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Bildung ist kein Mittel zum Zweck

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Nun haben wir ausführlich gesagt, was Bildung alles nicht ist, und die Geduld jener Leser strapaziert, die darauf warten, dass wir endlich sagen, was Bildung sei und warum das bisher Aufgezählte mit Bildung nichts oder nur wenig zu tun hat. Was also ist Bildung?

Inmitten der grassierenden Nützlichkeitsdiskussion betont der Münchner Philosoph Robert Spaemann, Jahrgang 1927, fast provokant die Zweckfreiheit von Bildung. Bildung sei eigentlich zu nichts nütze, und der «Gebildete ist nicht nützlicher als der Ungebildete».6 Bildung ist kein Mittel zum Zweck, sondern hat seinen Zweck in sich selbst und dient ausschließlich dem, der sich bildet. Das halten wir für das Entscheidende, und das hat schon der Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt so gesehen.

Als er 1809 zum Leiter des Kultus- und Unterrichtswesens ins Preußische Innenministerium berufen wurde, korrigierte er die Reform-Bestrebungen seines Vorgängers, der die Landesuniversitäten zu höheren Fachschulen umformen und die Schulen nach dem Prinzip der unmittelbaren Nützlichkeit ausrichten wollte. Dagegen war es Humboldts Ziel, eine universelle Bildung durch die Entfaltung aller Kräfte der Persönlichkeit zu fordern. Hierbei bediente er sich Vorstellungen der Reformpädagogik des Schweizers Johann Heinrich Pestalozzi, für den Bildung dem einzelnen Individuum zu dienen hatte.

Nicht spezialisiertes Fachwissen, sondern Allgemeinbildung und Orientierungswissen standen für Humboldt im Mittelpunkt der Schul- und Universitätsbildung. Und nicht Nützlichkeit, Tüchtigkeit oder Wettbewerbsfähigkeit waren das Ziel der Bildung, sondern Humanität und «gelungenes Menschsein». Der harmonische Mensch, der alle seine Anlagen, Möglichkeiten und Kräfte gleichmäßig und allgemein ausgebildet hat, der sei gebildet, war Humboldts Überzeugung.

Seine Reformen mündeten in die Konzeption des humanistischen Gymnasiums, in dem die alten Sprachen Latein und insbesondere Griechisch einen bevorzugten Platz zugewiesen bekamen, weil Humboldt überzeugt war, dass gerade der griechische Mensch dem Ideal reiner Harmonie und Vervollkommnung am nächsten gekommen sei. Und weil er forderte, dass Fähigkeiten an einer möglichst geringen Zahl von Gegenständen zu bilden seien. Das Ziel eines Studiums der alten Sprachen bestand daher nicht darin, diese um ihrer selbst willen zu erlernen, sondern durch sie und durch ihr Erlernen einen methodischen und inhaltlichen Zugang zur Erkenntnis des Menschen zu erhalten und eine Einsicht in die Möglichkeit seiner Entfaltung zu einer vollständigen Humanität.

Dass dies so nicht immer funktionierte und Preußens Beamte im Humboldtschen Bildungsideal etwas ganz anderes sahen als dieser – nämlich das Eintrittsbillett in den höheren Staatsdienst und am Ende die gesicherte Pension – und dass an den meisten Absolventen des preußischen Bildungswesens die Humboldtschen Ideale abtropften wie Wasser vom Lack, steht auf einem anderen Blatt. Dies spricht jedoch nicht gegen Humboldt, sondern eher gegen den Menschen – bildungsresistent, wie er nun mal ist. Um der Ausnahmen willen, die ihre Resistenz aufgeben oder aufgrund glücklicher Fügungen gar nicht haben, möchten wir weiter an diesem Ideal festhalten, vor allem an der luxuriösen Nutzlosigkeit von Bildung.

Bildung erschöpft sich aber nicht in reinem Selbstzweck. Bildung hat Folgen. So zeichnet den Gebildeten beispielsweise aus, dass er den «animalischen Egozentrismus» hinter sich gelassen hat und sich dafür interessiert, «wie die Welt aus anderen Augen aussieht», sagt Spaemann – nicht aus irgendwelchen Nützlichkeitserwägungen heraus, etwa, weil der Perspektivwechsel in einer globalisierten Welt bessere Geschäfte ermöglicht, sondern zur Befriedigung der puren Neugier.

Man sieht also, dass Wettbewerbsfähigkeit durchaus ein Nebenprodukt von Bildung sein kann. Wer sich dafür interessiert, wie die Welt aus den Augen von Japanern, Koreanern oder Indern aussieht, versteht diese besser und kommt mit jenen natürlich besser ins Geschäft – falls er das will – als die Krämerseele, die nur an ihren Profit denkt.

