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Das dumme Huhn

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Eine Frau oder ein Mädchen können wir, einer langen Tradition folgend, abschätzig als Huhn bezeichnen und sagen: Du Huhn, kannst du dich denn nicht konzentrieren? Eher nur herablassend ist das wohl aus dem afroamerikanischen Slang stammende Chick «junge Frau», das seit 1927 im amerikanischen Englisch belegt ist: He is going out with a real cool chick. Es ist heute im Deutschen als Lehnwort so bekannt, dass Alexandra Reinwarth und Susanne Glanzner im Buch «Der Chick-Code. Das Gesetzbuch für Chicks und den Umgang mit Bros» von 2011 Lebensregeln für Chicks formuliert haben. Auch im Französischen ist poule meist abwertend und bezeichnet eine leicht zu erobernde Frau oder eine Mätresse. Raimond Queneau erzählt in «Pierrot mon ami» von 1942 von einer «belle poule», Blaise Cendrars in «Bourlinguer» von 1948 von einer «poule de luxe».

Seit den 1990er-Jahren hat sich im Mittelbernischen henne zu einem Verstärkungswort mit der Bedeutung «sehr», verstärkt uhenne «ausserordentlich», entwickelt. Etwas kann hennegeil, henneschöön, hennegäbig oder uhenneguet, uhennekuul sein. In der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 14. Februar 2014 schreibt Urs Bühler in der Glosse «Eins zu null für das Hähnchen»: «Das Resultat schmeckte so, wie es zwar kein Berliner, aber jeder Berner formulieren würde: ‹henne guet›.» Und Reto Stifel ist in seiner Berndeutsch geschriebenen Mundartkolumne in der «Engadiner Post» vom 21. Februar 2015 begeistert vom Wort umepäägge: «Aber das Wort umepäägge gfaut mir haut henne guet», schwärmt er. Woher henne als Verstärkungswort kommt, weiss ich nicht. Ich wage folgende Vermutung: Denjenigen, die das Wort in Umlauf gebracht haben, hat wohl das etwas grobe sou- in Wörtern wie souschöön, souguet nicht behagt, vielleicht weil sie da oder dort gemahnt wurden, das gehöre sich nicht. Also ersetzten sie sprachspielerisch sou durch henne und sagten fortan henneschöön, henneguet. Und siehe da, ihre spielerische Alternative setzte sich durch.

Besonders hartnäckig ist am Huhn das Eigenschaftswort dumm haften geblieben. Auch wenn wir heute mehr über Tiere wissen, die Frauen emanzipiert sind und den Männern deshalb der Ausruf du dummes Huhn und Bemerkungen wie die benehmen sich wie dumme Hühner weniger leicht über die Lippen gehen mögen als auch schon, sind sie unserer Alltagssprache nicht fremd. Beklopptes Huhn, blödes Huhn, doofes Huhn, einfältiges Huhn, eingebildetes Huhn, geiles Huhn bzw. geile Henne, irres Huhn, krankes Huhn, schräges Huhn, verklemmtes Huhn, aussehen wie ein gerupftes Huhn, aufgescheuchte Hühner, gackernde Hühner und verrückte Hühner sind, auf Frauen gemünzt, gang und gäbe. Sogar Frauen, die sich über sich selbst ärgern, soll manchmal der Ausdruck ich dummes Huhn entwischen. Weil wir das Huhn für dumm halten, sagen wir da lachen ja die Hühner, wenn wir meinen «das ist einfach unsinnig, lächerlich». In Sten Reens Roman «Kornblum» von 2010 heisst es von einer Frau in expliziter Sprache, «dass sie ein saudummes, hohles Huhn war, ein gefallsüchtiges Arschloch».

Dem faulen Huhn begegnen wir nicht erst in Janoschs Geschichte «Hans Hansens Trine ist ein faules Huhn», sondern bereits 1675 beim Barockdichter Michael Kongehl: «pakke dich / du faules Huhn». Das fidele Huhn kann sowohl einen Mann als auch eine Frau bezeichnen; «der Jörgele war ein fideles Huhn», schreibt Ludwig Ganghofer in «Lebenslauf eines Optimisten» von 1909–1911. In einigen Mundarten der deutschsprachigen Schweiz bezeichnet e gschupfts Huen eine «närrische Person». Der Dichter Joachim Ringelnatz schrieb Fanny von Deeters in einem Brief vom 6. April 1926: «Du bist ein geschupftes Huhn.»

