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BILDUNG – WAS IST DAS EIGENTLICH?

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Wettbewerbsfähigkeit als wichtigstes Bildungs- und Erziehungsziel – das können wir nicht wollen. Die Fähigkeit, im Wettbewerb zu bestehen, ist überhaupt kein Bildungsziel, sondern bestenfalls ein Nebenprodukt gelungener Bildung und Erziehung. Was aber sollen wir unter «gelungener Bildung und Erziehung» verstehen? Wenn nicht Wettbewerbsfähigkeit das Ziel ist, was dann?

Der von Bildungspolitikern, Erziehungswissenschaftlern, Lehrern, Eltern und Funktionären voll geschriebene Wunschzettel ist lang. «Praktische Lebenstüchtigkeit» finden wir darin genauso wie «das zur Orientierung in einer komplexen Welt notwendige theoretische Rüstzeug» oder «die Fähigkeit zu unternehmerischem Denken und selbständigem Handeln» plus «Allgemeinwissen», «Weltkenntnis», «Mehrsprachigkeit», «Zukunftsfähigkeit». Darüber hinaus sind «Schlüsselqualifikationen» gefragt, wie etwa die «Fähigkeit zur Kritik, zu Einspruch und Widerstand» oder «innovatives Denken und Handeln». Und natürlich das, was schon immer gefragt war: analytisches Denken, Rationalität, Vernunft, Phantasie, Mut und Eigeninitiative. Ebenfalls auf der Liste stehen: der «mündige Bürger», «Zivilcourage», «Verantwortungsbewusstsein», «Heimat- und Vaterlandsliebe», neuerdings auch noch die «deutsche Leitkultur» und, ganz neu, die «literacy», was immer das sei.1

Solche Aufzählungen beginnen meist mit dem Wunsch, in einer Welt, in der jeder einzelne zu lebenslangem Lernen verurteilt sei, möge möglichst jeder das Lernen gelernt haben. Am Ende steht die altehrwürdige Forderung, Bildung solle die im Menschen schlummernden Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen. Oft muss auch das Bonmot herhalten, Bildung sei das, was übrigbleibt, wenn wir das in der Schule Gelernte wieder vergessen haben.

Wenn auch wir noch ein paar Wünsche äußern dürfen: Wir hätten gern noch den Humor dabei, die Fähigkeit zur Selbstironie und das Eingeständnis, dass sich Schulversager und Bildungsverweigerer manchmal zu den interessantesten Persönlichkeiten entwickeln.

Das ist schon ziemlich viel. Aber selbst, wenn alles abgehakt wäre, wäre das Ergebnis wirklich der rundum gebildete Mensch? Wohl kaum, denn Bildung ist etwas anderes als eine lange Reihe abgehakter Bildungs- und Erziehungsziele. Und viele Einzelposten in dieser Aufzählung haben mit Bildung wenig zu tun oder sind nichts sagend. Lebenstüchtigkeit zum Beispiel – verfugt darüber nicht auch die Kellerassel? Und der gemeinen Wanderratte gelingt die «Orientierung in einer komplexen Welt» ganz ohne Abitur.

Heinrich von Kleist hat in seinen jungen Jahren in der Armee gedient, war dort wohl nicht sehr glücklich und quittierte den Dienst, studierte Philosophie und wurde Dichter. Wäre er von seinen Eltern und Lehrern «fit für das Leben» gemacht worden, wäre er sicher Soldat geblieben. Als lebenstüchtiger preußischer Armeeoffizier hätte er auch nicht den «Zerbrochenen Krug» geschrieben, der beim Publikum durchfiel, nicht die «Penthesilea», die ebenfalls floppte, und auf keinen Fall mehr den «Prinzen von Homburg», ein Misserfolg, der Kleist in den Selbstmord trieb. Spätestens nach dem «Krug»-Debakel hätte ein zu unternehmerischem Denken erzogener Dichter sich am Markt orientiert, gefälligere Stücke geschrieben, Erfolg gehabt, Henriette Vogel geheiratet, Kinder in die Welt gesetzt und seinen Dienstboten gesagt, wann der Rasen zu mähen ist. Dann wäre Kleist heute zwar vergessen, aber hätte alle Tüchtigkeitskriterien unserer Wettbewerbsgesellschaft erfüllt.

