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Die Wirtschaft fordert – die Politik reagiert

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Die PC-Ausstattung einer Schule ist wohl kaum das Kriterium für deren Qualität. Computer sind ein Nebenproblem. Wir fürchten, dass für die Lösung dieses Nebenproblems so viele Milliarden verpulvert werden, dass für den Kampf gegen den eigentlichen Notstand – Lehrermangel, Raumnot an den Schulen, veraltete Lehr- und Unterrichtsmethoden, Reformstau im Bildungssystem, Vernachlässigung der Erziehung aus Zeitmangel, aggressive, überforderte, verwöhnte, verwahrloste Kinder – keine Mark mehr übrig bleibt.

Es muss klar gesagt werden: Wir haben keinen Internet-Notstand, sondern einen Erziehungsnotstand.

Auf diesen Notstand hinzuweisen scheint uns auch deshalb geboten, weil ein schon lange zu beobachtender Trend nun auch unsere Schulen erreicht hat: der Trend zum Primat der Ökonomie. Unter diesem Primat wird das, was wir einmal unsere Heimat genannt haben, seit etlichen Jahren zum Industriestandort planiert, an dem alles unterbleibt, was sich erst nach langer Zeit oder gar nicht rechnet.

Unter diesem Primat verkümmert Politik zur möglichst schnellen und reibungslosen Anpassung an echte oder vermeintliche Erfordernisse des internationalen Wettbewerbs. Die Marketingstrategen der jeweils regierenden Politiker verkaufen uns die Vollstreckung angeblicher Sachzwänge und den Verzicht auf einen eigenen Gestaltungswillen als «Modernisierung». Unter dem Primat der Ökonomie verkommen unsere Universitäten zu bloßen Zulieferbetrieben der Wirtschaft. Der Zweck solcher Hoch- und Fachhochschulen erschöpft sich in der Lieferung von Personalnachwuchs, «Human Resources» – also Menschenmaterial für die Schlacht um Marktanteile, Technologietransfer und Know-how.

Wenn wir in Deutschland den Mangel an Experten für Informationstechnik «schneller beseitigen können als anderswo», dann «sind wir plötzlich ein rohstoffreiches Land», sagt Thomas Heilmann, den Direktor der Werbeagentur Scholz & Friends. Und der Rohstoff, der «ist da drin», sekundiert der Mathematik-Professor Josef Nietzsch, der mit dem Zeigefinger an seiner Schläfe bohrt.1

Rohstoffe, Know-how, Technologien, Computer, Internet, IT-Experten – das sind die Begriffe, die unsere Debatten dominieren. Von Bildungszielen ist nicht mehr die Rede, es sei denn, man lässt «Wettbewerbsfähigkeit» als Bildungsziel gelten. Es wäre dann das einzige, das wir noch haben, und unser Bildungssystem wäre konsequenterweise eine Einrichtung, in die man vorne einen Schüler hineinschiebt und hinten einen Siemens-Ingenieur herauszieht.

So ein Bildungssystem wollen wir nicht.

Um Miss Verständnissen vorzubeugen: Uns scheint die Klage der Wirtschaft über die Praxisferne unserer Hochschulen nicht durchweg unberechtigt. Selbstverständlich können die durch Computer und Internet ausgelösten Entwicklungen nicht spurlos an unserem Bildungssystem vorbeiziehen. Und wir verkennen nicht die Nöte einer Wirtschaft, die einem globalen Wettbewerb von beispielloser Härte ausgesetzt ist.

Aber uns ärgert, dass Bildung in den letzten zwei Jahrzehnten kaum ein Thema war und jetzt nur deshalb zum Thema wird, weil der Industrie die Programmierer und Netzwerkspezialisten fehlen und den Bildungsministern die Lehrer, die sie zwei Jahrzehnte lang nicht eingestellt haben. Uns ärgert, dass die politische Willensbildung in unserem Land generell nach diesem Muster abzulaufen scheint – die Politik reagiert erst, wenn es die Wirtschaft fordert oder erlaubt.

