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Kapitel 14
ОглавлениеDas Narbengesicht mit dem langen, lederartigen Mantel auf der anderen Straßenseite musste mit ansehen, wie seine Zielperson sich langsam von ihm entfernte. Er war von der Bank am Park aufgestanden und bewegte sich jetzt links an diesem vorbei, zurück in südöstlicher Richtung. Der Mann schaute hektisch nach rechts und links, während er versuchte eine Lücke im Verkehr zu finden, die es ihm ermöglichte auf die Straße zu treten. Je weiter sich Neniu von ihm entfernte, desto aufgeregter wurde das Narbengesicht. Schließlich sah er keinen Ausweg mehr. Er zog seine Waffe, schoss auf das heranfahrende Auto und trat dann ohne weiter abzuwarten auf die Straße. Die Frau in dem Wagen erschrak bereits zu Tode, als sie die Waffe sah. Sofort trat sie auf die Bremse, während sie den Wagen an den Bordstein lenkte. Die Kugel durchschlug die Frontscheibe und blieb im Beifahrersitz stecken. Das Fahrzeug hinter ihr versuchte nach rechts auszuweichen, was zu einem Zusammenstoß mit einem entgegenkommenden Fahrer führte. Somit kam der gesamte Verkehr zum Erliegen. Der Mann sprang auf die Motorhaube des nachfolgenden Wagens, der auf seinen Vordermann aufgefahren war und sprintete dann los. Hinter ihm entstand ein lautes Hupkonzert, wilde Flüche wurden gebrüllt. Einer der Fahrer besaß sogar eine Waffe, mit der er jetzt auf den Hünen mehr als einmal schoss. Zwei der Kugeln trafen den Mann im Rücken, hielten ihn jedoch nicht von seinem Vorhaben ab.
Das Narbengesicht rannte quer über die Rasenanlage, während er im Blumenbeet eine Spur der Verwüstung zurückließ. Auf der anderen Seite der Parkanlage angekommen, suchte er nach dem Jungen, der in der Menge verschwunden war.
Neniu hatte sich zwischen eine Baumgruppe gestellt und beobachtet den Mann von dort aus. Allem Anschein nach hatte er ihn aus den Augen verloren. Der Hüne stand am Straßenrand. Er blickte den Gehweg rauf und runter. Die Waffe hielt er immer noch in der Hand. Offensichtlich war es ihm egal, dass jeder sie sehen konnte. Neniu vermutete, es würde sich bei der Person erneut um einen Proteqtor handeln, der auf ihn angesetzt war. Der Junge überlegte, was er als Nächstes machen sollte. Wenn er sich erneut unter die Passanten mischte, konnte er auf der anderen Seite vom Park die Straße überqueren, die der Mann lahm gelegt hatte. Allerdings musste er zusehen, dass er in der Menge wirklich unsichtbar wurde. Sonst könnte das Narbengesicht seinen Plan vereiteln und wiederholt Jagd auf ihn machen. Er ließ es darauf ankommen. Einen besseren Plan hatte der Teenie im Augenblick nicht zur Hand.
Der riesige Kerl schaute gerade zur andren Seite, als Neniu sich in die Passantenmenge gleiten ließ. Aus irgendeinem Grund entschloss der Riese sich jedoch, dieselbe Richtung einzuschlagen. Es war einfach dieses Gefühl das Richtige zu tun. Mit roher Gewalt kämpfte er sich durch die Menge nach Vorne, was ihm eine Menge an Beschwerden einbrachte. Mit der Waffe in der Hand stieß er immer wieder Männer und Frauen zur Seite, um schneller voran zu kommen. Eine Frau kreischte auf, als sie bemerkte, dass der Grobian eine Vollautomatik hielt. Sofort brach Panik aus. Die Menschen stürmten auseinander, was dem Mann einen besseren Blick nach Vorne ermöglichte. Die Menge löste sich soweit auf, dass sie den Blick auf Neniu freigab.