Tüchtigkeit darf schon sein, aber zur Bildung steht sie in einem eher losen Zusammenhang, ähnlich locker wie die allerorten eingeklagte «Zukunftsfähigkeit». Wenn wir wüssten, wie die Zukunft wird, spräche nichts gegen den Versuch, unsere Kinder auf ihr zukünftiges Leben vorzubereiten. Mit Bildung hätte auch das wenig zu tun, und da sich bisher schon jeder Prophet blamiert hat, sobald er konkret wurde, dürfen wir das Wort Zukunftsfähigkeit getrost im Museum für sinnlose Vokabeln entsorgen. Am besten im Doppelpack mit «Lernen lernen», dem jüngsten Modebegriff der Bildungsplaner.

Radfahren lernt man, indem man Rad fährt, Lesen lernt, wer liest, und Lernen lernt, wer irgendetwas lernt, sei es Schreiben, Rechnen, Autofahren, Schwimmen oder die Kaninchenzucht. «Lernen lernen» – das funktioniert nicht ohne Inhalt und nie ohne Vorwissen. Die Vorstellung, nur noch das Lernen zu lernen und den Rest aus dem Internet abzurufen, ist Unfug.

Europa erlebe «die blutigste Bildungsrevolution seit der Renaissance», lasen wir in einem Magazinartikel zum Thema Bildung.2 Seit der Entdeckung Amerikas und der Erfindung des Buchdrucks habe es «einen solchen Angriff auf die Köpfe des Nachwuchses nicht mehr gegeben: die Entdeckung der globalen Wissenswelt».

Wir wissen nicht, ob sich der Verfasser solcher Sätze täglich den Kopf blutig schlägt an seinem Monitor oder ob die «globale Wissenswelt» heimlich den alten Adel der Gutenberg-Galaxis guillotiniert. Aber wir registrieren leicht verstört ein Anschwellen des Stroms kopflos in die Welt gesetzter Gedanken und Wortschöpfungen, seit es den Computer und das Internet gibt.

Das neueste Treibgut, das wir in diesem Strom entdeckten, ist die «literacy», die offenbar vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in den Fluss geworfen wurde.3 Angemessen übersetzen ließe sich die Kreation nicht, hören wir von dort, aber gemeint sei wohl, «dass Schüler lernen sollen, Probleme zu lösen und dann mit anderen Menschen darüber zu reden. Oder umgekehrt».4

Viel mehr als bloßes Gerede ist das nicht, auch dann nicht, wenn Politiker, Unternehmer und Manager ins selbe Horn stoßen und fordern, die Schule solle weniger Paukstoff verabreichen, weniger Problemlösungen liefern, als vielmehr das Lösen von Problem üben, weil doch Wissen heutzutage so schnell veralte. Das klingt gut. Doch erstens war die Fähigkeit, Probleme zu lösen, schon immer und überall gefragt. Die alte Industriegesellschaft hätte sich sonst nicht entwickeln können. Und zweitens muss, wer lernen will, wie man Probleme löst, erst einmal in der Lage sein, ein Problem überhaupt zu erkennen und zu verstehen. Dazu muss er über Grundlagenwissen verfügen und zusätzlich lernen, welche Probleme andere vor ihm auf welche Weise gelöst haben. Das geht leider nicht ohne Pauken, Memorieren und das Verstehen einfachster Zusammenhänge.

Wer nicht weiß, was ein Motor ist und wie man ihn baut, wird kaum in der Lage sein, einen bestehenden Motor zu verbessern. Wer nicht weiß, wie ein Computerprogramm funktioniert, wird auch keines entwickeln können.

Die Forderung, ein Schüler möge doch bitte lieber Probleme lösen, statt zu pauken, ist ungefähr so sinnvoll wie die Forderung, ein Klavierschüler solle lieber bachsche Fugen spielen und komponieren lernen, als sich in Fingerübungen zu ergehen.

Die Schule kann also gar nicht anders, als mit Fingerübungen – der Vermittlung von Grundkenntnissen, Grundfertigkeiten, Wissen und Problemlösungen – anzufangen. Danach mag sie darüber hinausgehen und die Schüler anleiten, selbständig Probleme zu lösen. Dennoch zählt auch die Problemlösungskompetenz eher zu den Merkmalen des tüchtigen als zu denen des gebildeten Menschen.

Ein weiteres Kennzeichen der Epoche sei die Explosion des Wissens, hören wir. Neues Wissen wird immer schneller in wachsenden Mengen produziert, und so schnell, wie es wächst, veraltet es auch. Wegen dieser nun ebenfalls schon leicht angestaubten Binsenweisheit wird seit rund einem Jahrzehnt alle paar Monate die «Revolution des Lernens» ausgerufen. Diese Kette von Revolutionen ereignet sich zwar überwiegend nur auf Papier, gebiert aber laufend neue Mode- und Schlagwörter: Cyberlearning, Teleteaching, Learning by earning, Learning to be, Lernen mit der Maus, Bildung per Klick, Medienkompetenz, Schlüsselqualifikation, die vernetzte Schule, die virtuelle Universität, High-End-Bildung, schließlich der Schritt «von der Belehrungskultur zur Lernkultur».

