Читать книгу Die stille Stube - Christiane Fuckert - Страница 10
Kapitel 9
ОглавлениеVom Weg wehen Geräusche zum Hof herüber, die wie Kinderlachen klingen.
Spaziergänger, mutmaßt Lydia, Fremde, die gleich hier auftauchen, weil die Linksabzweigung einladender aussieht als die Fortsetzung des Waldweges.
Sie sitzt auf der Bank neben der Haustür, hat schlecht geschlafen letzte Nacht. Marschall hatte nicht wie geraten den Weg zu Papa gesucht, sondern sich ununterbrochen mit seinem kläglichen Miauen an Lydia gewandt. Mehrmals war sie aufgestanden und hatte das Fußende des wuchtigen Ehebettes umrundet. Immer hin und her, in der Hoffnung, dieser Trott würde eine angenehme Müdigkeit über sie breiten. Stattdessen stellten sich die wirrsten Gedanken ein.
Vielleicht lag es aber am Vollmond, der durch die abgebrochene Latte des Fensterladens seinen silbrigweißen Schimmer gespenstisch in die Schlafstube warf und einen unnatürlich hellen Streifen auf Lydias Bettdecke zeichnete. Irgendwann hielt sie die Stille und die knarzenden Bodenbretter ihrer stummen Wanderung nicht mehr aus. Sie drückte eine Wolldecke von innen gegen den Lichtschacht über der Fensterbank und verkroch sich tief unter ihrer Bettdecke.
„Der Fensterladen müsste repariert werden, Gustav, am besten wäre ein neuer“, murmelt sie mit dumpfem Ton in ihre Armbeuge hinein. „Das Holz vom Laden ist angefault. Aber kein Wunder, bei all dem wilden Gestrüpp am Haus. Die ganze hintere Wand ist feucht. Das war sie aber schon lange, und das weißt du.“
Wie sie sich doch an ihre Monologe gewöhnt hat! Früher hätten Selbstgespräche am Brausehof für Irrsinn gestanden; niemand hätte es gewagt, in einem leeren Raum vor sich hin zu plappern. Mittlerweile ist Lydia zu der Erkenntnis gelangt, dass laut ausgesprochene Gedanken überlebenswichtig sind. Sie ist nicht stumm und auch nicht taub geboren, sie braucht den Klang der eigenen Stimme, damit die Welt um sie herum mit Leben gefüllt wird.
„Du merkst schon, dass ich dir immer noch böse bin. Eigentlich sollte ich bei all den schlimmen Umständen ja dankbar sein für deinen Leichtsinn und den Dickschädel. Wut tut gut. Denn sobald die Wut nachlässt, setzt die Trauer ein. Und ob ich mit der allein fertig würde, kann ich nicht beurteilen. Weil es nämlich gerade die Wut auf dich ist, die mich aufrecht hält. Wir haben noch ein Hühnchen miteinander zu rupfen, Gustav, und mir kommt es vor, als hätte ich noch einen wichtigen Termin im Leben. Nicht mit dir, sondern wegen dir – für mich. Für meinen Ruf, den ich in der Welt hinterlasse. Aber ich will dir was verraten: Wenn es mich überkommt und ich dich zu arg vermisse, sage ich mir, dass bei jedem von uns längst der Augenblick feststeht, wann wir uns von der Welt verabschieden müssen. Und wenn man davon ausgeht, dass dir im letzten Herbst eh dein Stündlein geschlagen hatte, wäre ich jetzt sowieso allein, ob mit oder ohne dein Zutun. - Ein verqueres Denken ist das, Gustav, ich weiß, aber das musst du nicht verstehen, für dich sind solche Grübeleien nicht mehr von Belang. Es genügt, wenn ich selbst damit irgendwie zurechtkomme.“
Solch ausführliche Kopfarbeit führt meist dazu, dass sich eine erschöpfte Schläfrigkeit einstellt, anders, als nach körperlicher Anstrengung. Auch jetzt fühlt Lydia, wie alle Kräfte sie verlassen und sie nur noch abschalten will. Die Stimme ihres Mannes zieht sich wie im Protest durch ihre Gedankenfetzen und auch der Kater scheint unentwegt mitmischen zu wollen. Lydia öffnet die Augen, macht sich bewusst, dass sie alleine in ihrem Schlafzimmer liegt und reibt sich die Schläfen.
„Jetzt gib Ruhe, Gustav, und du auch, Marschall! Nicht nur ihr, auch ich brauch mal Schlaf.“
Wenn sie früher nachts unruhig war, kam es vor, dass ihr Mann das bemerkte. Dann zog sein Arm sie an sich, ohne dass er selbst dabei richtig aufwachte. Und sie drückte das Gesicht in seinen Nacken und lauschte seinen äußerst geräuschvollen Atemzügen, bis sie wieder eingeschlafen war.