Neniu hörte von weiter hinten einen hohen Schrei. "Der Mann hat eine Waffe!", rief sie laut. Plötzlich kam Bewegung in die Reihen. Er spürte förmlich, wie die Passanten sich hinter ihm, wie ein sich öffnender Reißverschluss, teilten. Ihm wurde deutlich, es konnten nur noch Sekunden sein, bis er für den Proteqtor sichtbar wurde. Zusammen mit einigen andren Passanten stürmte er nach links, auf die Straße. Erneut quietschten Bremsen, erklangen die Hupen und wurden Flüche ausgestoßen. Doch all das wurde sehr schnell im Keim erstickt, als der Mann wie wild in Nenius Richtung feuerte. Dass er einige Menschen aus der Menge verletzte, schien ihm dabei vollkommen egal zu sein. Der Junge warf sich zwischen die stehenden Fahrzeuge und versuchte in geduckter Haltung seinen Aufenthaltsort zu verlagern. Bei einem der Wagen öffnete er die hintere Tür, kroch über die Rücksitze zur anderen Seite, um das Fahrzeug dort wieder zu verlassen. Der Fahrer bekam von all dem nichts mit, da er zu beschäftigt war, den Irren mit der Schusswaffe im Auge zu behalten. Auf der vom Park gegenüberliegenden Straßenseite angekommen, schlich sich Neniu in die nächstbeste Abzweigung, die sich ihm bot. Im Schatten einer der Häuser dort angekommen, stand der Junge auf und rannte, so schnell er konnte.
Beinahe hätte der Hüne den Jungen übersehen, der dort aufgesprungen war. Sein Fehler war es gewesen, sich noch einmal nach seinem Angreifer umzusehen. Dadurch erkannte der Mann, dass es seine Zielperson war, die sich dort aus dem Staub machen wollte. Wie bereits beim ersten Mal sprang der Mann auf Motorhauben, Dächer und Kofferräume, um so die Blockade, die er verursacht hatte, zu überwinden.
"Stehen bleiben!", schrie der Hüne den Jungen an. Offensichtlich hatte er jedoch keine positive Reaktion erwartet, denn er eröffnete sofort das Feuer. Nach weiteren drei Kugeln, die allesamt ihr Ziel verfehlten, musste das Narbengesicht sein Magazin wechseln. Diese Sekunden der Unachtsamkeit nutzte sein Opfer einmal mehr die Richtung zu wechseln und in einer Nebenstraße zu verschwinden.
Neniu rannte einige hundert Meter weiter, bevor er sich in einer zurückgesetzten Hausnische versteckte, hinter der sich ein Lüftungsschacht befand, um dann endlich tief durchzuatmen. Mit den Händen auf den Oberschenkeln und den Oberkörper leicht nach Vorne gebeugt, versuchte er wieder Luft zu bekommen. Fieberhaft überlegte der Junge, wie er seinen Verfolger endlich loswerden konnte. Der Kerl war völlig verrückt. So wie es aussah, hatte er nicht die direkte Order, Neniu lebend abzuliefern. Er schaute vorsichtig aus seinem Versteck die Straße nach links herunter, von wo der Kerl auftauchen musste. Und da war er auch schon. Mit absoluter Sicherheit bog er zwischen den Häusern nach rechts in den Weg ein, den auch Neniu genommen hatte. Mit einem, wie es schien, zufriedenen Lächeln, blieb der Mann dann allerdings stehen. Er wartete. Der Teenie fragte sich, worauf das Narbengesicht wartete. Neniu folgte dem Blick des Mannes und schaute nach rechts. Jetzt verstand er. Dies war eine Sackgasse. Am Ende des breiten Weges stand ein verglastes Gebäude mit nur einem einzigen, kleinen Eingang. Es war ziemlich schattig hier, zwischen den hohen Häusern. Aber nicht dunkel genug, um einfach heimlich zu verschwinden. Er musste an diesem Monster vorbeikommen. Irgendwie. Der Junge entwickelte einen vollkommen irrwitzigen Plan, bei dem er genau wusste, er würde nicht funktionieren.
