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Der Balkan: Zwischen Gebirgszug, Pulverfass und Klischee

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Wie sicher ist die Lage im ehemaligen Jugoslawien?:

Bei einer Reportage über die Entminung nach den Balkankriegen

Der Begriff „Balkan“ hat nicht nur geografische, sondern auch zivilisatorische Bedeutung und war – auch politisch – großen Wandlungen unterworfen. Sie sind ein Produkt der politischen Umwälzungen im Europa des 20. Jahrhunderts; dagegen blieb die zivilisatorische (Ab-)Wertung, die mit dem Balkan-Begriff verbunden ist, weitgehend konstant. Zu den Konstanten zählt auch die Tatsache, dass der Balkan seit dem Zerfall seiner kurzlebigen mittelalterlichen Reiche nie Subjekt, sondern nur stets Objekt und auch Opfer der Politik europäischer und anderer Großmächte war und ist. Charakteristisch für diese Region ist die Vielzahl seiner Völker auf kleinem Raum, ohne dass sich jemals eine wirklich dominante Nation herausgebildet hätte. Hinzu kommt noch die Koexistenz von Islam und Christentum; die seit der Spätantike bestehende Teilung in West- und Ostrom (Byzanz) führte in weiterer Folge zur Teilung in katholische und orthodoxe Christen. Damit verbunden waren und sind beträchtliche Unterschiede in Kultur und Mentalität; sie hat die jahrhundertelange Zugehörigkeit zu den zwei führenden Mächten am Balkan, zum Habsburger-Reich und zum Osmanischen Imperium noch zusätzlich verstärkt. Diese beiden Imperien führten auch dazu, dass die Bildung von Nationalstaaten am Balkan erst sehr spät erfolgte und im ehemaligen Jugoslawien erst mit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovos im Februar 2008 als vielleicht abgeschlossen betrachtet werden kann.

Die territoriale Definition des Balkans ist zunächst das Ergebnis einer Fehleinschätzung des Berliner Geografen Johann August Zeune aus dem Jahr 1808. Zeune übernahm die Vorstellungen antiker Geografen, die geglaubt hatten, der Balkan (türkisch: Gebirge) erstrecke sich vom Schwarzen Meer bis zu den slowenischen Alpen. Doch eine derart vorherrschende Stellung wie der Apennin für die italienische Halbinsel, hatte das Balkangebirge für die Balkanhalbinsel nie.1) Als andere Geografen diesen Fehler erkannten, war es im Grund zu spät, der Begriff hatte sich bereits eingebürgert. An seiner Stelle wird nun öfter Südosteuropa verwendet, ein Begriff, der zivilisatorisch neutral ist, sich aber noch nicht wirklich durchgesetzt hat.2)

Die beträchtliche Nordverschiebung, die der Balkan begrifflich und zivilisatorisch binnen einhundert Jahren erlebte, zeigt auch ein Blick auf Karl Mays Romane. Bezeichnend ist schon der Sammelbegriff „Orienterzählungen“, unter dem jene sechs Bücher3) zusammengefasst sind, zu denen die Werke „Durch das Land der Skipetaren“ und „In den Schluchten des Balkan“ zählen. Geografisch spielen die Abenteuer im heutigen albanisch-montenegrinischen Grenzgebiet, im Kosovo, in Mazedonien, Bulgarien und in der Türkei. Die Karten in den Umschlaginnenseiten enthalten vorwiegend (türkische) Ortsbezeichnungen („Kalkandelen“ für Tetovo), erschienen diese Bücher doch zwischen 1881 und 1888. Viele dieser Namen sind vor allem im heutigen ehemaligen Jugoslawien praktisch verschwunden, und nicht nur die Reisekostenstelle des ORF hätte wohl erheblich Verständigungsprobleme, sollte ich ihr mitteilen, dass ich nach meinem Urlaub nun wieder in den Orient zurückgekehrt sei. Karl Mays Karten spiegeln eben die politischen Grenzen seiner Zeit wider, und bis zum Ende des Ersten Weltkriegs war Belgrad auch Grenzstadt. Daher gehörten natürlich weder die Vojvodina zu Serbien noch Kroatien zum Balkan.

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war am Balkan durch den schrittweisen Zusammenbruch der Osmanischen Herrschaft geprägt.4) Einen weiteren Rückzug brachten die Balkankriege 1912/13.5) Das Ende des Ersten Weltkriegs und der Zusammenbruch des Osmanischen Reichs sowie der Habsburger-Monarchie führten zur Gründung des SHS-Staates, des späteren Königreichs Jugoslawien6). Diesem Staat gehörten nunmehr auch Slowenien und Kroatien an. Von Randprovinzen der Donaumonarchie wurden Slowenien und vor allem Kroatien zu wesentlichen Faktoren im neu geschaffenen Staat. Gleichzeitig wurde damit aber auch das politische Zentrum von Wien nach Belgrad und damit in den Südosten verschoben. Das erste Jugoslawien bestand knapp mehr als 20 Jahre; doch dieser Zeitraum reichte offensichtlich aus, um die Frage nach der kulturellen und geografischen Zugehörigkeit Kroatiens entstehen zu lassen. Einen eindeutigen Beleg dafür bilden die 1956 erschienenen Erinnerungen von Hermann Neubacher.7) Seine Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Balkans leitet Neubacher mit einer Anekdote ein:

