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Kapitel 12
ОглавлениеNach einem weiteren Gespräch zwischen Neniu und den Ärzten erklärte sich der Junge bereit, am nächsten Tag erneut zu kommen und sich weiter untersuchen zu lassen. An der Haustür verabschiedete sich die Gruppe dankbar bei Doktor Deivo und seinem Kollegen, bevor sie sich auf den Rückweg machten. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen.
Kaziir verspürte einen leichten Luftzug, der an ihrem linken Ohr vorbeizog. Instinktiv schrie sie 'Deckung' und wollte sich fallen lassen. Allerdings fehlte ihr dazu die Möglichkeit. Etwas zog ihr den Boden unter den Füßen weg. Ihre Beine knickten ein wie zwei Streichhölzer, die in der Mitte zerbrachen. Irgendwo im Rücken fühlte Kaziir etwas, wie den Einstich einer Spritze. Dann schlug sie mit voller Wucht auf dem Boden auf. Ein glühend heißer Schmerz schoss durch ihre Handgelenke, als die Renegatenanführerin versuchte ihren Fall durch Abstützen zu bremsen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht bemühte sie sich auf die Knie zu kommen, um dann in Deckung zu gelangen. Kaziir wollte ihre Beine anziehen, die sich jedoch nicht mehr befehligen ließen. So sehr sie es auch versuchte, sie hatte keine Kontrolle mehr über ihren unteren Körper.
Erneut schlug ein Projektil in der Mauer des Hauses ein. Diesmal zwischen Kaziir und Tandra, die sich sofort nach dem Ausruf ihrer Schwester hatte auf die Straße fallen lassen. Verzweifelt blickte sie zu ihr herüber. Es dauerte nur Sekunden, bis sie begriff, dass mit Kaziir etwas nicht stimmte. Ihre Versuche, den Körper aus der Schusslinie zu bringen, bestanden lediglich darin, auf Händen und Armen sich davon zu schleifen. Tandra sprang auf, um ihrer Schwester zu Hilfe zu eilen.
Im selben Augenblick sprang auch Neniu auf, um in die andere Richtung zu rennen. Tandra war in einem Zwiespalt. Sie machte erste Schritte in Richtung Kaziir, bevor sie sich um entschloss, Neniu einholte und wieder auf den Asphalt warf.
"Was hast du vor?", brüllte sie den Jungen an.
"Was wohl?", antwortete dieser aggressiv. "Ich will hier weg."
"Und wohin willst du? Verdammt, such dir eine Deckung und warte. Hast du mich verstanden?" Tandra wurde wütend über das egoistische Verhalten des Teenie. Erneut schaute sie zu der Renegatin herüber. Sie lag immer noch an derselben Stelle. "Wir müssen erst Kaziir helfen, dann kannst du wegrennen. Hast du das kapiert?"
Neniu schaute erst Tandra, dann die Renegatenanführerin unsicher an. Wie sollte er ihnen helfen? Er war weder kugelsicher noch besonders schnell. Wieder einmal schlug eine Kugel ein. Diesmal nicht unweit von Tandra und Neniu. Dann eine vierte und eine fünfte. Langsam wurde auch Tandra deutlich, dass sie unter diesem Beschuss nichts ausmachen konnten. Ein letztes Mal schaute sie zu ihrer Schwester, die mittlerweile mithilfe von Doktor Deivo ins Haus gebracht wurde. Erleichtert und gleichzeitig hoffnungslos wendete sie sich vom Schauplatz ab, um mit Neniu in Richtung der Innenstadt zu fliehen. Wenn sie doch nur wüsste, was Kaziir passiert war. Warum hatte sie sich nicht so schnell wie möglich in Sicherheit gebracht?
Doktor Deivo hatte seinen Kollegen aus dem Nachbarhaus gerufen, der bereits beim ersten Schuss durch die Verbindungstür zur Straße hin gelaufen war. Als jedoch die weiteren Projektile einschlugen, bevorzugte er es doch, zunächst an der Haustür von Deivo abzuwarten. Erst das hektische Winken und Rufen seines Kollegen brachte ihn dazu, auf die Straße zu treten. Schnell erkannte auch er, dass mit der Frau etwas nicht stimmte. Sie versuchte sich kriechend umzudrehen und hinter die ein Meter zwanzig hohe Mauer des kleinen Vorgartens zu kommen. Kaziir erschien ihm wie ein Wurm, der vor einem großen Vogel flüchtete und doch nicht schnell genug war.
"Nun kommen Sie schon", schrie Doktor Deivo seinem Kollegen zu. "Wir müssen sie ins Haus bekommen. Beeilen Sie sich."
"Ist gut", rief Kasan zurück. "Ich komme schon." Ängstlich blickte der Mann die Straße noch einmal nach rechts und links hinunter, dann stieß er sich mit den Armen vom Türrahmen ab und rannte auf Deivo zu. Der hatte sich bereits zu Kaziir gesellt und befragte sie.