Gemütlich, als wäre er ein ganz normaler Passant, schlenderte er auf das Gebäude im hinteren Bereich des Weges zu. Vor der verglasten Fassade blieb er andächtig stehen und schaute in das Innere. Dabei betrachtete er die Spiegelung und wie sich der Mann ihm langsam näherte. Als er auf etwa fünfzig Meter heran war, drehte sich Neniu unerwartet um, rannte in geduckter Haltung auf den Riesen zu, schrie dabei, so laut er konnte, sodass die Umstehenden sich die Ohren zuhielten, und rammte den Kerl unterhalb seines Schwerpunktes. Das Narbengesicht rollte über seine rechte Schulter. Der Junge griff nach dessen Beine, umfasste sie und machte sich wieder gerade. Dann warf er ihn mit dem Schwung seiner Arme hinter sich. Ohne eine weitere Sekunde zu zögern, lief der Junge bis zur Straße, wo er sich ein letztes Mal umdrehte. Verwundert betrachtete er sich, was er dort angestellt hatte. Die meisten Menschen knieten rechts und links des Weges, mit ihren Händen an den Ohren, während der Hüne wie ein gefällter Baum auf dem Boden lag. War das wirklich er gewesen, fragte sich Neniu. Er konnte es immer noch nicht glauben, dass dieser waghalsige Plan funktioniert hatte. Er konnte es solange nicht glauben, bis der Proteqtor sich langsam fluchend erhob, während er sich nach dem Teenie umschaute.
Der Mann hatte nun wirklich mit allem gerechnet. Nur nicht damit. Diese hohe, kreischende Stimme, die er produziert hatte. Seine Ohren schmerzten noch immer von diesem Ton. Und dann noch diese Technik. Aber was war das? Er betrachtete die rote Flüssigkeit auf seinem Finger. Das war Blut. Er musste verdammt hart auf dem Asphalt aufgeschlagen sein, dachte der Mann. Die Schmerzen in seinem Rücken bestätigten diesen Verdacht. Trotzdem war es verwunderlich, dass Blut aus seinen Ohren lief. Der Riese versuchte sich umzudrehen, um nach dem Jungen zu sehen. Der stand am Ende des Weges. Scheinbar ebenso erstaunt wie das Narbengesicht. Trotz vieler Körperteile, die sich dagegen wehren wollten, stand er langsam wieder auf. Erst jetzt fiel ihm die plötzliche Stille auf. Verunsichert blickte er die anderen Menschen an. Auch sie bluteten teilweise aus den Ohren und oder Nasen. Während der grobe Kerl auf den Jungen zu stapfte, fragte er sich immer wieder, was da gerade passiert war. Warum er nichts mehr hören konnte. Und vor allem, was so besonders an dem Kind war. Nach und nach wurden seine Gedanken erneut klarer. Er hatte die halbe Strecke zu Neniu zurückgelegt, als dieser seine Fassung wiedergefunden hatte und losrannte.
Neniu wollte sein Glück nicht zu sehr strapazieren. Als der riesige Kerl die Hälfte der zwischen ihnen liegenden Strecke zurückgelegt hatte, wurde dem Teenie deutlich, dass es Zeit war, abzuhauen. Er lief die Straße herunter und entfernte sich immer weiter vom Park, wo er eigentlich auf Tandra hätte warten sollen. Doch was sollte er anderes machen. Er konnte nur versuchen, dem Mann zu entkommen. An eine Rückkehr zum vereinbarten Treffpunkt war jetzt nicht mehr zu denken. So wie es aussah, musste Neniu abermals alleine klar kommen. Möglicherweise konnte er zu einem späteren Zeitpunkt versuchen, Kontakt mit dem Wohnheim aufzunehmen. Aber auch das war kein sicherer Ort mehr für sie.
Ein Einschlag nicht weit von ihm brachte ihn in die Realität zurück. Erneut feuerte der Irre wie wild hinter dem Jungen her. Lange würde er das Davonlaufen nicht mehr durchhalten. Er war einfach nicht darin trainiert. Neniu musste sich etwas anderes überlegen, so schnell wie möglich Distanz zwischen sich und den Verrückten zu bringen.
