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VERWÖHNT

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Die Entscheidung für ein Kind ist zugleich die Entscheidung für Einschränkungen, Disziplin, Pflichten und Verzicht. Viele Kinder lebten glücklicher, wenn deren Eltern sich das bewusst machen und ihr Leben entsprechend ändern würden. Aber wie viel Betreuung braucht ein Kind? Wie viel Verzicht und Disziplin sind nötig, um ein Kind optimal zu fördern?

Viele sorgfältig planende und liebevoll vorausschauende Eltern sind erfüllt von ihrem «Projekt», manche so sehr, dass alles andere – die Freunde, der Job, das Interesse an Politik und Kultur, die ganze Umwelt – an den Rand oder ganz aus dem Leben verdrängt wird. Diese Eltern stecken in der Kinderbedürfnis-Spirale. Sie geraten hinein, ohne es zu merken, und viele kommen da nicht mehr heraus. Bis sie am Ende nur noch für ihr Kind leben und sich so an den Verzicht gewöhnt haben, dass sie diesen für einen Normalzustand halten.

Es beginnt gleich nach der Geburt. Überbesorgt eilen die jungen, unerfahrenen Eltern bei jedem Piepser zum Kind. Wir waren auch so, als unsere erste Tochter geboren wurde. Weil wir unsicher waren, ohne jede Erfahrung und misstrauisch gegenüber den Ratschlägen unserer Eltern.

Unsere Tochter ist vier Wochen alt und brüllt. Sie ist gerade gestillt worden, frisch gewickelt, hat zuvor geschlafen und müsste jetzt eigentlich gut drauf sein. Warum brüllt sie? Es gibt eben Schreikinder, sagt die Großmutter, und ihr habt eines, lasst es schreien.

Ist es wirklich so einfach?

Es könnte auch unter Blähungen leiden, sagt die Kinderärztin.

Blähungen, da haben wir es! Unser Kind leidet körperliche Qualen, und wir sollen es leiden und schreien lassen! Die Alten haben einfach keine Ahnung.

Unser Kind schreit, und der Vater eilt, um es zu trösten. Nimmt es aus seinem Bettchen, legt es sich auf den Bauch und streicht ihm über den Rücken. Jetzt ist es ruhig und zufrieden.

Monatelang hat der Vater das mehrmals und auch in der Nacht so gemacht. Manchmal half auch das nichts, dann hat er Johann Strauß aufgelegt und mit dem Kind im Arm Wiener Walzer getanzt. Das half fast immer. Rock und Pop kamen nicht so gut an. Wenn Tanzen nicht mehr half, hat er das Kind ins Auto gepackt und ist einmal um den Block gefahren. Dabei schlief es regelmäßig ein, wachte dann aber oft nach dem Einparken in der Tiefgarage wieder auf und brüllte erneut. Dann half das Bauch- und Walzerprogramm wieder. Was ebenso funktionierte: Stillen. Manchmal wurde das Kind fast im Stundentakt an die Brust gelegt.

Wir hatten tiefe Ringe unter den Augen zu jener Zeit. Vielen jungen Eltern ergeht es so, weil sie meinen, für das 24-stündige Wohlbehagen ihres Babys verantwortlich zu sein, und weil sie dessen Geschrei kaum länger als ein paar Minuten aushalten.

Heute wissen wir: Die nächtliche Anlegerei war unnötig. Wir haben damit auch nach vier Monaten aufgehört. Nach zahllosen Bauchtherapien, Walzertänzen, Häuserblockfahrten, durchwachten Nächten und unzähligen Tiefschlaf-Unterbrechungen meldete sich unser ganz normaler Selbsterhaltungstrieb, der uns eines Nachts sagte: Lass es schreien.

Es schrie vielleicht zehn Minuten lang, die uns vorkamen wie zwei Stunden, in denen wir Qualen litten. Aber danach schlief unsere Tochter. Und von da an immer, mit immer kürzerer Schreizeit.

