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VERNACHLÄSSIGT

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Ein siebenjähriges Kind sollte ein Geschenk verpacken können, schon mal in einen Bach oder Teich gefallen sein, zwei Sternbilder am nächtlichen Himmel kennen, ein Selbstporträt gemalt haben und eine Anekdote über die Großeltern wissen; es sollte ein paar Flüche in mindestens zwei Sprachen kennen, eine Nachtwanderung erlebt haben, ein Lied in einer fremden Sprache singen und ein Gedicht von Hölderlin aufsagen können und mehrere Tage im Wald gewesen sein.

Die Liste ist noch nicht zu Ende, und sie lässt sich von jedem Elternteil gut ergänzen. Nicht jeder einzelne Punkt ist verbindlich, Hölderlin durch Heine ersetzbar, der Fall ins Wasser durch einen Fall vom Baum oder die Sternbilder durch Kontinente und Länder auf dem Globus. Aber je länger die Liste der Fertigkeiten und je breiter das Wissen, desto besser.

Die Aufzählung stammt nicht von uns, sondern von der Kinderforscherin Donata Elschenbroich vom Münchner Jugend-Institut, die ein Buch über «das Weltwissen der Siebenjährigen» geschrieben hat.1 Es geht ihr dabei nur vordergründig um die Aufstellung eines Bildungskanons für Siebenjährige. Tatsächlich will sie zeigen, wie nachlässig wir unsere Kinder erziehen.

Weit über die Hälfte aller Eltern, so berichtet Elschenbroich, kümmere sich nicht gezielt um Bildungserfahrungen ihrer Kinder in genau jenen Jahren, die Entwicklungspsychologen für die entscheidenden halten. Keine Staffelei, Farben, Plakatwände, kein Zeltlager im Wald, kein Physik-, Chemie- oder Biologielabor im Haus, keine Werkzeuge wie Hammer, Feile, Säge, Meißel, kein Material, das sich mit diesen Werkzeugen bearbeiten ließe und schon gar kein Platz in der Wohnung, wo Kinder diese Werkzeuge erproben könnten.

Und keine Zeit der Eltern. Sie singen nicht mit ihren Kindern, erzählen ihnen keine Geschichten, machen keine Ratespiele mit ihnen, kein Quiz, kein Geländespiel, keinen «bunten Abend». Sie verschaffen ihnen zu wenig Bildungserlebnisse. Die Zeit der Eltern wird entweder von deren Jobs aufgefressen. Oder die Mutter hält es für wichtiger, ihr gesellschaftliches Leben zu pflegen und sich ihre Jugend im Fitness-Studio zu erhalten. Und der Vater braucht beim Drachenfliegen, Bergsteigen oder Mountainbiking einen Ausgleich zum stressigen Job im Büro. Viele Eltern beschränken das intensive «Sich-Kümmern» auf einige Wochenenden im Jahr und auf den Urlaub.

Manche Eltern schaffen es selbst dann nicht mehr, das Versäumte zu kompensieren, weil sie ausgebrannt sind. Sie haben nicht mehr die Nerven, sich mit ihren Kindern auseinander zu setzen. Oder auch nur keine Lust.

Derlei vernachlässigte Kinder findet man in den gehobenen Wohnvierteln genauso wie in den einfacheren. In einer wohl situierten Zone zwischen Frankfurt und Darmstadt, erzählt Elschenbroich, stellte eine Lehrerin fest, dass Kinder gerade mal drei Obstsorten benennen können: Äpfel, Bananen, Orangen. Auch das sei «Kinderarmut», kommentiert Elschenbroich, «relative Kinderarmut».

Dabei sind doch die ersten Jahre die wichtigsten. So, wie Mangel-, Fehl- oder Unterernährung in der Kindheit einen Menschen fürs ganze Leben schädigen können, so kann natürlich auch geistig-sinnlich-seelische Unterernährung das Leben von Menschen ruinieren. Nie wieder lernt man so leicht wie in der Kindheit.

Aber die Kinder besuchen doch den Kindergarten, die Vorschule – haben sie dort nicht die Gelegenheit zu singen, zu spielen, zu basteln und Geschichten zu hören? Da wird schon einiges geleistet. Doch selbst wenn dort wirklich gut mit den Kindern gearbeitet wird, diese Arbeit im Elternhaus aber keine Vorbereitung und keine Fortsetzung findet, dann wird auch die beste Arbeit im Kindergarten nur wenig fruchten.

Nun hängt, was in den Kindergärten passiert, sehr von den einzelnen Erzieherinnen und Kindergartenleiterinnen ab. Könnte es sein, dass es zu wenig ist? Oder das Falsche? Und die Eltern wiegen sich in der Gewissheit, im Kindergarten würde schon alles Notwendige getan und eigene Anstrengungen seien daher nicht nötig?

