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Zu Gast bei Reinhard

Tag 9: Montag, 13. Mai 2019, 20 km (239 km)

Es hat aufgeklart und der Deckel von Mrs. Molly ist mit einer hauchdünnen Eisschicht überzogen. Ameisen könnten auf dieser Eisbahn ohne weiteres ihre Kurven drehen. Zum Frühstück bin ich warm eingepackt. Der wolkenlose Himmel kündigt zumindest einen sonnigen Tag an. Nach dem Start muss ich nicht wenige Höhenmeter fressen. Auf der Anhöhe passiere ich das Stift Inzigkofen. Von 1354 bis 1856 füllten Nonnen des Augustinerordens die Gemäuer mit Leben. Ich bin früh dran und deswegen ist ein Besuch nicht möglich. Kurz darauf laufe ich im sehenswerten Städtchen Sigmaringen ein. Hoch über der Stadt steht das imposante Hohenzollernschloss. Die bezaubernde Fussgängerzone ist noch leer. Viele restaurierte Fachwerkhäuser säumen die Gassen. Die ersten Ladenbesitzer öffnen ihre Lokale und platzieren draussen Ständer mit Waren für den Verkauf. Ausserhalb der Stadt verweile ich auf einer Parkbank. Ein Jogger rennt neben mir vorbei, bleibt stehen und spricht mich neugierig an. Wie schon viele Male in der Vergangenheit, erläutere ich dem Interessierten meinen Trip. Staunend lauscht er meinen Worten. Er findet die Idee, zu Fuss nach Moskau zu marschieren, ziemlich cool und faszinierend. Er wohnt im Nachbarort Sigmaringendorf und so beschliessen wir, die 3 km bis dorthin gemeinsam unter die Füsse zu nehmen. Ich möchte selbstverständlich auch mehr über meine temporäre Begleitung erfahren. Andreas erzählt unumwunden, dass er im Moment intensiv auf Arbeitssuche sei. Er komme aus einem Burnout und taste sich behutsam in ein normales Leben zurück. Er habe über 25 Jahre als Biologielaborant in der Pharmazie gearbeitet. Ausschliesslich Tierversuche musste er durchführen und irgendwann hielt er diese grausame Arbeit nicht mehr aus. Längere Zeit verdrängte er dieses Problem, bis es irgendwann nicht mehr ging. Er zähle 56 Lenze und es sei schwierig, sich in diesem Alter neu zu orientieren. Er macht auf mich einen überaus positiven und motivierten Eindruck. In seinem Dorf trennen sich unsere Pfade. Wir wünschen uns gegenseitig viel Kraft und Energie für unsere derart unterschiedlichen Wege.

Schnell bin ich in Scheer. Um nach Blochingen zu gelangen, solle ich direkt über die schwach befahrene Hauptstrasse wandern, hatte mir Reinhard gestern als Tipp mit auf den Weg gegeben. Mit dieser Routenwahl könne ich ein paar Kilometer einsparen. Irgendwie verpasse ich aber die richtige Abzweigung. Es geht steil den Hügel hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter. Ein Dorf kommt in Sicht und ich erwarte das Ortsschild von Blochingen. Da steht aber Heudorf auf der Tafel. Der Wegweiser an der Kreuzung zeigt für meinen Zielort in eine völlig andere Richtung. Ich fluche leise, biege ab und folge dem Verlauf der Strasse. Diese vier zusätzlichen Kilometer überstehe ich auch noch. Nach einer Dreiviertelstunde treffe ich in der richtigen Ortschaft ein. Wie von meinem Gastgeber beschrieben, entdecke ich neben der Kirche das alte Haus mit dem roten Holzfachwerk. Reinhard werkelt vor seinem Haus herum und begrüsst mich freudig. «Was, du bist schon da, ich habe nicht geglaubt, dass du es so zügig schaffst!» Er erklärt mir, dass sein Sohn David bei seiner Mutter wohne und deshalb hätten wir sturmfreie Bude. Das Gebäude ist über 200-jährig und im Innern seines Hauses dominieren massive alte Balken. Die Deckenhöhe ist eher niedrig, aber deswegen einfach besonders wohnlich. Reinhard erinnert mich mit seinen wilden Haaren und dem buschigen Bart eher an einen urigen Goldsucher aus Alaska als an einen pensionierten Schwaben. Der 67-Jährige brüht Tee auf und wir quatschen am Küchentisch eine ganze Weile. Später zeigt er mir das Zimmer, wo ich mich niederlassen kann. «Wenn du was brauchst, findest du mich im Garten – fühle dich wie zuhause.» Ich fühle mich tatsächlich wie zuhause und genehmige mir eine heisse Dusche. Ein paar Kleidungsstücke wasche ich von Hand aus und hänge sie draussen an der Sonne auf die Wäschespinne. Ich verbringe zwei Stunden vor dem Computer, um meine, bis dato fabrizierten Fotos und Videos auf einer externen Festplatte abzusichern. Wenn Reinhard eine Pause von seiner Arbeit benötigt, kommt er herein und erzählt immer wieder aus seinem Leben. Sein Vater habe ihn seinerzeit gezwungen, die Bundeswehr zu absolvieren und so liess er diese zwei Jahre in Uniform über sich ergehen. Anschliessend studierte er und liess sich zum Lehrer ausbilden. Nur per Zufall fand er dieses alte Haus vor 40 Jahren und erwarb es für ein Butterbrot. Jahre später heiratete er ein Mädchen aus dem Dorf, das gerade mal halb so alt wie er war. Seine Doris brachte als 17-Jährige den gemeinsamen Sohn David zur Welt. Dieser benötige intensive Betreuung, da er mit einem Gendefekt auf die Welt kam. Seit einiger Zeit leben er und seine Frau getrennt. Man sieht es der Wohnung an, dass Reinhard allein haust, es herrscht, sagen wir mal, eine gemütliche Unordnung. Beim leckeren Abendessen geniesst er es sichtlich, wieder einmal Gesellschaft zu haben und er kommt aus dem Erzählen nicht heraus. Er ist wirklich nicht zu bremsen und schweift gerne und ausführlich vom Thema ab, um dann eine Viertelstunde später zum eigentlichen Punkt zurückzukehren. Reinhards grösste Leidenschaft ist das Kajakfahren. Ganze 16 Stück lagert er in einem seiner vielen Schuppen! Ich wette, er kennt praktisch jeden Fluss in Europa und viele davon befuhr er schon persönlich. Mit leuchtenden Augen schwärmt er von der Freiheit auf dem Wasser. Diese Woche will er unbedingt mal wieder auf den Rhein paddeln gehen, der habe im Moment den perfekten Pegelstand. Die Zeit vergeht im Nu und da die Literflasche Riesling auch schon leer ist, beschliessen wir, zu Bett zu gehen.

Wanderfieber

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