit hat jeder, der hier lebt ein Bett, einen Schrank und diverse andere Dinge, die man braucht."

"Wie viele leben in diesem Wohnheim?"

"Ehrlich gesagt habe ich den Überblick ein wenig verloren. Es kommen immer wieder welche dazu. Andere wiederum müssen gehen."

"Müssen gehen", wiederholte Neniu fragend.

"Ja. Es gibt hier eine ganz besondere Regel, wenn man hier leben will. Errege niemals die Aufmerksamkeit der Proteqtoren. Ich will keinen Ärger mit denen. Da verliert man immer. Wenn ich daher jemanden erwische, der sich sein Geld mit Drogen, Einbrüchen oder anderen Straftaten verdient, übergebe ich denjenigen den Proteqtoren. Dafür lassen Sie mich und das Wohnheim in Ruhe."

"Kommt das oft vor?"

"Nicht mehr. Anfangs dachten einige von ihnen, Sie könnten mich austricksen. Mittlerweile hat es sich herumgesprochen, dass dem nicht so ist. Bei dir brauche ich mir solche Gedanken nicht machen. Da bin ich mir ziemlich sicher." Erneut lächelte sie Neniu an. Erneut lief ihm ein Schauer über den Rücken. Ihm wurde deutlich, dass Ezar ihn hier lassen würde. Der Junge beschloss das Beste aus der Situation zu machen und jederzeit wachsam zu sein. Bei der kleinsten Andeutung würde er reagieren. Wenn Neniu das Wort Paranoia gekannt hätte, wäre ihm sein Zustand bekannt gewesen. Tandra schlug ihm vor, sich erst einmal im Wohnheim umzusehen, während sie sich noch mit Ezar unterhalten wollte.

Ziellos bewegte er sich in den Räumlichkeiten umher, wobei er von den meisten Bewohnern mit einem freundlichen 'Hallo' begrüßt wurde. Dieser Umstand brachte ihn in eine Zwickmühle. Wollten ihn die Bewohner in Sicherheit wiegen oder waren die Begrüßungen wirklich freundlich und ehrlich gemeint? Neniu konnte sich nicht entscheiden. Ein weiteres Dilemma bahnte sich bei ihm an. Er hatte nun nicht nur das Problem, sich nicht erinnern zu können. Er hatte auch die Schwierigkeit, ob er den Menschen trauen konnte. Während er weiter durch die Räume streifte, wurde dem Teenie immer mehr eins klar. Er wurde langsam verrückt. Vielleicht war er das schon seit seiner Ankunft. Plötzlich überkam ihn das Gefühl von Enge. Die anderen Jugendlichen schienen sich immer näher um ihn zu drängen. Neniu hatte das Empfinden, alle würden auf einmal auf ihn einreden. Sein Blick wurde schwammig. Dann knickten ihm die Beine weg. Den Aufprall merkte er schon nicht mehr.

Die Bewohner in seiner Nähe erkannten sofort, was passiert war. Während einige ihn zu einem Bett trugen, auf das sie ihn legten, lief ein Junge zu Tandra und Ezar, die wenige Minuten später eintrafen. In der Zeit, in der Tandra die Jugendlichen befragte, was denn passiert war, untersuchte Ezar den Teenager. Schnell gab sie Entwarnung. Neniu war zumindestens äußerlich nichts geschehen. Warum er allerdings ohnmächtig geworden war, darauf hatte sie keine Antwort. Sie mussten warten, bis er wieder wach wurde. Die jugendlichen Bewohner erzählten Tandra, wie Neniu durch die Räume gewandert sei, als wäre dort niemand, außer ihm. Auch habe er auf ihre freundlichen Begrüßungen und Fragen nicht reagiert. Ein junges Mädchen ergänzte noch, Neniu habe ziemlich bleich im Gesicht ausgesehen.

"Was hältst du davon Ezar?", wendete sich Tandra an ihre Freundin.