Sogar den Ausdruck wilde Hühner, mit dem man eigentlich nicht domestizierte Hühnervögel wie den Fasan und das Auerhuhn bezeichnet, übertrugen wir auf Frauen, vor allem seit 1973, als die deutsche Kinder- und Jugendbuchautorin Cornelia Funke ihre sehr erfolgreiche siebenteilige Buchserie «Die wilden Hühner» begann, von denen «Die wilden Hühner» (2006), «Die wilden Hühner und die Liebe» (2007) und «Die wilden Hühner und das Leben» (2009) verfilmt wurden. Ab 2010 zog der Kinderbuchautor Thomas Schmid mit der Kinderbuchserie «Die wilden Küken» nach, die bis heute über ein Dutzend Bücher zählt.

Dem Vorurteil, das Huhn sei dumm, widersprach der Verhaltensforscher Erich Baeumer. Er forschte fünfzig Jahre lang über die Haushühner und veröffentlichte seine Erkenntnisse 1964 in einem Buch mit dem ironisch gemeinten Titel «Das dumme Huhn – Verhalten des Haushuhns». Viele Zeitungen nahmen in den vergangenen Jahren das Thema auf, z. B. die «Aargauer Zeitung» mit «Von wegen dummes Huhn! – Hühner können zählen und führen sich für Sex hinters Licht» 2016; der «Kurier» mit «Von wegen dummes Huhn», der «Standard» mit «Wie dumm Hühner wirklich sind» und die «Welt» mit «Huhn: Von wegen dumm, das Geflügel ist ziemlich schlau» 2017; der «Blick» mit «Der Ausdruck ‹dummes Huhn› stimmt so nicht» 2018. Die Zeitungsartikel häuften sich in dieser Zeit, weil 2013 das Buch «Das Huhn», herausgegeben von Joseph Barber, erschienen war und weil 2017 die Hirn- und Verhaltensforscherin Lori Marino den viel beachteten wissenschaftlichen Artikel «Thinking Chickens: a review of cognition, emotion, and behavior in the domestic chicken» veröffentlicht hatte. Auffallen muss, dass sowohl Baeumer als auch die meisten Zeitungsartikel sich auf den Ausdruck dummes Huhn bezogen; was deutlich macht, wie oft wir ihn brauchen.

Doch die Mär vom dummen Huhn wird bis heute weiterverbreitet. Der Trickfilm «Fine Feathered Friend» von 1942 aus der Tom-und-Jerry-Serie von Hanna und Barbera hiess in der deutschen Übersetzung «Tom und das dumme Huhn». Schobert & Black veröffentlichten 1973 mit Ulrich Roski das Lied «Dummes Huhn, was nun». Der Inder Idries Shah (1924–1996), der in England lebte, erzählte die Sufigeschichte «The Silly Chicken – das dumme Huhn», die von Jeff Jackson illustriert 2015 als sehr erfolgreiches Kinderbuch erschien. Darin versetzt ein Huhn eine ganze Stadt mit seinen erfundenen Geschichten in Aufruhr. Die Leute glauben ihm, ohne nach seiner Glaubwürdigkeit zu fragen.

Für noch dümmer als das Huhn hielten viele ältere Autoren die erst im 17. Jahrhundert nach Europa eingeführte Pute oder das Truthuhn, welches bis ins 19. Jahrhundert auch welsches, türkisches, indianisches oder kalekutisches Huhn genannt wurde, weil man damals den aus Nordamerika stammenden Exoten in Indien beheimatete. «Die welschen Hühner [sind] so dumm», behauptet der Autor des «Magazins des Ausserordentlichen in der Natur, der Kunst und im Menschenleben» von 1816, «dass sie oft nicht sehen, wo sie hintreten». Dem widerspricht 1863 ganz zaghaft der Autor eines landwirtschaftlichen Handbuches: «Viele halten die Truthühner für sehr dumm – nach meinen Beobachtungen sind sie es jedoch nicht so sehr», schreibt er.