"Was ist mit ihnen?"
"Irgendwie gehorchen meine Beine mir nicht mehr. Ich verstehe das nicht."
Doktor Deivo schaute über ihren Rücken zu den unteren Extremitäten. Er war nicht imstande auf den ersten Blick einen Grund dafür zu erkennen, warum die junge Frau diese nicht bewegen konnte. Ihm fiel nichts Ungewöhnliches auf. Endlich erreichte sein Kollege ihn. Das Scharfschützenfeuer hatte sich mittlerweile verlagert. Besorgt hielt er nach seinen zwei anderen Besuchern Ausschau. Die lagen einige Meter entfernt auf dem Asphalt und schauten zu ihnen hinüber. Deivo schickte Kasan zurück in seine Praxis, aus der der Mann eine Trage holen sollte. Nur wenig später hoben sie die bewusstlose Frau auf diese und trugen sie langsam, jede Erschütterung vermeidend, in die Praxis von Doktor Kasan. Deivo schaute ein letztes Mal nach den anderen beiden, die gerade um die Ecke seines Grundstückes verschwanden.
"Was zur Hölle war da Draußen los?", platzte es unerwartet aus Kasan heraus.
"Ich kann es ihnen nicht sagen, werter Kollege."
"Ich weiß nicht, ob ich ihnen in dieser Sache helfen möchte. Das scheinen mir einige gefährliche Leute zu sein, mit denen Sie sich da umgeben."
"Kasan, ich kannte diese Menschen bis heute auch nicht. Sie haben mich lediglich darum gebeten, dem Jungen bei seinen Erinnerungen zu helfen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie irgendetwas verbrochen haben. Und abgesehen davon, spielt das in diesem Fall…", dabei deutete er auf Kaziir, "...keine Rolle. Sie sind Arzt und müssen dieser Frau helfen." Sein Kollege stöhnte innerlich auf, nickte dann aber zustimmend. Deivo hatte ja recht. Dieser dumme Ärzteschwur. Im Krieg hatte er auch Soldaten des Feindes wieder zusammengeflickt, obwohl es ihm gegen den Strich gegangen war. Und die Frau war noch nicht einmal ein Soldat. Sie war eine Zivilistin. Möglicherweise galt der Anschlag noch nicht einmal ihr. Vielleicht gehörte sie sogar zu den Guten und es waren diejenigen, die geschossen haben, denen er nicht helfen durfte. Genauso musste es sein. Mit neuer Zuversicht machte sich der Arzt an die Arbeit.
Bevor sie Kaziir umdrehten, wollte Doktor Kasan erst einmal sicher sein, dass nicht irgendetwas an ihrem Rücken der Grund für die Lähmung war. Mit einer großen, beleuchteten Lupe, die über dem Operationstisch, auf dem die Renegatin jetzt lag, angebracht war, betrachtete er jeden Zentimeter. Schließlich stockte der Arzt an einer Stelle kurz über dem Becken. Dort war etwas in ihrer Kleidung. Im ersten Moment dachte Kasan, es wäre einfach nur Dreck, der an ihrem Oberhemd klebte. Bedingt dadurch, dass sie auf die Straße gefallen war. Doch dann erkannter er, dass sich dieser Dreck scheinbar durch die Bekleidung gebohrt hatte. Vorsichtig zog er den Saum des Hemdes aus dem Hosenbund, um dann unter den Stoff zu sehen. Der kleine, scharfe Stein hatte den Stoff sauber durchtrennt und war dann in den Rücken eingedrungen. Direkt am Rückgrat. Kasan hatte eine Ahnung, was passiert war.
"Und?", fragte sein Kollege nervös. "Was sehen Sie?"
"So wie es aussieht, ist ein scharfer, flacher Steinsplitter in die Haut nahe dem Rückgrat eingedrungen. Möglicherweise wurden dadurch einige Nerven in Mitleidenschaft gezogen oder gar durchtrennt."
"Können Sie das wieder in Ordnung bringen?", ertönte plötzlich die Stimme von Kaziir.
"Das ist alles andere als einfach", erwiderte Kasan. "Mir stehen nicht die möglichen Mittel zur Verfügung. Ich muss sie in ein Krankenhaus bringen lassen."
"Das geht nicht", antwortete Kaziir mühsam. "Ich habe schon seit Jahren keine Krankenkassenbeiträge mehr gezahlt. Zu teuer." Sie drehte mühsam den Kopf und versuchte ein Lächeln zu imitieren.
Kasan gab ihr mit demselben mühsamen, schrägen Lächeln zu verstehen, dass er das sehr witzig fand. Dann wurde er wieder schnell ernst. Mit der gleichen Art Humor, wie Kaziir, fordert er sie auf, nicht wegzugehen. Er wäre sofort wieder da. Mit einem mühsamen Daumen hoch gab die Renegatin zu verstehen, dass sie ihn verstanden hat.
