Читать книгу Renaissance 2.0 - Christian Jesch - Страница 15
Kapitel 13
Оглавление"Halt! Warte." Tandra griff nach Nenius Hand. Der Junge stoppte und sah sie auffordernd an.
"Was?", fragte er etwas lauter, als er eigentlich wollte. Dabei schaute Neniu ihr tief in die Augen. Der Teenie ahnte schon, was jetzt kommen würde.
"Ich kann das nicht. Ich muss sofort zurück."
"Nein!", bestimmte Neniu. "Das musst du nicht. Das einzige, was du musst, ist überleben. Kaziir wird gut versorgt. Du hast selber gesehen, wie die zwei Ärzte sie ins Haus gebracht haben. Sie lebt. Und das musst du auch."
Tandra war überrascht, dass der Junge mit solchem Nachdruck reagierte. Vor allem war seine Argumentation überzeugend. Etwas, dass sie nicht erwartet hatte. Neniu schien vollkommen ausgewechselt. Aus dem schüchternen, zurückhaltenden Jugendlichen war unerwartet ein selbstsicherer junger Mann geworden. Erstaunt über seine Worte und sein Verhalten vergaß Tandra für einen Augenblick, was ihr eben noch wichtiger als alles andere war. Sie nickte, ohne es selber zu wollen.
"Siehst du? Wir werden zu einem späteren Zeitpunkt zu ihr zurückkehren, wenn wir sicher sind. Für den Moment ist es einfach zu gefährlich, dem Attentäter in die Arme zu laufen. Wir haben ihm nichts entgegenzusetzen."
"Ich habe verstanden", unterbrach sie ihn. "Ich werde nicht umkehren. Ins Wohnheim können wir aber auch nicht. Ich gehe davon aus, dass sie wissen, wo wir leben. Also werden sie dort auf uns warten. Wir müssen uns eine neue Behausung suchen. Zumindest für eine Weile."
"Hast du eine Idee?", fragte Neniu, jetzt wieder in einem normalen Tonfall. Tandra überlegte einige Sekunden. Der Junge konnte ihr ansehen, dass sie mit irgendetwas in ihrem Inneren haderte. Trotzdem er unbedingt wissen wollte, was sie so hartnäckig schweigen ließ, drängte er sie nicht.
"Bevor ich das Wohnheim übernommen habe, lebte ich mit einer Gruppe Malsata in einem heruntergekommenen Firmenhochhaus, nahe der Innenstadt. Damals war es sicher dort. Ich habe keine Ahnung, wie das heute ist. Oder ob die Malsata mich noch kennen. Sofern sie noch dort leben." Erneut verfiel sie in Schweigen. Neniu betrachtete die junge Frau mit Interesse. Er sah sie jetzt mit anderen Augen. Nach einigen Minuten wendete sich der Teenie dann an sie.
"Sollen wir uns gemeinsam auf die Suche machen?", fragte er fast schon zärtlich
"Nein", erwiderte sie, aufgeschreckt aus ihren Gedanken.
"Warum…?", weiter kam er nicht.
"Wenn wir dort unterkommen wollen, muss ich zunächst allein dort hin. Die Leute dort waren schon damals sehr eigen. Fremde wollten sie nicht in ihrer Gruppe haben."
"Und wie bist du dann zu ihnen gelangt?", unterbrach Neniu sie.
"Ich kann mich nicht mehr erinnern. Irgendetwas muss wohl passiert sein, dass sie mich akzeptiert haben. Sie waren alle sehr misstrauisch. Und ich später auch. Daran kann ich mich deutlich erinnern. Aber wie ich zu ihnen kam. Keine Ahnung."
"Dann solltest du vielleicht erst einmal alleine dort hingehen. Ich kann ja mitkommen und in einigem Abstand warten, bis alles geklärt ist."