«Wenn Kinder nicht schreien dürfen, Mütter pausenlos stillen, Kindern gar nicht die Chance gegeben wird, auch mal etwas lautstark herbeizusehnen und dabei die Mutterbrust oder Flasche zu imaginieren, dann beraubt man sie einer Erfahrung: dass es sich manchmal lohnt zu warten», sagt die Münchner Kinderärztin und Psychotherapeutin Marianne Sorg. »Man beraubt die Kinder der Erfahrung, dass es so etwas wie Zeit gibt, Pausen, Alleinsein, und dass zeitweise Frustrationen zum Leben gehören und ausgehalten werden müssen.« Das Phantasieren der Mutterbrust sei ein kreativer Prozess. Die ständige Soforterfüllung aller Bedürfnisse mache Kinder lebensuntüchtig und egozentrisch.

Dass Eltern am Anfang bei jedem Piepser ans Kinderbett eilen, ist normal. Danach scheiden sich die Eltern in solche, die mit der Zeit gelassener werden und zunehmend besser lernen, wann sie wirklich gefragt sind – und in solche, die auf der nach oben offenen Besorgtheitsskala stets im oberen Drittel in permanenter Einsatzbereitschaft verharren, auf jedes Wehwechen reagieren, jeden Laut registrieren und tief leiden, wenn das Baby mal eine Minute brüllt.

Wächst das Baby heran zum Kind, werden die Eltern keinesfalls ruhiger. Im Gegenteil. Das Kind muss jetzt beschützt werden vor tausend Gefahren, vor größeren Nachbarskindern, vor kleineren Kindern, vor Erwachsenen, vor Überanstrengung, vor Frust und vor Mühe. Muss das Kind zum Arzt, zerfließen die Eltern vor Mitleid, flehen den Arzt an, doch bitte vorsichtigst zu pieksen, und wenn das Kind dann brüllt, sagen sie nicht «sei tapfer, andere halten es auch aus», sondern trösten, trösten, trösten.

Solche Eltern geben immer nach, stehen keinen Konflikt durch, fürchten sich vor Liebesentzug durch das Kind und glauben ernsthaft, sie liebten ihr Kind, wenn sie ihm jeden Widerstand, an dem es wachsen könnte, aus dem Weg räumen. Man soll sein Kind zwar bedingungslos, aber nicht grenzenlos lieben. Die Folgen grenzenloser Liebe zeigen sich schon früh. Wenn ein Kind nicht gelernt hat, Frustrationen hinzunehmen, wird es bei geringsten Anlässen laut losbrüllen, vor Jähzorn um sich treten, auch mal grundlos seine Mutter in den Arm beißen oder seinen Vater anbrüllen.

Die Eltern, liebevoll und stets verzeihend, wie sie nun einmal sind, werden darauf, wie sie meinen, sehr gelassen und «vernünftig» reagieren, ihren kleinen Wilden sogar heimlich oder offen ein bisschen bewundern und einander versichern, was für eine Power und kindliche Leidenschaft doch in ihrem Sprössling steckt. Da der kleine Beißer Bewunderung erntet für seine Aggressionen, wird er dieses belohnte Verhalten auch im Kindergarten pflegen und womöglich versuchen, seine Spielgefährten zu malträtieren.

Im Kindergarten wird das Kind dann als «ein bisschen schwierig», vielleicht sogar als «verhaltensauffällig» wahrgenommen. Davon berichten Erzieherinnen und Erzieher jedenfalls immer öfter. Kann sein, dass der kleine Wilde dann in eine tiefe Krise stürzt, weil sich die anderen das nicht gefallen lassen wollen und zurückpiesacken. Doch er lernt bald, dass er schon beim kleinsten Rempler gegen sich nur so laut wie möglich brüllen muss. Dann werden die Erzieherinnen schon herbeieilen und ihm helfen.

Bereits ein Viertel aller Kindergartenkinder von drei bis sechs Jahren zeigt in Deutschland Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressivität, Konzentrationsprobleme sowie Ängstlichkeit. Der Berufsverband der Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie schätzt die Zahl der «Problemkinder» auf rund eine Million.1

Nicht selten wird aus einem Kind ein Problemkind, weil die Eltern die Ursachen für die Probleme ihres Kindes nie bei sich, ihrer Erziehung und in ihrem Kind sehen, sondern sich lieber über die Rüpeleien seiner Spielgefährten beschweren. Sie sehen die Schuld für seine Aggressivität bei den anderen Kindern, bei den Erzieherinnen oder in äußeren Bedingungen.