So viel über die Schule geredet wird, so wenig denken wir über den Kindergarten nach. Der war in der Vergangenheit hauptsächlich nur dann Thema, wenn es darum ging, die Berufstätigkeit der Frauen zu ermöglichen. Dass wir über die Qualität der Kindergärten kaum sprechen, hat wohl auch damit zu tun, dass wir zwischen Schule und Kindergarten strikt trennen. Die Leistungsgesellschaft, gar der «Leistungsterror», so glauben wir, treffe unsere Kinder schon früh genug, darum sollten unsere Kleinen wenigstens im Kindergarten noch ganz Kind sein dürfen und von allen späteren Zumutungen des Lebens und der Schule verschont werden.

Wahrscheinlich deshalb sind sich bei uns viele Eltern und Erzieherinnen darin einig, dass es pädagogisch wertvoller ist, wenn die Kinder in der Sandkiste spielen oder schaukeln, als sich in Englisch zu üben, erste Leseversuche zu machen oder mit Zahlen zu experimentieren. Eltern, die genau dies fordern, stehen sofort unter dem Verdacht, krankhaft ehrgeizig zu sein, und den Leistungsterror, wie in Japan, schon ins Vorschulalter zu verlegen.

Kein Zweifel, es gibt diese überehrgeizigen Eltern, die den Weg ihrer Kinder zum Vorstandsvorsitzenden oder Tennisprofi bereits im Vorschulalter anlegen möchten. Andererseits können wir Ergebnisse der Frühpädagogik und der Hirnforschung nicht ignorieren. Und von dort erfahren wir: Sprachen erlernt man nie wieder so leicht wie im Vorschul- und Kindesalter. In den ersten Lebensjahren lernen die Kinder ihre Muttersprache wie von selbst. Könnten sie nicht auch noch eine zweite Sprache dazulernen?

Alle zweisprachig aufwachsenden Kinder beweisen, dass dies funktioniert, und zwar ohne Leistungsdruck: Grammatik und Vokabellernen allein durchs Hören und Nachsprechen. Besonders gut scheint es zu funktionieren, wenn die Kinder die Sprache von Muttersprachlern hören.

In unserer Welt geht nichts mehr ohne die neue Lingua Franca – Englisch. Was also spricht dagegen, unter die Erzieher und Erzieherinnen unserer Kindergärten ein paar englische Muttersprachler zu mischen? Sollte man das Experiment nicht wenigstens ein paar Jahre lang riskieren?

Viele Kinder können schon ein bisschen rechnen, schreiben und lesen, wenn sie in die Grundschule kommen. Die Eltern, Großeltern oder älteren Geschwister haben es ihnen beigebracht. Offensichtlich sind schon Vorschulkinder reif für Buchstaben und Zahlen. Warum weigern sich viele Kindergärten dann hartnäckig, Kinder mit Buchstaben und Zahlen vertraut zu machen oder wenigstens jene Kinder zu fördern, die noch nichts können und anscheinend zu Hause niemanden haben, der ihnen etwas beibringt? Könnte der Kindergarten hier nicht ein bisschen Chancengleichheit realisieren?

Wer trotzdem meint, die unbeschwerte Kindheit nicht unnötig mit Lernanforderungen zu verkürzen, sollte sich einfach mal anhören, was Donata Elschenbroich sagt, die in der Welt herumgekommen ist: In der Reggio Emilia in Italien gibt es Kindergärten, in denen jedes Kind seine Staffelei hat und von Künstlern unterrichtet wird. In Japan haben Kindergärtnerinnen den gleichen Status wie Professoren, weil die Japaner wissen, wie wichtig die ersten Lebensjahre eines Kindes sind. Und wahrscheinlich sorgen die gute Bezahlung und das hohe Ansehen des Kindergartenpersonals auch für ein ausgewogeneres Verhältnis von Erziehern und Erzieherinnen.

An der Kinder-Akademie Fulda werden die Kinder von Handwerkern, Wissenschaftlern und Künstlern unterrichtet: «Die Kinder erfahren die Aura von Meisterschaft», sagt die Akademieleiterin Gabriele König. In Ungarn lernt ein Kindergartenkind in den ersten eineinhalb Jahren über 60 Lieder, weil die Ungarn ernst nehmen, was man schon lange weiß: Singen und Musizieren fördert die Intelligenz, auch die naturwissenschaftliche. Die Musik beansprucht gleichzeitig ganz unterschiedliche Fähigkeiten und Sinnesorgane und fordert so die ganze menschliche Lernfähigkeit heraus. Das alles erfordert eine hohe Konzentration und Aufmerksamkeit, und zugleich sind Sänger und Musikanten nicht nur rational und körperlich aktiv, sondern auch emotional, indem sie sich in die Musik untereinander einschwingen.

Aus all diesen Gründen wäre nicht weniger, sondern mehr Musikerziehung nötig. Schon im Kindergarten sollte man damit beginnen. Und in der Schule sollte man die Musik nicht gegen Mathematik, Naturwissenschaften oder andere «harte» Fächer ausspielen, denn das eine fordert das andere.