Tandra dachte einige Zeit über seine Worte nach. Wenn sie ihn mitnahm, musste er einige Blocks weit entfernt auf sie warten. Die junge Frau erinnerte sich noch lebhaft daran, wie sie selbst als Späherin für die Gruppe stundenlang auf einem Posten war und die Umgebung sondierte. Kamen Fremde in ihre Nähe, wurden sie gemeldet, überprüft und nur bei einer eindeutig positiven Beurteilung durchgelassen. Andernfalls verschwanden diese auf ungeklärte Weise. Sie überlegte sehr lange, bis sie endlich Neniu zustimmte. Gemeinsam machten sich die beiden auf den Weg Richtung nördlicher Innenstadt. Nach mehreren Stunden hielt Tandra dann an und gab ihm die Anweisung an diesem Ort auf sie zu warten.
Neniu schaute sich konzentriert um. Hier im modernen Zentrum der Stadt wimmelte es nur so von Betonbauten mit auffälliger Verglasung. Die Menschen drängten sich aneinander vorbei. Auf der Straße verlief der Verkehr ein wenig reibungsloser. Tandra brauchte etwas länger, bis sie die Straße zwischen den Autos überquert hatte. Ein letztes Mal schaute sie sich nach dem Jungen um, bevor sie dann von der Masse verschluckt wurde. Jetzt war er auf sich allein gestellt.
Tandra wusste zwar noch, wie das Gebäude ausgesehen hatte, wo es jedoch genau lag, konnte sie nicht mehr sagen. Immer wieder glaubte sie Dinge, Häuser und Plätze wiederzuerkennen. Trotzdem irrte sie mehr durch die Straßen, als dass sie wirklich eine Ahnung hatte, wo es lang ging. Schließlich erreichte sie einen größeren Platz, auf dem sie einige baufällige und unbewohnte Hochhäuser entdeckte. Einige Objekte sagten ihr, dass sie diesen Anblick kannte. Dann bemerkte Tandra das Symbol einer der Firmen, die hier einmal ansässig waren, über einem der Eingänge. Dies war genau das Symbol, welches sie sich damals zu eigen gemacht hatten. Fest entschlossen schritt sie darauf zu. Immer wachsam die Umgebung beobachtend. Doch nichts passierte. Keine Späher. Niemand, der sie ansprach oder aufhielt. Ihre Schritte wurden langsamer, dann verharrte sie. Unsicher sah sich Tandra um. Nichts war so, wie damals. Wie das, woran sie sich erinnerte. Dafür gab es nur eine Begründung. Die Gruppe hatte die Zuflucht verlassen.
Die junge Frau überlegte kurz, ob sie zurückgehen und Neniu sofort nachholen sollte. Sie entschloss sich dagegen. Es konnten möglicherweise andere das Gebäude für sich beanspruchen. Dann wäre es nicht so gut, ungefragt einfach einzudringen. Vorsichtig näherte sie sich dem Eingang und betrat das Hochhaus. In der vierten Ebene war damals ihre Heimat gewesen. Langsam stieg sie die Treppen hinauf. Alles war voller Staub und Dreck. Nicht so wie früher, als die Gruppe ihren Wohnort noch sauber gehalten hatte. Im vierten Stock angekommen, erkannte sie sofort alles wieder. Es war eine Ebene mit einem großen, offenen Raum, der nur durch einige kurze Betonwände unterteilt war. Sogar die alten Schreibtische und Computer waren noch vorhanden. Neugierig versuchte sie einen von ihnen einzuschalten. Natürlich reagierte der PC nicht. Vermutlich war das Gebäude bereits vor langer Zeit vom Netz genommen. Wie lange war es her, dass sie diesen Ort verlassen hatte? Und warum eigentlich? Tandra dachte kurz nach. Da sie seit etwas mehr als drei Jahren das Wohnheim leitete, musste sie auch ungefähr so lange von hier weg sein. Oder länger. Warum sie diesen Ort allerdings verlassen hatte, konnte sie nicht herausfinden.
In einer der hinteren Ecken, dort wo, so glaubte Tandra wenigstens, früher ihr Schlafplatz war, lag eine Decke unter einem der Fenster. Sie ging darauf zu, da sie glaubte, diese Decke wiederzuerkennen. Als sie das Stück Stoff anheben wollte, bewegte sich etwas darunter. Plötzlich kam Bewegung in das Textil und ein Messer schoss auf sie zu. Überrascht wich Tandra aus, sprang auf, um dann schnell einige Schritte zurückzuweichen. Ein Mädchen, vielleicht zwei oder drei Jahre jünger als sie, kam zum Vorschein.