"Was ist da vor meinem Haus passiert?", wollte Doktor Deivo jetzt mit Nachdruck wissen, nachdem sein Kollege in einem der hinteren Räume verschwunden war.
"Das würde ich auch gerne verstehen. Normalerweise schießt man nicht auf mich."
"Und wie sieht das mit ihren Begleitern aus. Sind die vielleicht…", weiter kam er nicht, bevor Kaziir ihn unterbrach.
"Tandra? Sie leitet eine Art Wohnheim für Straßenkinder. Warum sollte jemand sie umbringen wollen? Und Neniu. Nun, da kann ich wirklich nichts zu sagen. Über ihn weiß ich eben soviel, wie Sie heute erfahren haben. Es ist bedauerlich, dass wir nicht über seinen Ankunftstag hinaus gekommen sind. Allerdings muss ich zu seiner Verteidigung sagen, wenn er das Ziel war, dann war der Killer ein lausiger Schütze."
"Damit hätten Sie allerdings dann recht." Deivo rief sich das Bild der Verabschiedung noch einmal ins Gedächtnis zurück. Ganz rechts die junge Frau, die jetzt vor ihm auf dem OP lag, in der Mitte die andere und ganz links der Junge. Trotzdem. Der Junge war der einzige aus der Gruppe, von dem man nichts mit Sicherheit sagen konnte. Und dann noch diese Gehirnaktivitäten. Dieser Unbekannte war ein endloses Rätsel. Angenommen, andere wussten auch von seinen Abnormalitäten. Wer hätte dann ein Interesse an ihm? Die Regierung? Die ProTeq? Oder waren es vielleicht sogar die Renegaten, die in ihm eine Art Waffe für deren Zwecke sahen?
"Worüber denken Sie nach?", unterbrach Kasan sein Grübeln.
"Ich denke über den Jungen nach. Ist schon merkwürdig, dass wir so gar nichts über ihn wissen."
"Denken Sie, er wäre eine Gefahr?", mischte sich jetzt Kaziir ein.
"Entweder ist er eine Gefahr oder er ist in Gefahr", philosophierte Doktor Deivo vor sich hin.
"Oder beides", gab Kasan konsterniert zu bedenken.
"Das werden wir erst dann herausfinden, wenn wir über den Tag seiner Ankunft hinaus in seinem Kopf wieder Ordnung gebracht haben", gab Kaziir zu bedenken. Auf einmal wurde ihr bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, wo Tandra und Neniu waren. Erschrocken schoss es ihr durch den Kopf, dass die zwei Männer weder den einen noch die andere erwähnt hatten.
"Was ist mit den beiden?", fragte sie aufgeregt und versuchte sich dabei aufzustützen.
"Bleiben Sie ruhig und vor allem bleiben Sie liegen, sonst verschlimmern sie ihre körperliche Situation nur noch mehr. Und dann kann ich ihnen überhaupt nicht mehr helfen." Behutsam drückte Kasan die Renegatin wieder auf den OP-Tisch runter. "Wir wissen nicht, wo sich die beiden zurzeit aufhalten. Ich kann ihnen nur sagen, dass Sie offensichtlich noch leben, soweit wir das sagen können. Zumindest…", Doktor Kasan stockte einen Augenblick, während er überlegte, wie er das folgende möglichst taktvoll benennen konnte, "...haben wir nichts gefunden, was dem widerspricht."
"Ich habe gesehen, wie der Junge und die Frau um die nächste Ecke verschwunden sind", bekräftigte Deivo. "Ich kann gerne nachsehen, ob sich danach noch etwas entwickelt hat", bot er dann auch noch Kaziir an.
"Machen Sie das, Kollege. Ich habe hier die nächsten paar Stunden alle Hände voll zu tun, diese junge Dame notdürftig zusammenzuschustern. Das hier ist ein etwas älteres Modul zur Nervenstimulation, welches ich gefunden habe", fuhr er an Kaziir gewandt fort. "Damit werde ich versuchen die geschädigten Nervenbahnen erneut zusammenzufügen. Allerdings muss ich Sie auch gleich vorwarnen. Wenn das funktioniert, mit meinen bescheidenen Mitteln, dann heißt das nicht, Sie können wieder wie vorher durch die Gegend laufen. Es wird einiges an Zeit kosten, bis Sie sich wieder halbwegs normal fortbewegen können. Tut mir sehr leid. Aber mehr kann ich für Sie leider nicht machen."
"Das geht schon in Ordnung, Dok. Machen Sie mich erst einmal so weit fit, wie Sie können. Den Rest mache ich dann schon. Allerdings muss ich Sie darauf aufmerksam machen, dass ich auch Sie genauso wenig bezahlen kann wie ein Krankenhaus."
"Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Das hatte ich auch nicht erwartet. Sie haben nur Glück, dass heute mein Ruhetag ist. Ansonsten würde mein Wartezimmer bis oben hin voll mit Patienten sein."