Elschenbroich hat 150 Gespräche geführt mit Psychologen, Großeltern, Erfindern, Grundschuldidaktikern, Erziehungswissenschaftlern, Physikern, Lehrern, Medizinsoziologen und Spielpädagogen und manch Erstaunliches gehört: «Was als kindgemäß angesehen wird, das ist oft unterfordernd», zitiert Elschenbroich den Grundschuldidaktiker Wolfgang Einsiedler. Kinder stünden in ihrer Denkfähigkeit den Erwachsenen keineswegs nach, geringer sei nur die Masse des erworbenen Wissens, sagt Rolf Oerter, Entwicklungspsychologe an der Universität München. Nur Zulassen oder Entwicklung ermöglichen sei daher nicht genug. Entwicklungsstimulierend müsse der Umgang mit Kindern sein. Doch für allzu viele unserer Kinder kommt oft die einzige Stimulanz nur noch vom Fernseher oder vom Gameboy.

Daran sind nicht nur die Eltern schuld. Das Kind, das einsam seine Zeit vor dem Fernseher oder mit dem Gameboy totschlägt, ist auch ein Opfer des Geburtenrückgangs in unserem Land. Früher, als wir noch Kinder waren, mussten wir nur auf die Straße gehen, um jüngere, ältere und gleichaltrige Spielgefährten zu treffen. Fast jedes Kind fand in seiner unmittelbaren Nachbarschaft andere Kinder und einen Raum, in dem es sich im Schutz seiner «Kinderbande» austoben konnte. Dieser Raum war nur selten ein Kinderspielplatz. Dieser Raum war einfach die Umgebung, in der man wohnte, und diese machte man zu seinem Spielplatz. Die Hinterhöfe, Spielstraßen, Stadtviertel und Dörfer gehörten früher nicht nur den Erwachsenen und den Autos, sondern auch den Kindern. Ohne Aufsicht der Erwachsenen eroberten wir unsere Umgebung und zogen oft stundenlang durch die Gegend.

Dann stieg die Zahl der Autos, und die Zahl der Kinder sank. In den Innenstädten explodierten die Grundstückspreise, die Wohnungen wurden immer kleiner und immer teurer, die Familien in die Vorstädte und ins Umland hinausgedrängt. Die Landschaft wurde zersiedelt, die Familien zerstreuten sich, die Kinderdichte nahm so weit ab, dass sich Kinder heute schwer tun, in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft noch Spielgefährten zu finden.

Als wir unser erstes Kind bekamen, lebten wir in München in einem Mietshaus, das von rund 30 Parteien bewohnt wurde. In diesem Haus war zuletzt vor 20 Jahren ein Kind geboren worden. In der gesamten Straße gab es außer unserer Tochter noch einen zwei Jahre älteren Jungen. Regelmäßigen Kontakt zu anderen Kindern bekam unsere Tochter erst ab drei Jahren, als sie in den Kindergarten ging. Dort fand sie zwei, drei Freundinnen, die zu besuchen aber immer erforderte, dass sich die Eltern ins Auto setzten.

Als das zweite Kind kam und wir in ein Haus umzogen, waren unsere beiden wieder die einzigen Kinder in der ganzen Straße. Was früher normal war – Kinder gehen aus dem Haus und treffen auf der Straße andere Kinder –, ist heute die Ausnahme. Wenn Kinder sich treffen wollen, müssen erst die Eltern telefonieren, den Terminkalender zücken, die eigenen Termine mit denen der Kinder, deren Freunde und Eltern abstimmen und dann noch regeln, wer wann wen wohin bringt und wieder abholt.

Die Lage verbesserte sich schlagartig, als wir von München nach Mainz umzogen, in einen Vorort mit Dorf-Charakter. Hier haben die Kinder genügend Spielgefährten, können sich im ganzen Ort ohne ständige Begleitung von Erwachsenen frei bewegen und sind nicht mehr auf die kinderüblichen Reservate – Kindergarten, Schule, Spielplatz – verwiesen. Es gibt ein Wäldchen, es gibt einen Teich mit Fischen, Enten, Fröschen, Kaulquappen, es gibt Wiesen, Felder, Bäume, Wasserlöcher, die nicht für Kinder gemacht und gerade deshalb interessant und geeignet sind, von Kindern zu Spielplätzen gemacht zu werden, heute hier, morgen dort.

Und das vollkommene Glück brach herein, als im Nachbarhaus eine Familie mit zwei Kindern ungefähr gleichen Alters einzog. Jetzt schlüpfen die Kinder mehrmals täglich durch die Hecke und fragen schon, wann wir die trennende Hecke abholzen ...

Dass viele Kinder heutzutage keine Spielgefährten mehr in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft finden, ist ein Bildungs- und Entwicklungshindernis ersten Grades. Und leider nur langfristig zu ändern, wenn überhaupt.

Der Erziehungsnotstand

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