Читать книгу Der Erziehungsnotstand - Christian Nürnberger - Страница 12
BEDINGT GESELLSCHAFTSFÄHIG
ОглавлениеAls unser erstes Kind drei oder vier Jahre alt war, fiel uns zum ersten Mal auf: Viele Kinder werden heute nicht mehr erzogen. Sie haben keine Manieren. Sie sagen nicht bitte und danke, sie grüßen nicht, und sie schweigen nicht, wenn Erwachsene reden. Elementare Verhaltensweisen – still sitzen, längere Zeit aufmerksam zuhören, sich konzentriert allein beschäftigen, sich in eine Ecke verkriechen und versunken spielen – beherrschen sie nicht mehr.
Wenn wir mit Erwachsenen zusammensitzen und diese ihre Kinder dabeihaben, dann sind Gespräche häufig nicht mehr möglich, weil deren Kinder ihre Eltern keine fünf Minuten alleine lassen können. Alle zwei Minuten kommt ein Kind, um etwas zu fragen oder zu berichten oder etwas zu wollen. Jedes Mal klinkt sich die Mutter oder der Vater aus dem gerade laufenden Gespräch sofort aus, um ausführlich auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen. Dass eine Mutter oder ein Vater dem Kind still oder mit wenigen leisen Worten zu verstehen gibt, dass man jetzt gern dem gerade Sprechenden zuhören möchte, erleben wir nur in seltenen Fällen. Und genauso selten hören wir den Satz: «Unterbrich mich bitte nicht, wenn ich rede.»
Irgendwo schreit irgendein Kind, hat sich das Knie aufgeschlagen, fühlt sich vom kleinen Hund bedroht oder von der Katze, ist von einem anderen Kind geschubst worden oder darf nicht mitspielen. Und immer springt die zugehörige Mutter oder der Vater auf, um ihr Allerheiligstes wieder zu beruhigen, aber nur, um mit der Meldung zurückzukehren, dass gar nichts passiert sei.
Dann haben die Kinder Hunger. Oder Durst. Oder beides. Oder müssen aufs Klo. Die Kinder haben kurz zuvor Essen bekommen. Sie wissen, wo der Kühlschrank ist, sie wissen, wo das Klo ist. Sie haben das Kinderzimmer, den Garten, den Keller und das Dachgeschoss zur Verfügung. Es sind alle Voraussetzungen dafür gegeben, dass die Kinder sich jetzt mal zwei Stunden lang mit sich selbst beschäftigen und die Erwachsenen ungestört lassen. Aber ebendies geschieht nicht. Statt durch den Garten oder Keller toben sie durchs Wohnzimmer, wo die Erwachsenen sitzen. Statt sich selbst, beschäftigen sie die Erwachsenen. Viele Kinder sind heute nur noch bedingt gesellschaftsfähig.
Wer das öffentlich ausspricht, sich gar über ungezogene Kinder beschwert oder gegen die Belästigungen der kleinen Tyrannen verwahrt, der steht schnell in der kinderfeindlichen Ecke. Unsere Gesellschaft ist sehr kinderfreundlich geworden, kinderfreundlich bis zum Wahnsinn.
Den erlebt man zum Beispiel in jenem Chaos, das von Zeit zu Zeit als so genannter Familiengottesdienst über die Gläubigen zahlreicher Gemeinden hereinbricht. Weil ja Jesus Christus unser Herr bekanntlich gesagt hat, «lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht», dürfen die Kinder in der Kirche, während der Pfarrer predigt, in der Kirche herumstromern und durch fröhliches Krähen und Kreischen «Gott loben».
Das ist sympathisch. Warum aber der Pfarrer sich am Tag vorher die Mühe macht, eine Predigt auszuarbeiten, die am nächsten Tag im Lärm der fröhlichen Kindlein untergeht, gehört zu den neueren Mysterien des Glaubens. Vielleicht ist es ja gleichgültig, was der Pfarrer in so einem Familiengottesdienst sagt, aber warum sagt er dann überhaupt etwas?
