Читать книгу Nur die allergrössten Kälber wählen ihren Metzger selber - Christian Schmid - Страница 5

Vorwort

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Seit Jahrtausenden brauchen wir unsere Nutz- und Haustiere. Sie arbeiten für uns, wenn wir auf ihnen reiten, wenn sie für uns Lasten tragen oder ziehen, wenn sie für uns Maschinen antreiben, wenn wir mit ihnen jagen, wenn sie uns mit ihren Kämpfen unterhalten. Sie sind für uns da, wenn sie uns warm geben und wir uns in ihrer Nähe weniger einsam oder sicherer fühlen. Sie liefern uns als lebende Tiere Produkte, die wir essen können: Eier und Milch. Mit ihrem Mist düngen wir unsere Felder. Wir schlachten sie, essen ihr Fleisch, verarbeiten ihre Häute zu Leder, benützen ihre Federn und Haare als Isoliermaterial oder Schmuck und verkochen ihre Knochen zu Leim. Dennoch ist unser Umgang mit ihnen fragwürdig: es fällt uns schwer, ihnen Rechte zuzugestehen. In der modernen industrialisierten Landwirtschaft, die so billig wie möglich produzieren will, behandeln wir viele von ihnen sehr schlecht und gönnen ihnen als hochgezüchtete Massenware nur eine kurze Lebenszeit. Für Nutztiere ist das Leben mit dem Menschen schwierig und oft schrecklich. Kuscheltiere werden hingegen nicht selten so verwöhnt und gehätschelt, dass sie abnorme Verhaltensweisen entwickeln. Einige von ihnen erben Vermögen und werden in Ehren bestattet.

Wir sind unseren Tieren sowohl zu- als auch abgeneigt. Das zeigt sich sehr deutlich in unserer Sprache. Selbstverständlich gibt es zahllose rührselige und sentimentale Pferde-, Hunde- und Katzengeschichten für Kinder und Erwachsene. Aber viel gängiger sind in der Alltagssprache jene sich auf Tiere beziehenden Wörter, Ausdrücke und Redensarten, mit denen wir spotten, schimpfen und beleidigen. Du Hornochse, Rindvieh, Esel, blöde Kuh und fauler Hund sagen wir, ohne auch nur im Ansatz zu überlegen, wen wir da beiziehen, um zu sagen, er oder sie sei dumm, blöd, faul oder störrisch. Wenn wir nicht mehr weiterwissen, können wir dastehen wie der Ochs vorm Berg oder die Kuh vor dem Scheunentor. Wer ausnahmsweise Erfolg hat, kriegt zu hören, dass auch ein blindes Huhn mal ein Korn findet. Wer in soziale Not gerät, kommt auf den Hund. Wer sich rüpelhaft benimmt, lässt die Sau raus.

Der Mensch achtet das Tier weniger als sich selbst, weil er als Homo sapiens die intellektuelle Fähigkeit erworben und Waffen entwickelt hat, jedes Tier, auch das grösste, zu jagen. Einige Tiere macht er sich dienstbar, indem er sie zähmt und züchtet. Der intellektuelle Vorteil, den er dem Tier gegenüber erworben hat, führt dazu, dass er sich als Krone der Schöpfung begreift und daraus das Recht ableitet, die Welt, auch die Tierwelt, zu beherrschen. Dieses Recht wird in der Bibel deutlich sanktioniert. Gott sagt Adam und Eva nach Genesis 1, 28:

«Seid fruchtbar, und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch, und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen.»

Noah gegenüber bestätigt Gott laut Genesis 9, 2–4 die Vormacht des Menschen in der Schöpfung; er bekräftigt damit das Ende des paradiesischen Friedens unter den Geschöpfen:

«Furcht und Schrecken vor euch soll sich auf alle Tiere der Erde legen, auf die Vögel des Himmels, auf alles, was sich auf der Erde regt, und auf alle Fische des Meeres; euch sind sie übergeben. Alles Lebendige, das sich regt, soll euch zur Nahrung dienen. Alles übergebe ich euch, wie die grünen Pflanzen. Nur Fleisch, in dem noch Blut ist, dürft ihr nicht essen.»

