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MARIO ODER ICH!

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Das Unheil kam nicht auf leisen Sohlen. Der Vater trug es frohgemut in einer schwarzen Kiste nach Hause. Er schwört: Das hatte rein berufliche Gründe.

Die schwarze Kiste heißt «Nintendo» und gehört zur Gattung der Videospielkonsolen. Eines der beliebtesten Spiele ist «SuperMario». Das steckte nun in der schwarzen Box.

Weil er als Journalist viel über Technik schreiben musste, wollte der Vater die Computer- und Videospiele endlich selbst einmal ausprobieren. Er ahnte nicht, dass es beim Testen kaum bleiben würde.

Noch weniger Ahnung hatte die Mutter. Doch mit der Zeit fiel ihr auf: Die Kinder waren immer häufiger verschwunden. Oft waren sie stundenlang nicht mehr zu sehen. Der Vater auch nicht. Wo steckten sie? Im Keller. Draußen konnte schönstes Wetter sein, aber die Kinder hockten im dunklen Keller und spielten SuperMario. Ebenso der Vater, dieser Kindskopf.

Eine Weile lang nahm sie das nachdenklich hin. Bis der Tag kam, an dem sie müde und gestresst von der Redaktion heimkehrte, sich auf das Abendessen und die Familie freute, in der Wohnung aber niemanden vorfand, auch keinen gedeckten Tisch.

Da ging sie in den Keller. Ein geradezu idyllisches Bild: Die Familie saß so vertieft vor dem Monitor, dass niemand ihr Kommen bemerkt hatte. Sie sagte «Guten Abend». Keine Reaktion.

Da wurde die Mutter laut und sprach den Satz: «Dieses Spiel kommt aus dem Haus.» Darauf der Vater: «Dieses Spiel bleibt hier.»

Und so gab ein Wort das andere:

Sie: Dieses Spiel macht das Familienleben kaputt. Ich komme nach Hause und werde ignoriert, weil die Kinder wie gebannt vor diesem Kasten hocken, und der Vater hockt dabei, statt sich ums Abendessen zu kümmern oder endlich seinen Artikel zu Ende zu bringen. Was verplempert ihr eigentlich eure Zeit mit diesem Quark?!

Er: Wieso «Quark»? Das ist ja das Tolle daran, dass hier mal Eltern und Kinder zusammen spielen und man sich als Erwachsener nicht wie bei anderen Kinderspielen tödlich langweilt. Außerdem herrscht zwischen Erwachsenen und Kindern Chancengleichheit. Ich kann und weiß auch nicht mehr als die Kinder, muss mich genauso anstrengen wie sie, und das macht ihnen und mir Spaß.

Sie: Sag’ mir bitte einen einzigen vernünftigen Grund, warum sich unsere Kinder mit so einem Mist abgeben sollen?

Er: Wie kannst du behaupten, Mario sei Mist? Du hast es doch noch nie selbst gespielt. Das ist kein Mist, sondern einfach ein neues Spielzeug, das nur, weil es technisch ist, in unserem technophoben Land von vornherein unter Verdacht steht, die Jugend zu verderben. Ich kann dir mindestens zehn Gründe nennen, weshalb Kinder sich «mit so etwas abgeben» sollen.

Sie: Ich höre.

Er: Bei Mario gibt es zum Beispiel am Ende nicht wie sonst einen Sieger und mehrere Verlierer; hier kommt es nur auf Findigkeit, ja sogar auf Phantasie an. Der Spieler muss Probleme lösen und braucht dazu Ideen. Der Lohn der Anstrengung liegt nicht in irgendeinem Sieg – den gibt es am Schluss zwar auch, nämlich als Sieg über ein Ungeheuer –, sondern in den gelösten Problemen. Außerdem ist SuperMario auch ein Märchen, und was hast du gegen Märchen?

Sie: Mario soll ein Märchen sein? Diese wie von einer Tarantel gestochen herumrennende Comic-Figur vergleichst du tatsächlich mit einem Märchen?

Er: Mario ist zwar Klempner von Beruf, aber in Wahrheit natürlich der klassische Prinz. Er erfährt, dass seine Freundin, die Prinzessin Toadstool, von einem Ungeheuer gefangen gehalten wird. Also versucht er, sie zu befreien. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg, auf dem gefährliche Abenteuer zu bestehen sind, und zwar mit Geschick, hoher Konzentration und Intelligenz. Zum Schluss aber muss das Ungeheuer natürlich besiegt werden. Also, wenn das kein Märchen ist ...

Sie: Na gut, Mario mag ein Märchen sein, aber ein ziemlich primitives. In guten Märchen begegnen dem Kind Persönlichkeiten, die ein Innenleben und einen Charakter besitzen, die gutmütig, tapfer, hinterlistig oder schlau sind. Mario dagegen ist ein Maschinchen in Menschengestalt, das keinerlei Regung zeigt, und alle anderen Figuren dieses Videospiels sind ebenfalls Maschinchen, die auf programmierte Weise reagieren. Dieser Mario redet ja kein Wort, kann gar nicht reden, sondern nur handeln, und das Handeln beschränkt sich auf Rennen, Schwimmen, Treten und Springen. Gefühle zeigt Mario nicht.

