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OBSERVIERT

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Die einen vernachlässigen ihre Kinder – die anderen meinen es allzu gut. Hyperpädagogisierende Eltern übertreiben es mit der Förderung und Stimulierung ihrer Kinder, jagen sie von der Klavierstunde zum Reiten, von dort ins Ballett und weiter zum Tennis, in die Malgruppe, die Theatergruppe und in den Kurs für Früh-Englisch.

Die Aufnahmekapazität von Kindern ist individuell verschieden – aber bei keinem Kind unendlich groß und oft kleiner, als manche Eltern meinen. Überfütterung mit Bildungsinhalten kann genauso schaden wie materielle Überfütterung.

Nicht immer steckt hinter der Über-Förderung das edle Motiv, die Entwicklung des Kindes optimal zu fördern. Manchmal dienen solche Programme – heimlich, vielleicht auch nur unbewusst – dem Zweck, sich das Kind vom Leibe zu halten. Manche Eltern wissen mit ihren Kindern nichts anzufangen, also werden die Kinder überall «gefördert», nur nicht zu Hause. Kinder spüren, was ihre «Förderung» in Wahrheit ist: Abschiebung.

Wer seine Kinder so verplant, dass diese ihre Zeit nicht mehr nach ihren eigenen Bedürfnissen und ihrem eigenen Rhythmus gestalten können, nimmt ihnen eine entwicklungspsychologisch wichtige Erfahrung, sagt der Schweizer Jugendpsychologe Allan Guggenbühl.1 Irgendwo im Tagesablauf des Kindes muss es eine Zeit geben, die nicht von Erwachsenen organisiert wird und in der sie nicht mit Erwachsenen zusammen sind. In dieser Zeit sollten Kinder die Chance haben, auch einmal etwas aus eigenem Antrieb zu unternehmen. Sie brauchen die Möglichkeit, allein oder mit anderen Kindern ohne ständige Aufsicht durch Erwachsene etwas zu tun – oder auch nichts zu tun.

Die elterliche Zuständigkeit für die Kinder ist partiell, sagt Guggenbühl, «wir sind nur zum Teil für das Gedeihen unserer Kinder zuständig». Wir sollten lernen, unseren Kindern zuzutrauen, dass sie auch ohne unseren konstanten Beistand ihr Leben meistern. «Wer in die Kinderwelt hineinblickt, sieht, dass die Themen, denen sie sich in ihrer oft spärlichen Freizeit widmen, nicht unseren Wünschen entsprechen» und nichts mit der Erwachsenen weit zu tun haben, meint Guggenbühl.

Stundenlang wird ein Breakdance einstudiert, der Sprung mit dem Skateboard geübt oder einfach nur in den Tag hinein geträumt, statt das Geigenspiel zu üben oder die Lateingrammatik. Aber der Breakdance, die Tagträumereien, ja sogar die Langeweile sind mindestens so wichtig für die Entwicklung des Kindes wie Geige und Latein. Langeweile ist eine notwendige «innere Dimension des Erlebens» und «für Kinder immer auch eine Möglichkeit, zu sich selber zu finden» und «in sich selber nach Erlebnismöglichkeiten» zu suchen, sagt Guggenbühl.

Eine weitere Gefahr sieht Guggenbühl in der schon lange zu beobachtenden Tendenz, die Kinder aus der «richtigen» Welt, in der sich die Erwachsenen bewegen, zu verbannen, und ihnen Reservate zuzuweisen, wo sie sich unter Aufsicht balgen dürfen. Wo sie den Alltag der Erwachsenen nicht stören.

Spielplätze, Mutter-Kind-Abteile im Zug, Kinderecken in Restaurants und Einkaufszentren, Hotels und Reiseveranstalter mit Babysittern und Animatoren für Kinder sind zwar für sich genommen durchaus sinnvolle Einrichtungen. Aber wenn sich das Leben der Kinder nur in solchen Schonräumen abspielt, verpassen sie etwas, berauben wir sie der Möglichkeit, sich Weltkenntnis und Welterfahrung anzueignen.

Wer aber aus Angst vor Unfällen seinen Kindern nur unter Aufsicht erlaubt, auf Bäume oder über Zäune zu klettern, Skateboard zu fahren oder einfach nur auf der Straße und dem Spielplatz herumzutoben, schränkt die körperliche Bewegung seiner Kinder drastisch ein. Und das Kind kann nicht lernen, seine Kräfte zu erproben, Geschicklichkeit einzuüben, seinen Körper zu beherrschen, Gefahren realistisch einzuschätzen und sich in brenzligen Situationen instinktiv richtig zu verhalten. Gerade solchen Kindern widerfahren dann häufig die schlimmsten Unfälle. Sportlehrer berichten, dass immer mehr Kindern normale Turnübungen große Mühe bereiten.

Erziehung heißt darum auch: Erziehung zu einem Leben in Gefahr. Natürlich brauchen wir das Verbot, mit dem Feuer zu spielen. Aber da wir wissen, dass Verbote übertreten werden, sollten wir das Kind unter Aufsicht den Umgang mit dem Feuer einüben lassen und es lehren, wie man Feuer löscht und was bei einem Brand zu tun ist. Besser als sein Kind lückenlos zu observieren ist es, ihm einzuschärfen, zu keinem Fremden ins Auto zu steigen und ihm Verhaltensregeln für gefährliche Situationen mit auf den Weg zu geben. Statt Gefahrenvermeidung zu organisieren, sollten Eltern Gefahrenbewusstsein wecken und Kindern beibringen, wie man Gefahren meistert.

Der Ehrgeiz guter Erzieher liegt in dem Bestreben, sich selbst überflüssig zu machen und seinen Zögling von sich abzunabeln. Darum ist der gute Erzieher darauf bedacht, sein Kind schrittweise loszulassen, dessen Aktionsradius kontinuierlich zu erweitern, ihm wachsende Aufgabenbereiche zuzuweisen, in denen es eigenverantwortlich handeln kann. Erziehung kommt an ihr glückliches Ende, wenn das Kind bestens vorbereitet auf die Freiheit in diese entlassen werden kann.

Der Erziehungsnotstand

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