Wir bewundern aufrichtig die Nervenstärke jener Eltern, die bei einer Rede oder einem Vortrag nach dem dritten störenden Geschrei ihres Babys oder dem Getobe ihrer größeren Kinder lieber einen vierten erfolglosen Beruhigungsversuch unternehmen als auf die Idee kommen, den Raum zu verlassen und die Kleinen draußen nach Herzenslust schreien und toben zu lassen.
Die Kinder können ja nichts dafür. Wenn wir ihnen nicht signalisieren: «Jetzt reicht’s», wie sollen sie dann wissen, wann es reicht? Wenn wir ihnen keine Grenzen setzen, woher sollen sie dann wissen, dass es Grenzen gibt? Kinder wollen von ihren Eltern gezeigt bekommen, wie weit sie gehen dürfen, deshalb testen sie ihre Grenzen ständig aus.
Wenn wir diese Tests ignorieren, wenn wir so tun, als gäbe es keine Grenzen, ziehen wir kleine Tyrannen heran, die nicht nur uns, sondern auch anderen Menschen auf die Nerven gehen. Wer will, dass sein Kind auch von anderen Menschen zumindest akzeptiert, wenn schon nicht gemocht oder gar geliebt wird, erzieht sein Kind so, dass es anderen leicht fällt, sein Kind nicht von vornherein abzulehnen.
Schon um unserer Kinder willen müssen wir ihnen Benimmregeln beibringen, Grenzen setzen, dieses und jenes verbieten. Letztlich sind die Kinder für die Begrenzung dankbar. Sie gewinnen Sicherheit und Selbstvertrauen, wenn wir ihnen sagen, wie sie sich in wiederkehrenden Situationen verhalten sollen.
Eigentlich ist das alles nichts Neues. «Kinder brauchen Grenzen» hat Jan Uwe Rogge schon 1993 in seinem gleichnamigen Bestseller geschrieben. Anscheinend ohne sichtbaren Erfolg. Im Frühjahr 2001 sah sich Kanzlergattin Doris Schröder-Köpf veranlasst, ebenfalls zu verlangen, dass Eltern ihre Kinder wieder erziehen. Sie erntete dafür Zustimmung und Lob, aber auch Kritik und Spott.
Es gibt also nicht einmal über Selbstverständlichkeiten einen Konsens in unserem Land. Offenbar versagt bei manchen Eltern auch der natürliche Selbstschutz, zu verhindern, dass die ständig wechselnden Bedürfnisse der Kinder ihr Leben diktieren.
Wir wundern uns daher schon lange, was Eltern alles so hinnehmen.
Wir unterhalten uns am Ende eines Kindernachmittags beim Sportverein mit einer Mutter, die soeben vier Stunden in sengender Hitze auf dem Sportplatz verbracht hat, um ihrem Achtjährigen bei seinen sportlichen Künsten zuzusehen, und diesem nun sagt, dass sie jetzt müde und hungrig sei und mit ihm nach Hause gehen wolle. Da flippt der Kleine aus, verlangt, dass sie noch so lange hier bleibe, bis auch er findet, es sei an der Zeit, nach Hause zu gehen, und als sie sich weigert, schreit er sie an, beschimpft sie, tritt mit dem Fuß nach ihr – und die Mutter reagiert nicht. Warum wehrt sie sich nicht? Wie kann es überhaupt so weit kommen, dass man sich seines Kindes erwehren muss?
Wir unterhalten uns am Ende eines Kindergeburtstags mit einer Bekannten. Deren fünfjährige Tochter ist darüber sehr erzürnt, will sofort nach Hause, mault, quengelt, stört die Unterhaltung, zieht ihre Mutter energisch am Rock, an der Hand und am Arm, und während der ganzen Zeit ignoriert die Mutter das Gezerre und versucht, sich weiter mit uns zu unterhalten, als ob nichts sei, kommt nicht ein einziges Mal auf die Idee, ihr Kind zur Ordnung zu rufen. Warum eigentlich nicht? Hat sie’s nie getan?