Unser Wissen mag sich explosionsartig vermehren, und es mag schneller veralten, als man es lernen kann – deshalb auf die Aneignung von Wissen in der Schule zu verzichten und nur noch oder hauptsächlich zu lernen, wie man lernt und wie man Wissen rasch erwirbt und wieder vergisst, wäre albern. Bei dem täglich neu entstehenden Wissen handelt es sich zum größten Teil um Spezialwissen, über das zu verfügen nur für kleine Personenkreise wichtig ist. Alle anderen dürfen es getrost ignorieren.

Natürlich wächst – in erheblich geringerem Maß – neben dem Wissen für Spezialisten auch jenes Wissen, das alle betrifft. Dieses Wissen wird aber niemand verstehen, der nicht schon über ein bestimmtes Vorwissen verfügt. Ohne dieses Vorwissen könnte die Allgemeinheit das neue Wissen in seiner Bedeutung nicht einmal richtig einordnen.

Deshalb kommt es nicht darauf an, dass die Schule mit der Wissensexplosion Schritt hält, sondern darauf, dass sie ein solides Vorwissen vermittelt. Jenes Vorwissen, das Bestand hat, sich kaum ändert, aus Büchern ebenso gut bezogen werden kann wie aus Monitoren und unbedingt nötig ist, um das neu hinzukommende Wissen überhaupt verarbeiten zu können.

«Einen bürgerlichen Bildungsschatz gibt es nicht, es gibt überhaupt kein zeitloses Wissen», sagt Erika Risse, die Direktorin am «Haus des Lernens» in Oberhausen. Dieses Gymnasium ist unter deutschen Schulreformern berühmt als «Großversuch für die Produktion weltoffener, verantwortungsbewusster, neugieriger und unglaublich kritischer junger Menschen», wie der Spiegel die Schule beschreibt. Mit dem Bildungsschatz mag Risse Recht haben, mit dem zeitlosen Wissen hat sie nicht Recht. Das gibt es sehr wohl. Die lutherische Reformation, die Musik Beethovens, Goethes Faust, die Newtonschen Gesetze und deren Korrektur durch Einstein – dies alles bleibt, und es bleibt weiterhin wichtig.

Der pythagoreische Lehrsatz gilt auch in tausend Jahren noch, und wer Physiker, Astronom oder Architekt werden will, muss zuerst die geometrischen Zusammenhänge in einem rechtwinkligen Dreieck und vieles andere begriffen haben, bevor er überhaupt Physiker oder Architekt werden kann. Das Studium dient dann dazu, sich das für einen Physiker oder Architekten nötige Spezial-Vorwissen anzueignen. Erst danach, im Job, muss der Physiker oder Architekt mit der Entwicklung seines Fachgebiets Schritt halten.

Aus diesem Grund kann die Wissensexplosion die Schule kalt lassen. Ihr Metier ist nicht das Tageswissen, sondern das Jahrtausend- und Jahrhundertwissen, und davon befindet sich gegenwärtig nur der geringste Teil im Internet oder auf CD-ROMs.

Wer sich systematisch Wissen aus den verschiedensten Teilen der Wirklichkeit aneignet, verfügt über Allgemeinwissen. Man spricht dann auch von einer guten «Allgemeinbildung». Diese ist immer noch wesentlich, aber auch sie sollte man nicht mit Bildung verwechseln.

Und was muss ein Gebildeter wissen? Vielwisserei ist noch keine Bildung. Wichtiger als die Menge und wichtiger als das «Was» ist das Verständnis des Gewussten. Das setzt voraus, dass man sein eigenes Wissen strukturieren kann. Dort, wo Wissen nicht zusammenhängt, versucht der Gebildete, «einen Zusammenhang herzustellen, oder wenigstens zu verstehen, warum dies schwer gelingt», sagt der Philosoph Robert Spaemann.5

Bei solchem Bemühen hilft der unstrukturierte Datenhaufen des Internets nur wenig. Der Bildungseffekt, der sich aus der zielgerichteten Lektüre eines Buches von vorne nach hinten ergibt, dürfte daher ungleich nachhaltiger sein als das eher zufällige Herumstreunen in den meist zufällig miteinander verlinkten Hypertexten des Internets.

Der Erziehungsnotstand

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