In knapp zweihundert Meter Entfernung beobachtete der Teenie, wie jemand von seinem Motorrad abstieg, den Helm absetzte und gemächlich auf dem Sitz platziere. Noch steckte der Schlüssel. Neniu holte alles aus sich raus, schubste die Frau mit einem 'Entschuldigung' beiseite und sprang auf die Maschine, wobei er den Helm vom Sattel stieß. Noch bevor die Frau etwas sagen konnte, hatte er den Motor gestartet und den Ständer hochgeklappt. Mit Vollgas raste der Junge in den Verkehr, was beinahe schiefgegangen wäre. Neniu konnte dem Zusammenprall nur deswegen ausweichen, weil er geistesgegenwärtig wieder auf den Bürgersteig zurückkehrte, wo er einige Passanten verschreckte, bevor er dann endlich auf die Straße wechseln konnte. Der Verkehr war mäßig und langsam. Das Motorrad schoss auf dem Mittelstreifen an allem vorbei, was nicht schnell genug war. Die entgegenkommenden Fahrzeuge zogen automatisch nach rechts, wenn sie ihn ankommen sahen. Das Projektil, was ihn seitlich am Hinterkopf traf, prallte nach links ab und hinterließ umgehend starke Kopfschmerzen und das Gefühl, nicht mehr richtig sehen zu können.
Neniu hatte nicht die geringste Ahnung, wo diese Straße hinführte. Das war jedoch auch seine geringste Sorge. Auch die Frage, warum er überhaupt ein Motorrad fahren konnte, drängte sich nur für den Bruchteil einer Sekunde in seinen brummenden Schädel auf. Viel wichtiger war es im Augenblick, nicht das Bewusstsein zu verlieren und sich auf den Asphalt zu konzentrieren. Nach und nach wurden die anderen Fahrzeuge immer weniger. Der Junge sah alles nur noch durch einen Schleier, der sich immer enger zusammenzog. Er verringerte die Geschwindigkeit, um sich an den Kopf zu fassen. An der Stelle, die vor Schmerzen pochte, spürte er Feuchtigkeit und eine kleine, kahle Stelle. Sein Zustand ließ sich mit einem großen Gong vergleichen, der vor Sekunden mit voller Wucht geschlagen wurde und jetzt immer noch in seinem Kopf nachhallte. Die Gedankengänge von ihm wurden immer verwirrter. Ein- bis zweimal stieß er mit dem Reifen gegen den Bordstein.
Er hatte das Motorrad hinter einen großen, beweglichen Container geschoben, der es von der Straße aus unsichtbar machen sollte, sich dann auf ein paar Müllsäcke gelegt und versuchte zu ruhen. Neniu wusste nicht, wie lange er an diesem Ort verbracht hatte. Doch als er aufwachte, waren die Tageslampen der Biosphäre bereits abgeschaltet. Der Lärm einer Gruppe Jugendlicher hatte ihn geweckt. Sie kamen offensichtlich die Straße herunter, aus derselben Richtung, wie er einige Zeit zuvor. Sie schienen näher an ihn heranzukommen. Noch immer schmerzte sein Kopf wie Hölle. Und auch seine Sicht hatte sich nur geringfügig verbessert. Überhaupt hatte er das Gefühl, es würde ihm schlechter als vorher gehen. Eine Auseinandersetzung mit jugendlichen Straßenkindern war für ihn nicht drin. So schnell es in seinem Zustand zuließ, schob er die Maschine hinter dem Container hervor. Als er sich aufsetzte, drehte sich plötzlich die Welt vor seinen Augen. Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre mit dem schweren Motorrad umgefallen. Mit letzter Kraft startete er den Motor und fuhr auf die Straße zu. Jedenfalls hoffte Neniu dort, wo er hinsteuerte, den Asphalt zu finden, den er suchte.
Der Teenie war bereits längere Zeit unterwegs, als sich ein Gefühl von Freiheit bei ihm einstellte. Der Fahrtwind strich über seine Haut und machte ihn glücklich. Neniu ließ seine Gedanken schweben. Er war allein auf dieser Welt. Er war zufrieden. In die Dunkelheit vor seinen Augen mischten sich bunte Farben, die umeinander herumtanzten. Sie bildeten Formen, grazile Wesen aus einen anderen Zeit. Der Teenie lächelte über die Schönheit, die sich ihm hier offenbarte. Er stellte sich auf die Rasten und breitete die Arme aus.
Dann prallte die Maschine, über die er schon längst die Kontrolle verloren hatte, gegen einen Pfeiler und schleuderte ihn einige Meter weiter in den Wüstensand.