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NACHSPIEL

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Einige Zeit nach diesem Ehekrach – wir waren inzwischen in eine andere Stadt gezogen – bekamen wir von der Lehrerin unseres damals siebenjährigen Sohnes gesteckt, dass dieser seine eigenen Angelegenheiten nicht mehr auf die Reihe kriegte. Er lieferte unvollständige Hausaufgaben ab, er wusste nicht, wo sein Mathematik-Übungsheft geblieben war, ein bestimmtes Lehrbuch schien sich über Nacht in Luft aufgelöst zu haben.

Wenn er von der Schule nach Hause kam, hatte er entweder irgendein Heft oder Buch vergessen, oder seine Jacke oder seinen Anorak oder alles zusammen. Im Diktat machte er in drei Sätzen vier Fehler, es haperte im Rechnen, und an jedem zweiten Tag wusste er nicht mehr, was er aufhatte.

Wir hatten seit längerem etwas besorgt beobachtet, wie der Bub vom Fernseher zur Videospielkonsole wanderte, von dort zum Computer, und von diesem wieder zum Fernseher. Zwar spielt unser Sohn zweimal in der Woche im Verein Fußball und geht täglich mit dem Hund spazieren, klettert gelegentlich auf Bäume, aber das ist auch schon alles, was er sich an körperlicher Bewegung zumutet. Er ist nur schwer zu überreden, mit seinen Freunden draußen zu spielen oder mit dem Spielzeug irgendetwas anzufangen, das in seinem Kinderzimmer überreichlich vorhanden ist. Am liebsten würde er Tag und Nacht vor irgendwelchen Monitoren sitzen.

Da war sie wieder, die überwunden geglaubte Spielsucht.

Als wir deshalb ein ernstes Wort mit ihm reden, zeigt er sich zwar einsichtig, aber schon am nächsten Tag kommt er wieder ohne jenes Heft nach Hause, das er für seine Hausaufgaben braucht. Damit ist der Ofen aus. Wir aktivieren die Kindersicherung im Fernseher, bauen die Videospielkonsole ab und sperren unsere drei Computer mit einem Passwort.

Unser Bub schaut traurig zu, ohne Murren. Und siehe da: Er holt ein Spielbrett aus dem Regal und spielt mit seinem Freund Mensch-ärgere-dich-nicht. Anschließend gehen sie in ein nahe liegendes Wäldchen und bauen ein Baumhaus. Und wir üben verstärkt Schreiben und Rechnen.

Elternglück.

Die folgenden Nachmittage verbringt der Sohn überwiegend bei seinen Freunden. Wir schöpfen Verdacht, finden heraus: Jetzt hockt er bei seinem Freund vor der Glotze, der Videokonsole und dem PC.

Wir sprechen mit den Eltern darüber. Die haben mit ihrem Sohn – es sind anscheinend immer nur die Söhne, selten oder nie die Töchter – das gleiche Problem. Wir vereinbaren: Kein Fernsehen mehr, Videospiele raus, PC mit Passwort gesichert.

Das nützt natürlich gar nichts, denn nun gehen beide zu einem dritten Freund. Wir sprechen mit den Eltern dieses Freundes, die kennen das Problem auch, willigen erfreut ein in den Vorschlag, die Kisten zu sperren, aber nun gehen die drei zum vierten Freund.

Ein viertes Mal intervenieren wir noch, beim fünften Mal geben wir es auf, nicht nur aus Resignation, sondern auch, weil sich durch die Sperre in den anderen vier Familien das Gedaddel von selbst verringert, denn die Gelegenheit, bei den verbliebenen Freunden zu daddeln oder vor dem Fernseher zu hängen, besteht höchstens noch zweimal pro Woche.

Nach einiger Zeit bessern sich auch die Leistungen unseres Sohnes im Diktat und im Rechnen. Er vergisst sein Heft oder seinen Anorak nur noch jeden zweiten Tag, und inzwischen kommen auch schon mal Tage, an denen er alles auf die Reihe kriegt. Nicht immer, aber, ganz langsam, immer öfter.

Wir haben später das strenge Verbot wieder etwas gelockert und dabei gemerkt: Wenn wir nicht ständig aufpassen, verfällt er wieder in den alten Trott. Unser Sohn bekommt den Umgang mit Fernsehen, Video- und Computerspielen allein noch nicht in den Griff. Wir müssen das weiterhin reglementieren, und wir sind uns inzwischen auch sicher: Zwischen der Spielsucht und seinen Leistungen in der Schule besteht ein Zusammenhang. Er ist erfolgreicher, und auch besser organisiert, wenn er weniger Zeit vor den Monitoren verbringt.

