Читать книгу Das Glasscherbenviertel - Erinnerungen eines Lausbuben - Christian Oberthaler - Страница 6
Die Bewohner - Artenvielfalt
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Im Glasscherbenviertel herrschte eine wunderbare Vielfalt an Berufen und Ständen. Pensionisten, Handwerker, ehemalige Bürgermeister, Kaminkehrer, Taxiunternehmer und Gemeindepolizisten teilten sich den Lebensraum. Natürlich war nicht alles eitel Wonne und es konnte durchaus zu fallweisen Meinungsverschiedenheiten und Konflikten kommen. Aber im nachhinein betrachtet waren diese eigentlich eher harmloserer Natur und konnten bei einem Gläschen Wein oder einem Seidl Bier mehr oder weniger problemlos aus der Welt geschafft werden. Im Großen und Ganzen verstand und respektierte man sich. Dauerhafter Zank wäre auch viel zu nervenaufreibend gewesen, denn bei der überschaubaren Fläche des Wohnviertels, lief man sich ja zwangsläufig ständig über den Weg. Man traf sich beim Weg zur Arbeit, im nahegelegenen Greisslerladen, auf dem Wäschplatz oder in einer der umliegenden Gaststätten. Sich auf Dauer aus dem Weg zu gehen hätte wohl eindeutig zuviel Mühe und Energie gekostet.
Wie oft hört oder liest man heute davon, dass jemand mitten in einer Wohnsiedlung verstirbt und erst nach Monaten aufgefunden wird.
Damals wohl undenkbar, denn Nachbarschaft war zu jener Zeit nicht bloß ein Wort, sondern wurde wirklich gelebt. Es bestand noch nicht die Gefahr, mitten unter Menschen einsam zu sein. Jeder kannte jeden und man stritt, zankte, lachte, weinte, feierte gemeinsam. Die Hausfrauen halfen sich bei Bedarf untereinander mit Milch, Mehl oder Gewürzen aus und wenn am Abend jemanden im Einserhaus (Haus Nr. 1) die Hühneraugen drückten, so war man am Morgen bis zum Dreierhaus (Haus Nr. 3) hinunter leicht besorgt darüber. Der siedlungseigene Geheim- und Informationsdienst funktionierte also prächtig, und so war es kaum möglich über einen längeren Zeitraum etwas wirklich zu verbergen. Mochte dies auch manchmal unangenehm sein, so war es doch nicht zu ändern, und vielleicht ist ja eine gewisse „Gschaftlhuberei“ unter Nachbarn immer noch das wesentlich geringere Übel als Gleichgültigkeit.
In den heutigen Wohnsilos soll es ja vorkommen, dass Menschen jahrelang Tür an Tür wohnen und wenn sie sich im Stiegenhaus begegnen, halten sie sich gegenseitig noch immer für den Wochenendbesuch eines anderen Mieters. Die heutigen Wohnungskosten tun ein Weiteres dazu, denn kaum hat man sich einigermaßen das Gesicht des neuen Nachbarn eingeprägt, ist er im günstigsten Fall freiwillig umgezogen oder aber aufgrund akuter Zahlungsschwierigkeiten delogiert worden. Aber das gehört nicht hierher und wir wollen wieder zurückschauen in die gute, alte Zeit, in welcher natürlich nicht alles gut war, aber vieles menschlicher.
Wie bereits erwähnt war die Macht des Bildschirmes über die Menschen noch nicht eine so gewaltige und beherrschende wie in unseren Tagen. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als bei uns zuhause das Fernsehen Einzug hielt und wir mit unglaublichem Enthusiasmus im Wohnzimmer verharrten um das Testbild anzustarren.