Wir sind zu Gast bei wohlhabenden Leuten und werden zufällig Zeugen, wie der zehnjährige Sohn sein polnisches Kindermädchen anherrscht und mit gebieterischer Geste aus seinem Kinderzimmer wirft. Die Eltern bekommen das mit und reagieren nicht. Wir kennen sie noch nicht lange, sind deshalb sehr höflich und vorsichtig und drücken mehr durch Mimik als durch Worte unser Erstaunen über das Verhalten dieses Zehnjährigen aus. Halten die Eltern das Benehmen ihres kleinen Herrenreiters für angemessen? Woher hat er das?
Wir haben mehrere Kinder zu Gast. Sie sitzen am reich gedeckten Tisch, und es sagt schon mal kein einziges Kind «danke». Dann wird alles genauestens inspiziert, und schließlich heißt es: Das mag ich nicht, und das schmeckt mir nicht, und das esse ich nicht, und was ist denn das für ein ekliges Zeug, und das mag ich schon gar nicht. Eine Stunde später brüllen die Kinder: Wir haben Hunger. Einige gehen ohne zu fragen an den Kühlschrank. Wird Kindern heutzutage nicht mehr beigebracht, dass es Essenszeiten gibt, und dazwischen nichts, jedenfalls nichts ohne Erlaubnis? Werden Kinder heute nicht mehr dazu angehalten, sich als Gast höflich zu benehmen und von den angebotenen Speisen auch dann zu essen, wenn es ihnen nicht so gut schmeckt? Versuchen Eltern schon gar nicht mehr, ihren Kindern beizubringen, dass es auch noch anderes gibt als Spaghetti, Hamburger, Pommes mit Ketchup, Eis und Cola?
Wir sitzen im Restaurant. Ein Gespräch kommt nicht in Gang, weil die Kinder vom Nebentisch lärmend durchs Restaurant toben und die Eltern wechselweise ihre Kinder zur Ordnung rufen müssen. Jeder Ordnungsruf bewirkt eine zweiminütige Stille, dann geht das Getobe wieder los, und das wiederholt sich fünf-, sechs- oder siebenmal. Irgendwann sagt der Vater: «Ich hab jetzt auch keine Lust, hier den Zirkusdirektor zu spielen.» Pech für die anderen Gäste im Lokal. Der Vater will jetzt leider seine Ruhe haben. Da muss eben die von den Kindern ausgehende Unruhe auf die anderen Gäste verteilt werden. Ist man schon kinderfeindlich, wenn man verlangt, im Restaurant nicht von lärmenden Kindern gestört zu werden?
Wir wollen unsere Kinder überall mit hinnehmen können, aber das setzt voraus, dass sie gesellschaftsfähig sind. Deshalb müssen wir sie dazu erziehen.
Natürlich fragen wir uns hin und wieder: Tun wir unseren Kindern eigentlich einen Gefallen, wenn wir sie lehren, Rücksicht auf andere zu üben, während diese rücksichtslos ihre Ellenbogen einsetzen und draußen der Konkurrenzkampf tobt? Torpedieren wir damit vielleicht die Lebenstüchtigkeit unserer Kinder? Muten wir ihnen zu viel zu, wenn wir sie dazu anhalten, höflich zu sein, gastfreundlich zu anderen Kindern zu sein und eigene Interessen hintanzustellen, während ringsherum die Rüpelhaftigkeit siegt? Dass Eltern sich solche Fragen stellen müssen, zeigt, wie es um die Erziehung steht.
Warum lernen viele Kinder heutzutage nicht mehr, bei Kindergeburtstagen nicht sich, sondern ihre Gäste in den Mittelpunkt zu stellen und dafür zu sorgen haben, dass es ihren Gästen gefällt? Nicht selten kommt unsere Tochter von einem Kindergeburtstag nach Hause und erzählt, dass es die ganze Zeit nur um das Geburtstagskind gegangen sei und die Mutter streng darauf geachtet habe, dass ihre Prinzessin bei der Tombola auch den Hauptgewinn bekommt.
Aber das mit den Prinzen und Prinzessinnen, das ist sowieso ein Kapitel für sich.