Die Dummheit der Pute und des Puters könnte aus dem Französischen ins Deutsche entlehnt worden sein, denn dort heisst bête comme un dindon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts «sehr dumm» und c’est un dindon «er ist ein Dummkopf». Auch die Bezeichnung dindonière «Putenhirtin» konnte man abwertend im Sinne von «dummer Dorftrampel» verwenden. Bereits 1790 wurde der dumme Truthahn deutsch. Im deutschsprachigen Schauspiel «Das Gallerie-Gemählde» behauptet eine Figur: «Der Mensch ist so dumm, wie ein Truthahn.» Zu Beginn des 19. Jahrhunderts finden wir dumm wie ein Puter in einem deutsch-französischen Wörterbuch und 1860 erklärt Johannes Leunis in der «Synopsis der Naturgeschichte des Tierreichs», der Puter sei sehr kampflustig, zänkisch und sehr dumm, «daher die Redensarten: dumm wie ein Puter; Puterjunker d. h. ein einfältiger, dummer Landjunker; putern, d. h. schnell und unverständlich reden». Heute sagen wir nicht mehr er ist dumm wie ein Puter, sondern sie ist eine dumme Pute bzw. dumm wie eine Pute, seltener sie ist eine dumme Trute, und verwenden damit einen Ausdruck, der seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts belegt ist. Auch von der blöden Pute liest man seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts oft. Die Bezeichnungen Pute und Trute beziehen sich übrigens lautmalend auf das Kollern der Tiere.

Auch die dumme Gans läuft dem dummen Huhn noch den Rang ab. Sie ist seit dem 18. Jahrhundert sehr verbreitet: «Lucretia war eine dumme Gans» (1746), «[sie] stellete sich nicht anders als eine dumme Gans an» (1748), «weil dieses Thier sehr dumm ist, so nennet man im gemeinen Leben einen dummen einfältigen Menschen eine dumme Gans» (1777).

Doch zurück zum Huhn. In Andreas Corvinus’ «Fons Latinitatis» von 1633 wird lateinisches Ambulatrix mit «Gassenhun» übersetzt, das in Denzlers Überarbeitung von 1715 erweitert wird zu «Gassenhun / weib so stäts auff der gassen / ein ausfrau / nicht hausfrau». Eine neugierige Frau ist nach einer Quelle von 1863 hingegen ein Gwunderhuen.

In den Mundarten der deutschsprachigen Schweiz unterstellt man mit dem Wort hüennere «unbedacht, kopflos gehen oder herumrennen» dem Huhn noch eine weitere negative Eigenschaft, die man auf den Menschen überträgt. Was hüennerisch eso uf d Straass use, kann ich ein Kind, das ohne zu schauen auf die Strasse tritt, vorwurfsvoll fragen. Ein Mensch kann desumehüennere oder umehüenere «ziellos herumgehen». Er kann Termine, Abmachungen bzw. Sachen verhüennere «durcheinanderbringen bzw. so verlegen, dass man sie nicht mehr findet». Eine Frau, die etwas verhüenneret, kann von sich behaupten, i bin es Huen oder i bin es stuurms Huen. Muss jemand mit einer neuen Situation zu Rande kommen, kann ich sagen: Er isch no chli verhüenneret «durcheinander», aber das besseret de scho. Ein Durcheinander ist ein Ghüenner oder eine Hüennerete.

Die Hühner, die auf der Suche nach Futter scheinbar ziellos durch die Gegend hüennere, lassen überall ihren Kot fallen. Diese Eigenart kommt in der Redewendung la lige wi d Hüenner dr Dräck «überall herumliegen lassen, unordentlich sein» und in der Ostschweizer Wendung all Henneschiss «immer wieder» zum Ausdruck.

Nur die allergrössten Kälber wählen ihren Metzger selber

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