Zu leichten Familienzwistigkeiten kam es dann, als mein Onkel Pepi, welcher ein handwerkliches Genie war, mittels genauer Platzierung der Zimmerantenne versuchte einen besseren Empfang zu erzielen. Er war der festen Überzeugung mehr Bildschärfe zu erzielen, wenn er das Fensterbrett erklimmen und die Antenne ins Freie halten würde. Mit viel Mühe konnte meine Tante Helli dies vereiteln und so einen kapitalen Absturz verhindern. Wenngleich dazu zu bemerken ist, dass wir im Erdgeschoß wohnten und somit ein größeres Verletzungsrisiko ohnehin nicht gegeben war.
Dass Petzibär und Kasperl in 3-facher Kontur über den Bildschirm hüpften und Herr Zimmermann die Aktenzeichen-xy Fälle etwas verschwommen löste, tat unserer Begeisterung für das neue Medium keinen Abbruch.
ORF 1 und ORF 2 erfüllten die Sehnsüchte der Zuseher, und von den damals erzielten Quoten können heutige Fernsehmacher nur träumen. Dieser Umstand war aber nicht so sehr auf die Genialität der Programmdirektoren vom Küniglberg zurückzuführen, sondern wohl eher auf die Tatsache, dass es keine Alternative zu den österreichischen Sendern gab.
Wir jungen TV-Konsumenten waren nicht den Gefahren der heutigen TV- Welt ausgesetzt, in welcher blutrüstige Szenen und Brutal-Action an der Tagesordnung sind. Emma Peel und John Steed bezwangen ihre Gegner nicht mit Brachialgewalt, explodierenden Fahrzeugen und Massenvernichtung, sondern eben stilvoll mit Schirm, Charme und Melone.
So konnte man ohne Schaden an Geist und Seele zu nehmen nach dem Fernsehabend friedlich entschlummern und wir heranwachsenden Knaben träumten nicht von einem Amoklauf mit halbautomatischen Waffen, sondern von Diana Rigg im hautengen Hosenanzug.
Auch für die Weiterbildung war gesorgt, zumal wir doch bei der damals sehr beliebten Sendung Quiz 21 wesentlich mehr von der Welt erfuhren, als die heutigen Kids bei Heidi Klum samt ihren wandelnden Kleiderständern.
Nur manchmal erhob Oma mahnend den Zeigefinger und wies auf die Gefahr allzu großer Freizügigkeit dieses für uns neuen Mediums hin. Was aus heutiger Sicht natürlich leicht paranoid anmutet, zumal das Höchstmaß an Erotik, welches uns im TV zugemutet wurde, die bezaubernde Jeannie in ihrem „aufreizenden“ Schleierkostüm war.
Gottseidank musste meine Oma nicht mehr miterleben wie leicht bekleidete Damen im Dschungelcamp Würmer verspeisen und in Nachmittag-Talkshows so fundamental wichtige Themen wie „Hilfe, ich bin Pornosüchtig“ oder „E.T. hat mich entführt und vergewaltigt“ abgehandelt werden.
Trotz der glorreichen neuen Errungenschaft der Television fand man nach Feierabend noch Zeit zum Tratschen, Kartenspielen, Spazierengehen oder einfach dazu, die Familie zu vergrößern. 3 Kinder oder mehr pro Haushalt waren trotz der begrenzten Wohnverhältnisse keine Seltenheit. Gerade diese Kinder, diese unwahrscheinlich kreative Rasselbande, welche dort im wahrsten Sinne des Wortes regierte, war aber hauptverantwortlich dafür, dass man diese Siedlung ehrfurchtsvoll als GLASSCHERBENVIERTEL bezeichnete.
Man kann sich vorstellen, dass es sich beim hoffnungsvollen Nachwuchs in diesem Viertel nicht gerade um eine Ansammlung von Musterknaben und wohlerzogenen höheren Töchtern gehandelt hat. Gottseidank, wie ich voller Überzeugung behaupten darf, denn sonst wären meine Jugendjahre nicht so (vorsichtig ausgedrückt) vielfältig, bunt und prägend gewesen und die folgenden, in diesem Buch beschriebenen, Erlebnisse wären bestenfalls so erheiternd wie das Telefonbuch von Klosterneuburg oder die Betriebsanleitung einer chinesischen Waschmaschine.