Die Worte sind klar. Weder Vegetarismus noch Veganismus lassen sich aus der Bibel begründen, obwohl das oft behauptet wird. Wohl lebten einige monastische Gemeinschaften ursprünglich fleischlos, doch die Fleischverbote wurden mit der Zeit gelockert oder ganz aufgehoben. Viele Theologen der frühen Neuzeit behaupteten, die Menschen hätten sich vor der Sintflut ausschliesslich von Pflanzen und Früchten ernährt, so auch der katholische Geistliche Hubertus Lommessen in seiner «Postilla» von 1628: «Ja biss zur zeit dess Sündfluss ist das Fleischessen gar nicht im brauch gewesen.» Nach der Sintflut jedoch habe Gott Noah klargemacht, dass auch das Essen von Fleisch, ausser an Fastentagen und in der Fastenzeit, gottgefällig sei. Das lehren viele Schriften aus der frühen Neuzeit. Hieronymus Bock erklärt in seinem «Kreütterbuch» von 1577 mit Bezug auf die Genesis:

«Erstmals aber / da der allmechtig Gott den Menschen Fleisch zu essen erlaubet / ward kein underschid Fleischs halben fürgeschriben. Dann also sprach Gott zu Noha unnd seinen Sönen / alles was sich regt unnd lebt / das sey ewer Speiss / wie das grün kraut hab ichs euch alles geben.»

Während Bock schreibt, Gott habe dem Menschen erlaubt, Fleisch zu essen, behauptet das «Compendieuse und Nutzbare Hausshaltungs-Lexicon» von 1728, Gott habe das Fleischessen verordnet: «Fleisch, ist diejenige Speise, die Gott uns Menschen von denen essbaren Thieren verordnet, und giebt das Fleisch eine gesunde, starcke und nahrhaffte Speise.» Der Arzt und Philosoph Paracelsus (1493–1541) argumentiert hingegen, dass der Mensch im Schöpfungsakt als Letzter geschaffen worden sei und daraus folge, «das der Mensch die Thier haben muss zu seiner Speiss / zu seiner Notturfft (seinem notwendigen Bedarf) / zu seiner Gesundtheit / etc.» Es gebe kein Tier auf der Welt, behauptet er, das nicht für den Menschen da sei.

Dass wir uns heute ermächtigt fühlen, vielen Tieren nur einen Gebrauchswert zuzugestehen und sie massenhaft in Tierfabriken zu halten, hat auch mit der Einschätzung des Tiers seit der frühen Neuzeit zu tun. Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Darüber wurde vom 16. bis ins 18. Jahrhundert heftig diskutiert, sowohl theologisch und wissenschaftlich als auch philosophisch, aber immer so, dass dem Menschen eine Sonderstellung zugestanden wurde. Der französische Philosoph René Descartes (1596–1650) behauptete, nur der Mensch verfüge über Geist. Tiere hatten, so seine Meinung, keine empfindende Seele, er hielt sie für eine Art komplexe Apparate. Andere, wie der Schweizer Arzt und Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733), behaupteten, das Tier habe eine Seele, aber eine ganz andere als die menschliche. Diese sei denkend, die tierische «ohne alle Vernunfft». Wieder andere behaupteten, sich auf antike Autoren berufend, Pflanzen hätten eine vegetabile, Tiere eine sinnliche und Menschen eine vernünftige Seele. Verstand und Willen kennzeichne den Menschen, behauptet ein Autor 1771, das Tier sei bloss sinnlich und unvernünftig. Wenn der Mensch seinen Verstand nicht einsetzt, handelt er wie ein unvernünftiges oder eben dummes Tier, ein animal irrationale, wie es im Lateinischen seit der Antike heisst. Im 16. Jahrhundert mahnt Martin Luther in einer Tischrede, der Mensch lebe dahin «ärger als ein Vieh». Er schätze Gottes Schöpfung nicht und missbrauche sie. Das sei «gleich als wenn eine Kuhe und unvernünftig Thier die aller schönsten und besten Blumen und Lilien mit Füssen träte».

Das Attribut dumm wird auch von Wissenschaftlern bis ins 19. Jahrhundert verwendet, um Tiere zu beschreiben; es wird sogar als Gattungsbezeichnung benutzt. Johann Matthäus Bechstein schreibt in seiner «Gemeinnützigen Naturgeschichte Deutschlands» von 1791 über «Das dumme Täucherhuhn»: «Es ist ein dummer Vogel, der sich leicht hintergehen lässt.» Das «Brockhaus Conversations-Lexicon» von 1888 belehrt uns, der Elch sei «ein scheues, aber dummes Tier». Und in der «Kleinen Schul-Naturgeschichte» von 1891 erklärt Samuel Schilling: «Das Nashorn […] ist ein grosses, fast 4 m langes, plump gebautes dummes Tier.»