„Adolf Hitler fragte mich einmal, ob ich Kroatien zum Balkan rechne, und ich war erstaunt über seinen Verlust an k.u.k österr.-ungarischem Raumgefühl. Im allgemeinen nimmt die Neigung, den Donauraum hinter Wien zum Balkan zu rechnen, nach dem europäischen Westen hin zu, und die Meinung, daß Ungarn ein Balkanstaat sei, hat schon viele Magyaren erbittert. … Für den Kroaten österreichisch-ungarischer Prägung beginnt der Balkan hinter der ehemaligen österreichisch-ungarischen Militärgrenze ….“

Für Neubacher ist unbestritten, dass Kroatien nicht zum Balkan gehört. Dieser Meinung ist auch heute noch die überwiegende Mehrheit der Kroaten, doch 45 Jahre Tito-Jugoslawien lassen sich nicht ungeschehen machen. Legt man als Maßstab die balkanischen Stereotype an (Bürokratie, Korruption), so ist auch Kroatien ein Teil des Balkans,8) wobei festzustellen bleibt, dass auch im ehemaligen Jugoslawien auf den jeweils südöstlich liegenden Nachbarn gern heruntergeschaut wird. „Sto juznije to tuznije“ – „Je südlicher desto trauriger“ lautet denn eine weitverbreitete Redensart. Politisch ist Kroatien auf jeden Fall seit dem Zerfall des Tito-Staats am Balkan angekommen.9) Dazu beigetragen haben vier Jahre Krieg gegen den serbischen Aggressor, der das Land ebenso schädigte wie die nationalistische Politik des Staatsgründers Franjo Tuđman. Sie führte das Land in die außenpolitische Isolation, die etwa fünf Jahre dauerte. Nach der Abkehr von dieser Politik kosteten Probleme bei der Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal Kroatien weitere sieben Monate,10) und die Beitrittsgespräche mit der EU begannen erst im Oktober 2005. Zu diesem Zeitpunkt war es bereits zu spät, noch zu Rumänien und Bulgarien aufschließen zu können, die am 1. Jänner 2007 der EU beigetreten sind. Diese Aufnahme erbitterte viele Kroaten, die der EU unterschiedliche Standards vorwarfen, was die Bewertung der Beitrittsreife betrifft.

Kroatien blieb somit in der Gruppe der Westbalkanstaaten, die alle auf dem Weg nach Brüssel weit hinter Agram liegen. Doch auch wegen der Krise in der EU und wegen des Grenzstreits mit Slowenien könnte sich die Schlagzeile einer kroatischen Tageszeitung als verfrüht erwiesen haben. Sie begrüßte den Beginn der Beitrittsverhandlungen mit den Worten: „Bye Bye Balkan.“ Dahinter steht nicht nur die Angst vor einer Neuauflage einer Art Jugoslawien, sondern auch der Wunsch, statt mit einer Staatengruppe aufgenommen zu werden, aus dieser einen Gruppe endlich herauszutreten, die Kroaten und Europäische Union eigentlich als rückständig betrachten. Während Jugoslawien unter Tito international ein anerkannter Staat und im Kalten Krieg ein wichtiger politischer Faktor war, haben die Zerfallskriege und ihre Gräueltaten alle jene Vorurteile wieder zum Leben erweckt, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Bild des Balkan prägten. So hatte man während der Kriege der 1990er Jahre bis hin zum Massaker an etwa 8.000 Bosniaken in Srebrenica durchaus den Eindruck, dass das „Pulverfass Balkan“ nicht den „Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert“ sei, wie das Bismarck aus seiner Zeit und seiner Sicht einst durchaus richtig formuliert hatte.

Doch die negativen Klischees über den Balkan reichen weit über das rein Kriegerische hinaus. Korruption, fehlender Rechtsstaat und Kriminalität zählen ebenso zu den Stereotypen, die auch der Erfolgsautor Karl May nicht unwesentlich mitgeprägt haben dürfte.11) So schreibt May über den „Kampf gegen die Organisierte Kriminalität“ am Balkan:12)

„Auf der Balkanhalbinsel hat das Räuberunwesen niemals gesteuert werden können: ja gerade in den gegenwärtigen Tagen berichten die Zeitungen fast ununterbrochen von Aufständen, Überfällen, Mordbrennereien und anderen Ereignissen, die auf die Haltlosigkeit der dortigen Zustände zurückzuführen sind.“

Die Schattenseiten der türkischen Rechtspflege in entlegenen Gegenden des Reiches charakterisiert May so:13)