"Es wäre möglich, dass er dieses Möbelhaus kennt oder es die Erinnerung an ein anderes Haus geweckt hat. Etwas, das ihm Angst macht. Oder mit dem er schlechte Dinge verbindet. Aber das ist nur eine Vermutung aus dem Bauch heraus. Es gibt noch viele andere Gründe, die zu so einer Ohnmacht führen. Wir müssen wirklich abwarten, bis er wieder bei sich ist."

"Was kannst du mir noch über ihn sagen, außer dass er sich nur wenige Stunden zurückerinnern kann?"

"Nichts weiter. Wir haben keinen Anhaltspunkt, wo er herkam oder ob er schon immer hier gelebt hat. Seine Erinnerung begann damit, dass ein Proteqtor ihn aus der Menge gezogen hat. Dann sagte er noch etwas davon, der Proteqtor hätte Neniu mit einer Beschreibung verglichen und ihn deswegen mitgenommen."

"Eine Personenbeschreibung meinst du?", wollte Tandra jetzt erschreckt wissen.

"Nehme ich mal an."

"Das bedeutet, er ist den Proteqtoren bekannt?", ergänzte Tandra ihre erste Frage.

"Oder auch nicht. Das ist es eben. Neniu hat mir gesagt, dieser Proteqtor wäre sich nicht sicher, ob die Beschreibung zu ihm gehört. Es kann also auch eine Verwechslung sein."

"Der Junge hat dir aber nicht sagen können, zu was diese Personenbeschreibung gehört?"

"Du meinst, ob diese Person an einem Anschlag oder etwas anderem beteiligt war?", fragte Ezar nach. Tandra nickte. "Nein, das hat der Proteqtor ihm nicht gesagt. Möglicherweise war es auch nur die Suchanzeige besorgter Eltern, denen das Kind weggelaufen ist oder gar entführt wurde." Tandra nickte erneut, diesmal nachdenklich. "Ganz ehrlich, denkst du wirklich, der arme Kerl könnte irgend etwas mit Mord und Totschlag zu tun haben?"

"Solange ich nichts Genaues über ihn weiß, ziehe ich alles in Betracht. Was aber nicht bedeutet, ich würde ihn hier nicht aufnehmen. Ich werde nur ein strenges Auge auf ihn haben. Ich denke, du als Ärztin weißt am besten, dass Menschen die ihre Erinnerungen verlieren, nicht immer eine harmlose Vorgeschichte haben."

"Damit hast du vollkommen recht. Auf der anderen Seite ist das jedoch eher die Ausnahme. Ich bin mir sicher, Neniu wird dir nicht die Bude in die Luft jagen."

"Was glaubst du, wo er all diese Verwundungen her hat?"

"Jetzt hör aber auf, Tandra. Er ist mit absoluter Sicherheit kein Spezialagent der Regierung. Ich kann es dir nicht genau sagen. Der blutunterlaufene Striemen auf seiner Brust deutet auf irgendetwas Hartes hin, auf das er möglicherweise gefallen ist. Die Knochenhaut darunter war jedenfalls stark entzündet."

"Oder er wurde mit einem harten Gegenstand geschlagen."

"Auch das ist möglich." Ezar schaute Tandra in die Augen. Was sie dort sah veranlasste sie dazu weiter auszuholen. "Und nein, ich glaube nicht, das dies in einem Kampf gegen Renegaten oder andere Widerständler passiert ist. Er ist viel zu jung, um für die Regierung zu arbeiten."

"Kennst du die Regierung so gut?", fragte Tandra provozierend.

"Jetzt werd nicht paranoid. Du wirst sehen, Neniu ist nur ein Opfer. Die anderen Wunden deuten darauf hin, dass er in eine Schlägerei verwickelt war. Wer weiß schon in welchen Gegenden der Stadt er sich befunden hat. Viele von den Jugendlichen auf der Straße halten zusammen und verteidigen ihr Revier gegen Eindringlinge." Ezar machte bei dem letzten Wort mit dem Zeige- und Mittelfinger beider Hände Anführungsstriche in die Luft. "Wenn du nicht weißt, wo du bist, läuft man mit Sicherheit schnell mal in die Fänge von denen."