Nach dem gleichen Prinzip ändern sich jetzt auch die Ausländer- und die Familienpolitik. Ein Viertel Jahrhundert lang haben Frauen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gefordert. Vergeblich. Und seit einem Vierteljahrhundert ist bekannt, dass die Deutschen wegen des Geburtenrückgangs auszusterben drohen. Konsequenzen hatte das nicht.

Erst jetzt, da der Wirtschaft die qualifizierten Frauen fehlen und sie zu erahnen beginnt, wie eine alternde, schrumpfende Bevölkerung die Bilanzen zu verhageln droht, fordern auch konservative Politiker und Funktionäre Ganztagsschulen, mehr Geld für die Familien und den problemlosen Wechsel zwischen Familie und Beruf.

Ohne den Segen der Wirtschaft scheint also in unserem Land nichts mehr zu gehen, und schon gar nichts gegen sie. Für ein demokratisches Land, in dem nicht die Wirtschaft, sondern das Volk der Souverän ist, ist das ein untragbarer Zustand. Wir möchten, dass im Ganzen, wie in seinen Teilen, der Politik wieder der Vorrang vor der Ökonomie gebührt.

Wir halten nichts davon, klassische Bildungsziele zugunsten von bloßer Wettbewerbsfähigkeit und technisch-wirtschaftlicher Tüchtigkeit über Bord zu werfen. Wir wollen, dass unsere Schulen und Universitäten wieder dem Zweck dienen, für den sie ursprünglich einmal erfunden worden sind: Bildung und Erziehung. Das ist mehr als bloßes Fitmachen für künftige Jobs, das ist mehr als bloße Vermittlung von Wissen, Kenntnissen und Fertigkeiten, und es ist mehr als die bloße Anpassung der Kinder und Jugendlichen an die Vorgaben des Arbeitsmarkts.

Noch behaupten ja unsere Wirtschaftsfunktionäre und die ihnen zugeneigten Leitartikler und Politiker, wenn sie mal besonders feierlich werden, ein paar höhere Ziele zu kennen als nur Wettbewerbsfähigkeit. Noch beschwören unsere Eliten die Wertegesellschaft, in der wir angeblich leben. Das mag von vielen bloß noch geheuchelt sein, aber selbst der, der heuchelt, der also öffentlich die Norm lobt, und heimlich dagegen verstößt, erkennt damit immerhin die Gültigkeit der Norm noch an. Wenn die Norm «Wertegesellschaft» also gültig ist, dann können nicht die Normen einer Wertpapiergesellschaft zu Bildungszielen erhoben werden.

Darum meinen wir: Nicht nur Eltern, Lehrer und Bildungspolitiker sollten die Schule und ihre Schüler vor dem Zugriff der Wirtschaft schützen, sondern die Wirtschaft selbst sollte in ihrem eigenen Interesse mehr Zurückhaltung üben und der Schule den Freiraum überlassen, den sie braucht. Gut erzogene und umfassend gebildete Menschen sind garantiert wettbewerbsfähiger als Ungezogene und Halbgebildete.

In immer kürzer werdenden Abständen beklagen sich die Lehrer über ihre unmotivierten, uninteressierten, schlecht erzogenen, faulen Schüler, schimpfen Eltern über unmotivierte, uninteressierte, häufig krankfeiernde Lehrer. Professoren stöhnen über studierunfähige Studenten, Politiker warnen vor wachsender Jugendkriminalität, Neonazismus, Gewalt an den Schulen und unter Jugendlichen, und Wirtschaftsfunktionäre mokieren sich über die schlecht ausgebildeten Berufsanfänger und das stetig sinkende Niveau unserer Schulen und Hochschulen.

Wenn sie alle einsähen, dass der Grund ihrer Klagen nicht nur in den Eltern oder Schülern oder Lehrern und auch nicht allein in der Bildungspolitik zu suchen ist, sondern auch in unserer Konkurrenz-Gesellschaft und in unseren Trash-Medien, die alles tun, die Köpfe unserer Kinder und Jugendlichen mit ihrem medialen Junkfood zu verstopfen – wenn das von allen Beteiligten eingesehen würde und Konsequenzen hätte, dann wäre schon einiges in Bewegung gekommen. Dazu möchten wir mit diesem Buch beitragen.

Der Erziehungsnotstand

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