„Unter den dortigen Verhältnissen ist es nicht zu verwundern, dass da, wo die verschiedenen, zuchtlosen, sich ewig befehdenden Stämme der Skipetaren ihre Wohnsitze haben, von einem wirklichen ,Recht‘ fast gar nicht gesprochen werden kann. Bei Ostromdscha beginnt das Gebiet dieser Skipetaren, die nur das eine Gesetz kennen, dass der Schwächere dem Stärkeren zu weichen hat. Wollten wir nicht den Kürzeren ziehen, so mussten wir dieses Gesetz auch für uns in Anspruch nehmen.“

Mehr als 100 Jahre und einige Kriege später werde ich heute immer noch gefragt, wie sicher die Lage im ehemaligen Jugoslawien nun eigentlich ist, ob es gefährlich oder ohne Probleme möglich ist, in die Region zu reisen. Meine Antwort lautet stets, es ist gefährlich, allerdings wegen der Fahrweise der Bewohner, die im Westbalkan wirklich zu wünschen übrig lässt. Natürlich haben sich vor allem die Völker des ehemaligen Jugoslawien und Albaniens ihr schlechtes Image weitgehend selbst zuzuschreiben. Trotzdem ist westliche Überheblichkeit keinesfalls angebracht, weil die EU und ihre Mitglieder oft selbst jene Standards nicht erfüllen, die sie am Balkan einführen wollen. Wo sind Medienfreiheit und unabhängige Berichterstattung besser entwickelt: am Westbalkan mit seinen vielen ausländischen Medienkonzernen oder im Italien Silvio Berlusconis? Als in Slowenien die konservative Regierung mit der Brechstange versuchte, Medien unter ihre Kontrolle zu bringen, gingen viele Journalisten mit einer Petition auf die Barrikaden, die europaweit Beachtung fand. Die Regierung verlor wenige Monate später auch deshalb die Wahl, wobei für mich Slowenien überhaupt ein positives Beispiel für eine lebendige Demokratie ist, die viel mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten bietet als in vielen anderen EU-Staaten.

Nach mehr als 40 Wahlen, die ich im ehemaligen Jugoslawien begleitet habe, muss ich mich doch fragen, wo demokratische Standards mehr zu wünschen übrigen lassen: in Albanien, Serbien oder in den USA – wenn man sich etwa an all die Probleme erinnert, die bei der ersten Wahl von George W. Bush offenbar geworden sind. Wer kontrolliert eigentlich in den USA, ob die Standards besser geworden sind, und vor allem welche Wirkung entfaltet dort ein kritischer Bericht internationaler Wahlbeobachter, der in Albanien wenigstens nicht sofort schubladisiert werden kann, weil dieses Land der EU beitreten will? Im Wahlkampf in Albanien erklärte mir die kleine, von Studenten getragene Oppositionspartei G 99, die konservative Regierung sei allein wegen Schmiergeldzahlungen beim Bau der Autobahn an die Grenze zu Kosovo untragbar. Außerdem sei der Bau viel teurer gewesen als geplant. Ich dachte an den Wiener Flughafen und musste wieder einmal zum Schluss kommen, dass die kritische Berichterstattung über Mängel und Missstände am Balkan einem nicht gerade leicht gemacht wird. Trotzdem ist eine derartige kritische Berichterstattung freilich unerlässlich; denn natürlich kann es nicht das Ziel der EU sein, die in diversen EU-Staaten herrschenden niedrigsten Standards als Maßstab für die Aufnahme neuer Mitglieder zu verwenden, wie das vielleicht bei der Aufnahme von Rumänien und Bulgarien teilweise der Fall war.

Trotzdem will ich mich nicht mit der Erkenntnis abfinden, dass der Balkan in Wien am Rennweg14) beginnt und sich immer stärker Richtung Norden und Westen ausbreitet. Diese Entwicklung beklagte Alexander Vodopivec in seinem Buch „Die Balkanisierung Österreichs“15) bereits vor mehr als 40 Jahren auf eindrucksvolle Weise:

„Balkan – das war einmal gleichbedeutend mit Unverläßlichkeit, Lethargie, Korruption, Verantwortungsscheu, Mißwirtschaft, Verwischung der Kompetenzen und Grenzen in der Rechtsordnung und noch einiges mehr. Der Begriff beschränkte sich ursprünglich auf die Südoststaaten Europas. Eine nicht eben erfreuliche Entwicklung hat ihn jedoch aus seinen geographischen Grenzen herausgelöst. Vieles von dem, was seinen Inhalt ausmacht, ist in einer Art Westwanderung Bestandteil der österreichischen Politik geworden. Für diesen Prozeß wurde hier das Wort Balkanisierung gewählt; ihn zu schildern, setzt sich dieses Buch zum Ziel.“

Was würde Vodopivec heute schreiben (müssen)? Mich erfüllt jedenfalls nach zehnjähriger Tätigkeit als Korrespondent der Eindruck mit Sorge, dass wir anstelle einer dynamischen Europäisierung des Balkans eine weit raschere Balkanisierung Europas erleben, die der realen Ausbreitung der Balkan-Stereotypen immer weniger Grenzen setzt. Gerade deswegen ist der Titel meines Buches „Im Kreuzfeuer – Am Balkan zwischen Brüssel und Belgrad“ durchaus hintergründig und zweideutig gemeint.

Im Kreuzfeuer

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