Wir benützen noch heute dieses Vokabular, wenn wir andere beschimpfen und mit Tierbezeichnungen titulieren. Wir schätzen Tiere auf eine Weise ein, die einer frühneuzeitlichen Denkart entspricht, wenn wir sie in Massenhaltung dahinvegetieren lassen oder wenn wir sie zu Hochleistungsapparaten mit kurzer Lebensdauer hochzüchten mit Hilfe von Kraftfutter und Hormonen. Dabei ist längst erwiesen, dass zwischen Tier und Mensch, was den Aufbau des Zentralnervensystems und die kognitiven Fähigkeiten betrifft, kein absoluter, sondern nur ein gradueller Unterschied besteht. Viele Tiere können denken, sich erinnern, sich selbst in einem Spiegel erkennen, Werkzeuge brauchen, sich in arbeitsteiligen Gemeinschaften organisieren und auf unterschiedliche Weisen miteinander kommunizieren. Einige bilden sogar Staaten. Das bestreitet heute kein Wissenschaftler mehr und keinem würde es einfallen, in einer wissenschaftlichen Beschreibung ein Tier dumm zu nennen.

Wir sind, was viele unserer alltagssprachlichen Äusserungen und unserer Alltagsreflexionen über Tiere betrifft, nicht auf der Höhe unserer Zeit. Immer noch berufen wir uns auf die längst überholte Übereinkunft, dass der Mensch die Krone der Schöpfung sei und dass vom Menschen zum Tier ein absoluter qualitativer Unterschied bestehe.

Doch es tut sich etwas! Seit knapp fünfzig Jahren wird von verschiedenen Autorinnen und Autoren wie Garry Francione, Christine Koorsgaard, Lori Marino, der Gründerin des Kimmela Center for Animal Advocacy (kimmela.org), Richard Ryder, Peter Singer und anderen ein Umdenken im Tierrecht gefordert. Tierphilosophen beschäftigen sich mit Fragen, welche die Stellung, das Wesen und das Verhalten von Tieren zum Gegenstand haben. Bioethikerinnen, im speziellen Tierethikerinnen, fragen nach dem menschlichen Umgang mit Tieren und den moralischen Problemen, die sich daraus ergeben. Bücher wie Klaus Petrus’ «Tierrechtsbewegung» von 2013 und Daniel Wawrzyniaks «Tierwohl und Tierethik» von 2019 erklären einem breiten Publikum, was sich in dieser Sache tut.

All das beeinflusst unser Sprechen über Tiere, insbesondere die Stellung des Tiers in unseren alltäglichen Sprachbräuchen, bis heute kaum. Unsere Alltagssprache schöpft aus Redeweisen und Geschichten, die während Jahrhunderten von einer Generation an die nächste überliefert worden sind. Wir sprechen in der Regel, um verstanden zu werden, und fragen uns in den wenigsten Fällen, weshalb wir sagen, was wir sagen. Dieses Buch soll zeigen, in welchen Zusammenhängen unsere Tiere, d. h. die bekanntesten Nutz- und Haustiere, und das, was wir mit ihnen tun, in unserer Alltagssprache vorkommen, was wir über sie sagen und was wir mit ihnen über uns sagen.