Gerne werden solche Kinder von ihren Eltern in die Schule gefahren, zu den Freunden und auch sonst überallhin kutschiert, wohin sie bequem auch zu Fuß, mit dem Rad oder dem Bus kämen. Ein Kind aus Sorge vor Gewalttätern regelmäßig in die Schule zu fahren, führt natürlich nicht zwangsläufig zu einer Entwicklungsstörung, obwohl ihm zahlreiche soziale Kontakte und Erfahrungen mit der Realität entgehen.

Keines der vielen einzelnen Verwöhnungsmerkmale ist für sich genommen schon verhängnisvoll. Das Verhängnis liegt in ihrer Summe und in der Dauer. Die Verwöhnung wird irgendwann als normal empfunden, und dann wird’s gefährlich. Marianne Sorg: «Viele Menschen denken, wenn sie das Kind mit Zuwendung überschütten, täten sie ihm etwas Gutes. In Wahrheit schaden sie ihm, denn dauerhafte Verwöhnung erstickt die Kreativität der Kinder und kann zur Sucht führen.»

Die Angst der Erwachsenen vor Konflikten mit dem Kind, das Bestreben vieler Eltern, ihren Kindern gute Kumpels oder Freunde zu sein, die Eiapopeia-Erziehung und Wir-sind-alle-lieb-Mentalität – sie sind schon so weit verbreitet, dass sie in Teilen unserer Gesellschaft als normal empfunden werden, etwa in der Schule. Dort haben Generationen von verwöhnten Kindern und verwöhnenden Eltern die Schulleitungen auf Schmusekurs gebracht.

Schule werde als Familie inszeniert, nichts dürfe abschrecken, vor allem fürchte man das Image, eine Schule mit hohen Anforderungen zu sein, sagt die Wormser Oberstudienrätin Georgia Wentworth. Die Folgen spürt sie in ihrem Unterrichtsalltag.

Ihre Schüler seien hart im Austeilen, im Einstecken dagegen ziemlich weich. Wenn die Englischlehrerin von Schülern der elften Klasse verlangt, von einer zur nächsten Stunde zwanzig Seiten Literatur zu lesen, seien sie am Boden zerstört. «Manche weinen fast, so wenig belastbar sind sie.»

Im Deutsch-Leistungskurs heutzutage ein Buch von 300 bis 400 Seiten zu lesen sei fast unmöglich, erzählt Wentworth. Und schon gar nicht wollten sie Bücher aus dem 19. Jahrhundert lesen, weil sie mit der alten Sprache nicht klarkämen. Die Schüler seien auch nicht mehr bereit, auswendig zu lernen, «und toben wie die Heiden, wenn ich mal eine ganze Stunde lang nur Grammatik mit ihnen üben möchte».

Manche Schüler verweigern neuerdings die Anstrengung mit dem Argument, sie litten unter «ADS»: dem «Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom» – offenbar der Nachfolger der früher beliebten Legasthenie-Ausrede. Zugegeben: Legasthenie gibt es wirklich, sie soll sogar bei hochbegabten Kindern öfter vorkommen. Aber wer wollte bestreiten, dass Legasthenie auch gern ins Feld geführt wird, wo weder Hochbegabung noch eine Leseschwäche vorliegt, sondern einfach nur Faulheit oder Bequemlichkeit?

«Auch ADS ist als Diagnose Mode geworden», sagt Marianne Sorg. ADS existiere zwar tatsächlich als Krankheitsbild, aber nicht in dem Ausmaß wie angenommen. Oft habe die Konzentrationsschwäche der Kinder nichts mit ADS zu tun, sondern sei «einfach nur eine Folge von Nichterziehung und überbordendem Medienkonsum».

Die Schüler wollen sich zwar nicht anstrengen, das Abitur möchten sie aber trotzdem haben. Und möglichst billig soll es sein. Schule sei für diese Kinder kein Ort des Lernens, sondern ein «Social Club, in dem man Spaß haben und fröhlich sein, von Leistungsanforderungen aber verschont werden will», resümiert Wentworth.

Und die Schulleitungen passen sich dem Verlangen nach dem Billig-Abitur in vorauseilendem Gehorsam an. Wentworth erzählt von Schulen, die wegen des schwindenden Interesses für Latein verstärkt dafür werben – nicht etwa, indem sie begründen, warum Latein auch im Computerzeitalter immer noch wichtig sei, und nicht, indem sie betonen, dass Latein cool und eine Herausforderung für die klügsten Köpfe sei. Nein, die Schulen werben mit dem Argument, Latein sei leichter als eine moderne Fremdsprache, weil man es ja nicht aktiv sprechen, sondern nur schreiben müsse.