"Was willst du von mir?"; fragte sie angriffslustig. In ihren Augen war keine Furcht, nur Willenskraft.
"Entschuldige, bitte. Ich wusste nicht, dass hier jemand lebt. Ich wollte dir nichts antun."
"Und warum wolltest du mir die Decke stehlen?"
"Das war mal meine Decke", erwiderte Tandra jetzt wieder ruhig. "Ich habe hier bis vor etwa drei, vier Jahren gelebt und genau an dieser Stelle unter dieser Decke geschlafen."
"Das soll ich dir glauben? Mit Sicherheit nicht. Ich lebe seit acht Jahren hier. Außer mir, hat es hier nie jemand anderen gegeben."
"Das kann nicht sein", konterte Tandra. "Ich habe hier mit einer ganzen Gruppe von Menschen gelebt. Viele Jahre."
"Glaubst du, ich bin nicht ganz bei Verstand. Ich weiß doch wohl, was ich die letzten Jahre hier gemacht habe. Wenn das stimmt, was du sagst, dann bist du im falschen Haus."
"Das bin ich nicht. Das Symbol über der Tür ist dasselbe wie damals." Das Mädchen verstummte kurz, während sie nachdachte und das Messer langsam sinken ließ.
"Wie ist dein Name?", beendete Tandra die Stille.
"Mein Name? Warum willst du das wissen?" Das Messer zuckte erneut hoch und zeigte direkt auf Tandras Brust. Langsam und sehr vorsichtig stand das Mädchen auf, ließ die Decke fallen, die sie dann mit dem Fuß hinter sich schob. Mit der zweiten Hand umschlang sie nun ebenfalls den Griff der Klinge. Wie ein Schwert hielt sie die Waffe vor sich. "Warum willst du meinen Namen wissen?", wiederholte sie.
"Ich bin Tandra", war ihre Antwort auf die Frage.
"Ich weiß…"
"Du weißt meinen Namen", sagte Tandra erstaunt.
"Ich weiß nicht, warum du mir deinen nennst. Ich kenne dich nicht. Warum also sagst du mir deinen Namen?", korrigierte das Mädchen seinen Satz. Tandra stand völlig verwirrt in der Mitte des Raumes. Was war nur mit diesem Mädchen los? Sie tat gerade so, als ob man jemanden mit seinem eigenen Namen umbringen könnte.
"Pass auf. Ich bin nicht von der Regierung oder der ProTeq. Wenn du dich hier versteckst, weil du etwas angestellt hast, interessiert mich das nicht. Ich suche nur für mich und einen Freund eine sichere Unterkunft."
"Sicher?", unterbrach das Mädchen. "Warum sicher? Erkläre mir das."
"Du bist wirklich schwierig", bemerkte sie, bevor sie weiter sprach. "Heute Morgen wurde auf mich, meine Schwester und einen Freund geschossen. Wir wissen nicht, wer dahinter steckt. Wir wollen nur irgendwo unerkannt unterkommen, damit etwas Zeit vergeht." Schlagartig ließ das Mädchen das Messer sinken. Sie legte es sogar zu Tandras Überraschung weg, um dann einige Schritte auf die junge Frau zuzugehen. Jetzt schlugen bei Tandra die Alarmglocken an. Was hatte das zu bedeuten? Sie beobachtete jede einzelne Bewegung ihres Gegenübers, was diese bemerkte. Auf einmal blieb sie stehen, machte zwei Schritte zurück und erklärte, ihr Name sei Bathe.
"Es tut mir leid, dass auf dich und deine Freunde geschossen wurde. Ist jemand verletzt worden?" Tandra blickte sie unentschlossen und überrascht an.