Ich beschäftige mich in diesem Buch mit Wörtern, Ausdrücken und Redensarten, erzähle, wie und seit wann man sie in übertragener Bedeutung braucht und woher sie kommen. Dabei ist es mir sehr wichtig, dass ich mit Beispielen belege, was ich behaupte. Oft führt mich die Suche zurück bis in die Zeit der Renaissance, ins Mittelalter oder gar in die Antike, manchmal muss ich Sprachgrenzen überschreiten. Meinen Leserinnen und Lesern mute ich damit zu, dass sie Beispiele oder kleine Geschichten in älterem Deutsch lesen. Vielleicht versteht man nicht gleich alles im ersten Anlauf, aber viele dieser Zitate sind richtige Leckerbissen, pointierte, saftige, witzige, zuweilen bissige und böse Formulierungen; und die Geschichten sind manchmal, von unserem heutigen Standpunkt aus gesehen, unglaublich. Sie in die Gegenwartssprache zu übersetzen, hätte ihnen die ganze Wucht genommen, die sie in ihrer Fremdheit haben. Bei einzelnen Wörtern, die man kaum oder nicht versteht, habe ich die Übersetzung in runden Klammern direkt dahinter gesetzt. Manchmal musste ich ganze Sätze oder Texte übersetzen, vor allem auch wenn sie in einer uns fremden Sprache aufgeschrieben wurden. Für einige brauchte ich kundige Hilfe; den Helfern und Helferinnen danke ich herzlich. Für die meisten Bücher aus der frühen Neuzeit habe ich nur Kurztitel gesetzt, weil die vollständigen Titel oft unendlich lang sind, z. B. «Fleissiges Herren-Auge» statt «Fleissiges Herren-Auge, Oder Wohl-Ab- und Angeführter Haus-Halter, Das ist: Gründlich- und kurz zusammen gefasster Unterricht, von Bestell- und Führung eines nütz- und einträglichen Land-Lebens und Wirthschaft».

In Texten, welche in älterem Deutsch geschrieben sind, kommen Vokale mit übergesetzten Zeichen vor, z. B. ā und î; sie kennzeichnen lange Vokale. Meine mittelbernische Mundart schreibe ich nach Dieth, d. h. ich schreibe sie lautnah, die kurzen Vokale einfach, z. B. Chatz, strigle, Märe, die langen doppelt, z. B. Taape, hööch, naagää. Zitierte Mundart schreibe ich so, wie ich sie der Quelle entnommen habe. Auch die zum Teil abenteuerlichen Schreibungen von Internetbeispielen habe ich nicht verändert.

Mein wichtigstes Suchwerkzeug war das Internet. Im Internet stehen uns Tausende von Texten im Original zur Verfügung. Noch nie konnte, wer sucht, ein derart umfangreiches Textkorpus durchforsten. Man muss sich nur Zeit nehmen und mit unterschiedlichen Schreibungen und Wortformen spielen, immer und immer wieder. Ich kann mich heute nicht mehr ausschliesslich auf die in die Jahre gekommenen grossen Wörterbücher stützen, denn die Autoren dieser Wörterbücher mussten in Archiven und Bibliotheken ihre Belegstellen ausgraben. Weil sie nicht immer neu graben wollten, schrieben sie einander gerne ab, auch die Fehler.

Dennoch wäre meine Arbeit nicht möglich gewesen ohne grosse und kleine Wörterbücher und Nachschlagewerke aller Art. Was unsere Mundarten betrifft, ist das «Schweizerische Idiotikon» (idiotikon.ch) eine unentbehrliche Hilfe und eine unversiegbare Quelle der Freude für diejenigen, die suchen. In dieses Werk wurden neben Wörtern mit ihren historischen Belegen auch Tausende von Ausdrücken und Redensarten aufgenommen. Neben dem «Idiotikon» leisteten mir viele kleine regionale Mundartwörterbücher ebenfalls wertvolle Dienste. Die wichtigste deutsche Wörterbuchplattform im Internet ist «woerterbuchnetz.de», über die jetzt auch das «Idiotikon» zugänglich ist. Daneben findet man online grosse, frei benutzbare historische Wörterbücher in vielen Sprachen, wie z. B. «Le Trésor de la Langue Française informatisé (atilf.atilf.fr)» und den «Online Etymology Dictionary (etymonline.com)».

Ich hoffe, dass die Leserinnen und Leser dieser Geschichten viel Neues erfahren, schmunzeln, vielleicht auch lachen, und nachdenklich werden. Wenn das Buch ihr Interesse weckt und auf Fragen Antworten gibt, habe ich das Pferd nicht am Schwanz aufgezäumt und bin nicht wie die Katze um den heissen Brei herumgegangen.

Meiner Frau Praxedis danke ich für das Mitlesen und Mitdenken, Roland Schärer vom Cosmos Verlag für die ausgezeichnet aufmerksame und freundschaftliche Zusammenarbeit. Er hat dr Märe zum Oug gluegt!

Nur die allergrössten Kälber wählen ihren Metzger selber

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