Er: Aber die spielenden Kinder reden und zeigen Gefühle. Sie beraten über Lösungsstrategien und sie hoffen, bangen, freuen sich und ärgern sich. Mario ist ein Jump-and-Run-Spiel, ein Kampf. Beim Kämpfen stört Gerede nur. Im übrigen: Auch das Verhaltensrepertoire klassischer Märchenfiguren ist begrenzt.

Sie: Aber diese begrenzten Figuren sind Menschen, Tiere, Geister, Zauberer, Ungeheuer, Helden und Feiglinge – ein ganzes Universum menschlicher Leidenschaften, während diese jämmerlichen Videospielfiguren nichts weiter sind als verschiedene Varianten von Kampfmaschinchen. Ich glaube kaum, dass das die Form von Märchen ist, die Kinder brauchen, um etwas über die Welt zu lernen.

Er: ... Mario nimmt doch unseren Kindern die Märchen nicht weg, sondern gibt ihnen etwas dazu, was kein normales Märchen zu bieten hat und was der Hauptgrund für die Faszination von Videospielen ist: Das Kind kann in das Märchen eingreifen und bestimmen, was der Held tut. Ob Mario zum Ziel kommt, hängt davon ab, wie geschickt das Kind ist.

Sie: Ich würde mich ja gar nicht so aufregen, wenn Mario nicht diesen Suchtcharakter hätte. Die Kinder können überhaupt nicht mehr aufhören und nichts anders mehr tun und sich für nichts anderes mehr interessieren. Das kann einfach nicht gut sein.

Er: Wenn sich Kinder stundenlang mit einem einzigen Spiel beschäftigen und dabei sich selbst, die Zeit und ihre Umwelt vergessen, kann das Spiel nicht schlecht sein. Davon abgesehen spricht aus dir eine typisch deutsche Vorstellung von Pädagogik. Wenn Kinder stundenlang hölzerne Klötzchen aneinanderlegen, gilt das im anthroposophisch angemuckerten Deutschland als pädagogisch wertvoll. Spielen sie Mario, geht das Abendland unter.

Sie: Kein Kind legt stundenlang Klötzchen, sondern nur eine bestimmte Zeit, danach macht es wieder etwas anderes, und das erscheint mir gesünder und normaler als dieses obsessive Videospielen, bei dem die ganze Aktivität im Drücken von ein paar Knöpfen besteht. Du kannst doch nicht bestreiten, dass es für unsere Kinder gesünder wäre, sich draußen auszutoben, statt passiv und mit krummem Rücken vor der Glotze zu hocken.

Er: Du sitzt doch auch stundenlang herum und liest. Deine ganze Aktivität besteht im Umblättern von Seiten. Auch das ist Suchtverhalten.

Sie: Absurder Vergleich! Erstens gehört das Lesen zu meinem Job, zweitens müssen meine Knochen nicht mehr wachsen, und drittens weißt du selbst, dass sich beim Lesen die Aktivität im Kopf abspielt.

Er: Genau wie bei Mario.

Sie: Jetzt hör mal. Ich komme nach Hause, freue mich auf die Kinder, und die ignorieren mich einfach, sagen nicht mal Guten Abend, und der Einzige, der mich noch begrüßt, ist der Hund. Das mache ich nicht mehr mit. Mario oder ich!

Er: Jetzt mach’s nicht dramatischer, als es ist. Die Lösung kann nicht sein, den Kindern das Spiel wieder wegzunehmen. Sie müssen eben lernen, das Spiel in den Griff zu kriegen. Das Spiel darf nicht die Kinder beherrschen, sondern die Kinder müssen lernen, das Spiel zu beherrschen. Und die Zeit, die sie damit verbringen, zu begrenzen und allmählich zu verringern.

Sie: O. k., ich gebe euch vier Wochen.

Vier Wochen reichten nicht. Aber ungefähr acht Wochen später normalisierte sich das Leben wieder. Die Faszination von SuperMario ließ langsam, aber stetig nach.

Die Kinder hockten immer seltener vor der Konsole und spielten immer häufiger wieder draußen, in der Wohnung und auf dem Dachspeicher, und auch der Vater fand wieder zu seiner normalen Arbeit zurück. Wir lernten daraus: Man soll zwar in der Erziehung nicht alles gleichgültig hinnehmen – man soll aber auch nichts überdramatisieren. «Das verwächst sich», sagten unsere Großmütter immer, wenn unsere Mütter dieses und jenes an uns auszusetzen hatten.

Ein weises Wort – auf das Eltern sich viel häufiger verlassen sollten. Statt alles gleich therapieren zu wollen, sollte man öfter einfach darauf warten, dass etwas von selbst vergeht.

Jedoch: Manches, was sich scheinbar schon verwachsen hatte, kehrt plötzlich wieder, wie das nächste Kapitel zeigt.

Der Erziehungsnotstand

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