"Meine Schwester wurde getroffen." Das Mädchen machte große Augen. "Sie ist zusammengeklappt und auf dem Boden liegen geblieben." Das Mädchen zog hastig Luft ein, dann hielt sie sich die Hand vor den halb geöffneten Mund. "Ich weiß nicht genau, was mit ihr ist. Zwei Ärzte haben sie dann aus der Gefahrenzone geholt. Ich hoffe, sie können ihr helfen." Das Mädchen atmete tief aus. Dann schaute sie Tandra ins Gesicht.
"Das tut mir sehr leid für dich."
Tandra hatte die Reaktionen des Mädchens auf das von ihr Gesagte nicht übersehen. Sie schienen ihr ein wenig übertrieben. Fast könnte man glauben, Bathe wusste, von wem sie gesprochen hatte. Doch das war unmöglich. Oder sollte ihr Name doch so bekannt sein in der Stadt. Tandra, die Schwester der Renegatenanführerin von Nuhåven. Nein. Das konnte sie sich nicht vorstellen. Unter Renegaten ja, aber nicht bei anderen. Außer vielleicht bei der ProTeq? Tandra betrachtete sich das Mädchen genau, nahm sie Stück für Stück auseinander. Am Ende kam sie dann doch zu dem Schluss, dass Bathe nichts aufwies, was sie zu einer Proteqtorin machen würde. Trotzdem beschloss sie, überaus aufmerksam zu sein, was das Mädchen anging. Ein Gefühl in ihrer Magengegend sagte ihr, Bathe war keine gewöhnliche Jugendliche. Irgendetwas stimmte mit ihr nicht.
Gemeinsam setzten sie sich unter das Fenster auf Bathes Decke. Die Frauen berichteten sich gegenseitig über die Zeit, die sie an diesem Ort verbracht hatten. Dabei widersprach Bathe allem, was Tandra erzählte. Wenn Tandra wirklich vor drei oder vier Jahren erst von diesem Ort weggegangen sei, dann hätten die beiden einige Jahre hier zusammen gelebt. Und dem war nicht so. Bathe bestand darauf, dass sie seit mehr als acht Jahren in diesem Haus, auf dieser Ebene lebt und dass weder über noch unter ihr jemals eine Gruppe Malsata existierte.
"Ich weiß nichts über die Firma, der das Haus früher gehört hat. Vielleicht haben sie ja in der Nähe noch ein anderes Gebäude besessen. Das würde erklären, warum du glaubst, dies wäre der richtige Ort."
Tandra hatte während ihres ausführlichen Gespräches immer wieder die Blicke durch den Raum schweifen lassen. Sie konnte nicht glauben, dies wäre der falsche Platz. Alles passte viel zu perfekt zu ihren Erinnerungen, die zwar leicht verschwommen waren und doch so klar.
Es waren bereits mehrere Stunden vergangen, seit sich Tandra von ihm getrennt hatte. Langsam machte er sich Sorgen und fragte sich sogar, ob sie ihn ausgetrickst hatte und zu Kaziir zurückgegangen war. Zutrauen würde er das dieser starrköpfigen Frau. Sollte er nachsehen, ob er mit seiner Vermutung recht hatte? Nein. Die Gefahr, dem Schützen in die Arme zu laufen war ihm viel zu groß. Stattdessen versuchte er in der Masse zu verschwinden. Wie ein gewöhnlicher Passant hatte er sich auf eine Bank abseits der Straße gesetzt und gewartet. Keiner nahm ihn wirklich wahr. Manchmal setzte sich jemand zu ihm, um ihn dann einige Zeit später wieder zu verlassen. Niemand versuchte sich mit ihm zu unterhalten. Jeder war irgendwie in Eile. Selbst die, die sich zu ihm setzten.
Unbewusst erregte eine Person in der Menge seine Aufmerksamkeit. Mal war das Narbengesicht auf der gegenüberliegenden Straßenseite, dann tauchte er plötzlich einige Meter entfernt neben ihm auf und bestimmt stand er auch einige Male hinter ihm. Dieser Mann machte ihn nervös. Er schaute Neniu zwar nie direkt an, suchte aber immer seine Nähe. So als wollte er etwas von dem Jungen. Als Neniu von der Bank aufstand und ein paar Schritte machte, kam Bewegung in den Mann.