Inzwischen haben wir die Videospielkonsole völlig verschwinden lassen. Wir hätten gern, dass er die schwarze Box ganz vergisst, aber das wird nicht gelingen, denn sie steht weiter bei einigen seiner Freunde herum. Viel Zeit, dort mit Fernsehen oder Videospielen seine Zeit zu vertrödeln, hat er jetzt aber nicht mehr. Wir achten darauf, dass er sich sinnvoll beschäftigt. Sport, Klavier, Malkurs, die Hausaufgaben, Spiele mit den Nachbarskindern, bei denen keine Konsole steht – das füllt ihn jetzt weitgehend aus. Ein gelegentliches Videospiel bei Freunden – das wird ihm nicht schaden.

Dass Kinder zu häufig und zu lange vor Monitoren herumhängen, ist nicht erst seit heute ein Problem. Aber es hat sich verschärft, seit es das Privatfernsehen gibt und Video- und Computerspiele in die Kinderzimmer eindringen. Und es wird sich noch einmal verschärfen, wenn Settop-Boxen, digitales Fernsehen und das Internet zum Universalmedium verschmelzen.

Nicht nur unseren eigenen Kindern schadet überlanges Sitzen vor den Monitoren, sondern auch den Kindern von Millionen anderer Eltern. Darum sind Fernsehen, Video- und Computerspiele kein Privatproblem der Familie Nürnberger-Gerster, sondern eine öffentliche Angelegenheit, über die öffentlich debattiert werden muss. Und darum sind nicht nur die Eltern in der Pflicht, über das Konsumverhalten ihrer Kinder zu wachen. Auch Medienkonzerne wie Bertelsmann oder Kirch stehen in der Verantwortung, ebenso die Fernsehsender, die Werbeagenturen, die Produzenten von Spielfilmen, Software und Videospielen und die Hersteller der zugehörigen Hardware.

Wenn diese Medienproduzenten ihrer Aufgabe nicht gerecht werden, weil sie sich hauptsächlich oder ausschließlich ihren Aktionären verpflichtet fühlen, dann sind die Politiker aufgerufen, gemeinsam mit den Eltern die Medienprodukte wieder unter Kontrolle zu bekommen. Auch das muss Thema unserer Familien- und Bildungspolitik werden.

Gegenwärtig gibt es darüber keine öffentliche Debatte. Stattdessen arbeitet die Lobby der Medienproduzenten in aller Stille daran, sich der letzten noch bestehenden Fesseln zu entledigen, wie wir später noch sehen werden. Nicht mehr, sondern weniger Kontrolle durch den Staat und öffentliche Einrichtungen ist ihr Ziel.

Wenn sich diesem Bestreben niemand widersetzt, dann werden die Eltern demnächst ganz allein dastehen und erleben, dass sie damit überfordert sind. Welche Eltern wären denn in der Lage, sich über das tägliche Angebot von 40 Fernsehsendern zu informieren? Zu kontrollieren, welche Angebote ihre Kinder im Internet abrufen, und den Überblick über Hunderte von Video-und Computerspielen zu behalten?

Natürlich ist der Wunsch nach staatlicher Kontrolle und Zensur immer ein Problem in einer Gesellschaft, die der Informationsfreiheit Verfassungsrang einräumt. Aber dieser hohe Rang verpflichtet nicht nur den Staat, sondern verlangt auch von den Informationsanbietern ein großes Verantwortungsbewusstsein. Und der Ruf nach Zensur und staatlicher Kontrolle wird umso lauter, je weniger sich die Informationsanbieter um ihre Inhalte und deren Wirkung insbesondere auf Kinder und Jugendliche kümmern. Die Lage verschärft sich durch jene schwer kontrollierbaren pornographischen und rechtsradikalen Inhalte, die massenhaft übers Internet verbreitet werden.

Manche Eltern sehen nur noch die Möglichkeit, sämtliche Fernseher aus dem Haus zu verbannen, Video- und Computerspiele gar nicht erst hereinzulassen und Computer, wenn überhaupt, nur offline zu betreiben. Tun sie damit ihren Kindern einen Gefallen? Das bezweifeln wir. Man kann die Medien zwar aus seinem Haus verbannen, aber nicht aus der Realität. Die Medien gehören zu unserem Leben, und es kommt darauf an, sie zu beherrschen.

Genau das müssen unsere Kinder mühsam lernen. Aber wir wehren uns dagegen, dass damit die Familien allein gelassen werden und alle anderen sich jeglicher Verantwortung entziehen. Hier auf freiwillige Selbstkontrolle der Medienproduzenten zu setzen oder gar allein auf den Markt, halten wir für einen gefährlichen Irrtum.

Wir wehren uns auch dagegen, Erziehung ausschließlich als Privatsache der Eltern und Angelegenheit der Schulen zu betrachten. Erziehung ist wie Bildung keine private, sondern eine öffentliche Angelegenheit. Sie geht alle an, und darum ist eine öffentliche Debatte über Erziehung dringend nötig.

Der Erziehungsnotstand

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