«Es wird auch nicht mehr vom Deutschen ins Lateinische übersetzt, damit wegfällt, was schwer ist.» Der Lateinunterricht sei nicht mehr so effektiv wie früher, und Schüler des altsprachlichen Gymnasiums schrieben den Plural von Lexikon oder Internum als «Lexikas» und «Internas».

Wentworth las im Unterricht eine Nachricht, die zuvor in allen Medien war, auf Englisch vor. Ihre Schüler verstanden kein Wort. «Das war doch gerade in den Nachrichten», sagte sie. Hätten sie nicht gehört, und die Hälfte der Klasse lese sowieso keine Tageszeitung. «Nächstes Jahr macht ihr Abitur und dürft wählen, aber lest keine Zeitung?» Interessiere sie nicht, sagt Wentworth.

Viele hätten auch gar keine Zeit dafür, weil sie in ihrer Freizeit und in den Ferien jobbten. Bei McDonald’s, im Media Markt und in Kneipen verdienten sie sich das Geld, das sie für ihre Markenklamotten, Telefonrechnungen, Handys und all die «coolen Sachen» brauchten. In der zwölften Klasse habe schon fast jeder Schüler ein Auto. Das werde zwar meistens von den Eltern finanziert, aber die teuren Stereoanlagen, mit denen die Autos aufgemotzt werden – die bezahlten die Schüler.

Die ganz normale Verwöhnung, die als solche nicht mehr wahrgenommen wird, ist wahrscheinlich auch eine der Ursachen für die Disziplinprobleme in der Schule. Die meisten ihrer Schüler stammten aus Ein- bis Zweikind-Familien, sagt Ursula Restle, Oberstudienrätin an einem katholischen Privatgymnasium in Oberschwaben. Solche Kinder seien «überindividualisiert» und gewöhnt, immer im Mittelpunkt zu stehen. So verhielten sie sich dann auch in ihrer Klasse. «Sie reden, auch in der achten und neunten Klasse, einfach dazwischen, ohne sich zu melden, unterbrechen einander und fallen auch den Lehrern ins Wort.» Sie seien gewohnt, dass Erwachsene sofort auf sie eingehen und ihre emotionalen Bedürfnisse sofort befriedigen. Das erwarten sie auch in der Schule.

«Die Verwöhnungsfalle» heißt ein Buch des Sozialpädagogen Albert Wunsch, der das Katholische Jugendamt Neuss leitet. Der Titel bringt es auf den Punkt: Wohlstand, die technischwirtschaftliche Beschleunigung, Konsumdruck und Markenterror, der Kult ums Kind – das alles macht heute Eltern und Kindern mehr zu schaffen als früher. Die Hamburger Schulpsychologen Michael Grüner und Volkmar Malitzky sagen, dass der Konformitätszwang heute ausgeprägter sei als früher.2 Die Bereitschaft, jemanden auszugrenzen, weil er den falschen Ranzen, das falsche Handy, die falsche Jeans habe, sei groß. «Es gibt einfach immer mehr wohlhabende Menschen, die sich Verwöhnung im materiellen Sinn leisten können. Also wird verstärkt in dieser Richtung erzogen», sagen die Schulpsychologen. Der Erziehungsstil einer «neureichen Gesellschaft» sei geprägt von der raschen Erfüllung banaler Konsumwünsche, meint die Psychologin und Buchautorin Astrid von Friesen.

Dem leistet die permanente Betonung des Optischen in unserer Gesellschaft Vorschub. Vor allem Kinder und Jugendliche unterliegen dem Zwang zu äußerer Stilisierung, und die Eltern geben diesem Zwang nach, indem sie permanent den Geldbeutel zücken für die jeweils angesagten Klamotten.

Immer ja zu sagen, immer jeden Wunsch erfüllen ist sehr bequem. Neinsagen führt zu Begründungszwängen, Konflikten, Liebesentzug der Kinder und kostet auch Zeit. Die Jasager ersparen sich das alles.

Prinzipielle Neinsagerei ist indes auch nicht die Lösung. Sie liegt dazwischen. Den richtigen Punkt zwischen Härte und Nachgiebigkeit zu finden, darin besteht die Kunst der Erziehung.

Der Erziehungsnotstand

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