Gehören «Heimat- und Vaterlandsliebe» wirklich zur Bildung, wie es die bayerische Verfassung im Artikel 131 (3) den Schulen ins Pflichtenheft schreibt? Und falls ja – ist damit der krachledern-auftrumpfende Mir-san-mir-Stolz der Klischeebayern gemeint, der schäumende Nationalismus eines Moritz von Arndt und Johann Gottlieb Fichte? Oder der zurückhaltend-leidende Patriotismus Heinrich Heines, Kurt Tucholskys oder Willy Brandts? Natürlich Letzterer, werden alle sagen, aber Heine, Tucholsky, Brandt – wie wurden sie gehasst vom jeweiligen deutschen gebildeten Bürgertum, das seinen Nationalstolz pflegte.

Das Fremde sei dem Gebildeten eine Bereicherung, er könne das Fremde bewundern, sich dafür begeistern, sich neidlos über Vorzüge freuen, die er selber nicht besitzt, sehe deshalb aber keinen Grund, sich des Eigenen zu schämen, fährt Spaemann fort. Und darum müsse der Gebildete das ihm Fremde auch nicht ressentimentgeladen abwerten, um sich selber groß vorzukommen.

Also mehr Heine und Brandt als Fichte und Arndt – das sollte man immer dazusagen, wenn man von «deutscher Leitkultur» und neu erwachtem «Nationalstolz» spricht. Und wer dabei an Heine und Brandt denkt, wird das «Deutsche» und seinen Stolz automatisch tiefer hängen, aber weiß dann wenigstens: Dieser Deutschen braucht er sich nicht zu schämen.

Auch das Interesse für das Fremde hat der Gebildete nicht zu irgendeinem Zweck, sondern um seiner selbst willen erworben. Aber es wird demjenigen auch nicht schaden, der Geschäfte machen will. Darum könnte man sich solche Eigenschaften natürlich auch zweckgerichtet erwerben und auch vermitteln. Mit Bildung hätte das dann nichts mehr zu tun. Das gehörte eher in die Kategorie Marketing.

Deshalb darf die Schule nicht für die Zwecke der Wirtschaft oder des Staates instrumentalisiert werden. Geschieht es trotzdem, wird unsere Gesellschaft möglicherweise tüchtige Kaufleute, Techniker und Programmierer bekommen, aber keine Gebildeten. Schon möglich, dass manchen Verbandsfunktionären und Politikern das egal ist, uns ist es nicht egal. Kultur entsteht nicht aus Tüchtigkeit, sondern aus Bildung. Kultur und Bildung sind höhere Werte als eine gut geölte Wirtschaft, und auf diese Werte legen wir Wert.

Im Gegensatz zu Kultur und Bildung ist die Wirtschaft kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zum Zweck. Wirtschaft ist dazu da, knappe Ressourcen optimal zu nutzen, die Menschen möglichst gerecht und unter Vermeidung sozialer Härten mit Gütern und Dienstleistungen zu versorgen und jenen Überschuss zu erwirtschaften, der nötig ist, um Kultur entstehen zu lassen. Diese Kultur ist kein Luxus, sondern das, was den Menschen erst zum Menschen und sein Leben erst lebenswert macht – eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Aber dass man genötigt ist, auf solch eine Selbstverständlichkeit hinzuweisen, zeigt, wie nahe die westliche Kultur vor dem Schritt in eine Hightech-Barbarei steht.

Bildung zeigt sich auch und vor allem in der Sprache. Eine «differenzierte, nuancenreiche Umgangssprache», ist für Spaemann ein Kennzeichen des Gebildeten. Er beherrsche meistens eine Wissenschaftssprache, diese beherrsche ihn aber nicht.

An der Universität lernt man leider nur die Wissenschaftssprache, und schon aus diesem Grund erschöpft sich Bildung nicht in universitärer Bildung. Etwas muss hinzukommen, Sprachgefühl zum Beispiel, Freude an einem guten Stil und an Wortwitz, der Wille, auch von weniger Gebildeten verstanden zu werden, die Achtung des Versuchs, durch übermäßigen Gebrauch von Fremdwörtern und wissenschaftlichen Termini aufzutrumpfen, einzuschüchtern und Herrschaft auszuüben, der Verzicht auf akademischen Dünkel – Bildung eben.

Unserer bis zur Gleichgültigkeit toleranten Gesellschaft schreibt Spaemann ins Stammbuch: Der Gebildete «scheut sich nicht zu werten, beansprucht für seine eigenen Werturteile objektive Geltung. Gerade deshalb ist er auch bereit, sie zu korrigieren. Denn was keine objektive Geltung beansprucht, braucht auch nicht korrigiert zu werden.»