"Vermutlich hast du recht. Wahrscheinlich bin ich paranoid. Seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, ist viel passiert. Ich bin sehr, sehr vorsichtig geworden."

"Was ist denn passiert?" wollte Ezar jetzt mit neugierigen Blicken wissen.

"Ich habe das Gefühl, dass mir auch eine Erinnerung fehlt."

"Wie kommst du darauf?"

"Ich hatte vor längerer Zeit einen Traum, der sehr real erschien."

Tandra wurde durch das Stöhnen von Neniu unterbrochen, der langsam wieder zu sich kam. Die beiden Frauen begaben sich zu ihm. Ezar beobachtet den Teenie dabei sehr genau. Es fiel ihr jedoch nichts Außergewöhnliches auf. Auch gab Neniu kein Wort von sich, das einen Hinweis bieten konnte. Schließlich öffnete er die Augen. Überrascht und verwirrt schaute er in die Gesichter der beiden Älteren.

"Ist was passiert?", fragte Neniu ungläubig.

"Du bist durch das Wohnheim gelaufen und plötzlich ohnmächtig geworden. Kannst du dich an irgendetwas erinnern?" Ezar sah ihn auffordernd an.

"Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube…" Er brach kurz ab, um nachzudenken, wie er das formulieren sollte. "Ich glaube, ich hatte Angst vor dem hier."

"Kannst du das genauer benennen?", fragte Tandra.

"Ich bin mir einfach unsicher, was andere Menschen angeht. Ich traue niemandem. Und dann diese vielen…". Er deutete mit der Hand zu den Bewohnern. "Sie haben mich alle so freundlich begrüßt. Als würden wir uns schon lange kennen. Das hat mich panisch gemacht."

"So etwas nennt man eine temporäre Soziophobie. Das ist die Angst vor anderen Menschen, besonders, wenn sie in großer Anzahl auftreten."

"Und warum ist das nicht passiert, als er in der Menschenmenge stand, aus der ihn der Proteqtor geholt hat?" Neniu horchte auf. Tandra brachte ihm ein Bruchstück seiner Vergangenheit zurück, an das er sich nicht erinnern konnte.

"Darauf kann ich dir keine Antwort geben", gab die Ärztin mit bedauernder Mine zu. "Dazu musst du einen Psychologen befragen. Das ist nicht mehr mein Fachgebiet."

"Hast du eventuell etwas gesehen, das dich an einen anderen Ort erinnert hat. Möglicherweise an einen Ort, mit dem du etwas Negatives verbindest?", fragte Tandra mit sanfter Stimme.

"Ich denke nicht. Es tut mir leid, dass ich Ihnen so viel Mühe mache", wendete Neniu sich an Tandra.

"Das ist schon in Ordnung. Du bist nicht der Erste, der sich hier eingewöhnen muss. Da gab es schon ganz andere Härtefälle. Komm mit. Ich möchte dir jemanden vorstellen. Ich könnte mir vorstellen, dass ihr euch versteht." Sie gingen alle drei durch die scheinbar endlosen Gänge des Wohnheims, bis sie endlich auf einen schmächtigen, schüchternen Jungen trafen.

"Ich möchte dir Thevog vorstellen. Er lebt schon seit einigen Monaten hier. Und er hat ein ähnliches Problem, wie du. Nur, dass er nicht ständig aufs Neue vergisst. Er kann sich an viele Dinge erinnern, bis zu einem gewissen Punkt. Ab da ist vollkommene Leere. Vielleicht bringt euch diese Gemeinsamkeit etwas näher." Tandra legte Neniu und Thevog die Hände auf die Schultern. "Thevog. Würdest du dich bitte um unseren Neuzugang ein bisschen kümmern? Dafür wäre ich dir sehr dankbar. Du musst wissen…", fing Tandra den Satz an.

"...dass ich immer nur die letzten paar Stunden in Erinnerung habe. Vielleicht hast du eine Idee, wie ich mich an dich erinnern kann", beendete Neniu die Einführung. Thevog nickte.

Renaissance 2.0

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