Doch der Comedy- und Fun-Gesellschaft ist der Kampf für die Geltung bestimmter Werte und Ziele längst schon zu anstrengend geworden. Es kommt zwar dauernd zu Konflikten darüber, aber es ist nicht sehr spaßig, sich damit auseinanderzusetzen. Daher hat die Spaßgesellschaft elegante Methoden ersonnen, um sich ihrer zu entledigen. Man überweist sie an Ethikräte, lässt den Markt entscheiden oder die momentane öffentliche Stimmung oder erklärt das Strittige zum Privatproblem.

Der Gebildete wertet, tritt für die Geltung seiner Werte ein, hat also eine Überzeugung, hält aber – im Idealfall – Distanz zu Ideologien, Überzeugungstätern, Weltanschauungsgemeinschaften und überhaupt zu fast allem, was ihn umgibt. Bildung lässt sich nicht in Dienst nehmen und für irgendwelche Zwecke einspannen, nicht einmal für gute.

Darauf will Spaemann hinaus. Gebildetsein führt nicht zwangsläufig zu Gutsein, sondern zur Distanz zu sich selbst und anderen gegenüber. Wenn Bildung überhaupt etwas nützt, dann nur dem Gebildeten selbst. Bildung ist dem Gebildeten, und nur ihm, ein Genuss. Gebildete Menschen haben aneinander Freude, und sie wissen: Bildung ist nicht das Wichtigste.

Auf Bildung kann man die Menschen nicht abrichten oder programmieren, das gehört geradezu zu ihrem Wesen. Darum befindet sich alles, was man einem Menschen beibringen und vermitteln kann – Wissen, Methoden, Erkenntnisse, Fertigkeiten, Fähigkeiten –, unterhalb der Schwelle zur Bildung. Diese sind zwar allesamt höchst nützlich, geradezu unerlässlich, um im Leben zu bestehen und darum auch notwendiger «Stoff» in der Schule. Ob sich aber der mit diesem Stoff gewirkte Mensch

auch bildet, liegt nicht mehr in der Macht des Lehrers und Erziehers.

Deshalb sagt der Bielefelder Pädagoge Hartmut von Hentig: Der Gebildete «ist das Subjekt des Bildens, nie das Objekt; er bildet sich. Nichts kommt auf einmal, nichts unter Druck, nichts aus zwingendem Grund zustande.» Bildung erwerbe man zwar «nicht von allein und von ungefähr, aber auch nicht durch systematische Belehrung». Bildung gehe «aus einer kultivierten Umwelt auf den Gebildeten über, aber wiederum nur, wenn und weil dieser so sein will».7

Darauf, auf diesen Hentigschen Begriff der «kultivierten Umwelt», kommt es uns an. Unser Eindruck ist: Jenes kultivierte Lernklima, in dem Bildung und Erziehung erst gedeihen können, ist in zahlreichen Familien und Schulen kaum noch vorhanden und droht immer weiter zu verschwinden. Auch in der Gesellschaft ist die Kultur auf dem Rückzug, trotz oder vielleicht gerade wegen des fast exponentiellen Wachstums «kultureller Events». Wo es eine kultivierte Umwelt nicht mehr gibt, kann auch nichts auf Menschen übergehen. Dort wird Bildung unmöglich. Eine kultivierte Umwelt wirkt auch erzieherisch. Wo sie fehlt, verrohen die Sitten.

Weil diese kultivierte Umwelt in vielen Familien, Schulen und auch außerhalb kaum noch vorhanden ist, und damit ihr erzieherischer Effekt ausfällt, weil darüber hinaus zahlreiche Kinder und Jugendliche von ihren Eltern nur noch unzureichend oder gar nicht mehr erzogen werden, haben sie Probleme, sich zu konzentrieren und die Anstrengungen des Lernens auszuhalten. Sie können nicht mehr entwickeln, was für ein erfolgreiches Lernen unbedingt nötig ist: Interesse, Neugier, Anteilnahme, Leistungswillen, Engagement. Darin besteht der Erziehungsnotstand. Mangelhafte Schulleistungen, eine lückenhafte Allgemeinbildung und fehlende Kenntnisse und Fertigkeiten sind das zwangsläufige Ergebnis dieser Katastrophe. Wer also besser gebildete und ausgebildete Jugendliche wünscht, muss erst eine bessere Erziehung in der Familie und der Schule ermöglichen. Er muss für ein gedeihliches Lernklima sorgen, eine kultivierte Umwelt gestalten und ethische Werte über ökonomische stellen.

Der Erziehungsnotstand

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