Jetzt, da sie alleine in dem großen Bett liegt, packt sie stattdessen sein gerolltes Federkissen und schlingt ihren Arm darum, entlastet somit gleichzeitig ihre verkrampften Schultern, und sollte sie diese Haltung zufällig bis zum Morgen bewahren, erwacht sie ohne den üblichen Spannungskopfschmerz.
An diesem Morgen jedoch will das dumpfe Pochen nicht nachlassen. Es steigert sich, je länger ihr Blick über das wildwüchsige Gestrüpp zwischen den Pflastersteinen um sie herum gleitet. Es drückt dem gesamten Brausehof einen verwahrlosten Stempel auf. Wozu aber soll sie hier noch Ordnung schaffen, und vor allem: für wen? Bestimmt nicht für die Augen der fremden Spaziergänger, die sich soeben dem Hof nähern, wie Lydia entnimmt, allen voran eine plappernde Kinderschar.
Der Appenzeller hat sich längst breitbeinig und mit wachsamen Augen vor Lydias Bank aufgebaut. Doch eine zusätzliche körperliche Reaktion des Hundes lässt Lydia stutzen: Wotans Rute bewegt sich immer stärker hin und her. Ihr Hund wedelt eigentlich nur bei vertrauten Klängen und Gerüchen, es muss sich jemand nähern, der hier nicht fremd ist. Gleich darauf erkennt auch Lydia die mittlere Gestalt der dreiköpfigen Truppe, die unweit des Hauses am Rand der Buchenhecke auftaucht.
„Sieh an, Olav, der Herumtreiber!“, springt es ihr über die Lippen, und sie weiß, dass ihre Stimme fröhlich klingt, beinahe erfreut. „Und das sind wohl deine Freunde?“
Während dieser Worte haben die zwei Jungen und das Mädchen die letzten Meter im Laufschritt zurückgelegt und stehen jetzt schwer atmend vor Lydias Bank. Olav schüttelt den Kopf. „Geschwister“, verrät er bündig und starrt Lydia seltsam erwartungsvoll an.
Natürlich, er will prahlen, denkt Lydia amüsiert, und er will den anderen beiden zeigen, wie er Traktor fahren kann. Sie hat sofort erfasst, dass alle drei abgenutzte Kleidung tragen, auch der Junge, der Olav um einen halben Kopf überragt. Entweder gibt es ein noch älteres Geschwisterteil, das dem größten dieser Kinder die Sachen vermacht, oder sie erhalten getragene Anziehsachen von außen. Zu gern wüsste Lydia, aus welchem Nest diese Drei stammen und ob sie die Familie einzuordnen weiß. Entgegen ihrer Einschätzung von neulich könnte ihr ein solcher Anhaltspunkt heute sehr hilfreich sein im Umgang mit den Kindern. Normal ist es keinesfalls, dass drei Kinder diesen Alters am Vormittag bei ihr hier oben ohne Begleitung auftauchen.
„Wieso seid ihr nicht in der Schule?“
„Sommerferien“, informiert Olav sie in seiner wortkargen Weise, und er strahlt und zeigt seine übergroßen Schneidezähne.
„Ah so. Und? Habt ihr daheim gesagt, wohin ihr geht?“
Die drei Kinder schütteln synchron die Köpfe. Lydia kann sich nicht entscheiden, welchem ihrer Gefühle sie nachgeben soll. Zum einen macht sich Erleichterung in ihr breit, zum anderen wittert sie wie immer, wenn sie es mit Dorfbewohnern zu tun hat, eine Art Bedrohung. Gleich darauf schießt ihr ein Gedanke bis in den kleinen Zeh, der im Moment stärker ist als jedes Abwägen von eventuellen Folgen.
„Wie heißt ihr?“
„Verena.“
„Viktor.“
„Olav!“, hängt der Mittlere mit gewissem Schalk in den Augen an.
„Ah ja, also alle mit Vogel-F“, sinniert Lydia laut, um Zeit für einen Übergang zu gewinnen.
„Mit V“, korrigiert die Kleinste der Runde, das Mädchen. Sie sieht aus wie ihre Brüder, trotz der hellblonden hochgebundenen Affenschaukeln über den Ohren. Überhaupt wirken die drei Kinder ein jedes wie die Kopie der beiden anderen, bis auf die Zähne des Mädchens, die zwar ebenso breit, jedoch noch nicht ganz aus dem Oberkiefer herausgewachsen sind.
Olav boxt dem Mädchen in die Seite und seine Stimme klingt erbost. „Nein, das nennt man Vogel-F! Was weißt du schon! Kommst grade erst ins zweite Schuljahr!“ Zwischen Olav und seiner Schwester entbrennt eine Diskussion um Rechtschreibung, für die Lydia jedoch kein Verständnis und auch nicht die Nerven hat. Ein solches Wortgerangel ist ihr fremd, sie selbst hat weder Geschwister noch eigene Kinder. Was sie wiederum über Schulkinder weiß: Deren Sommerferien sind für gewöhnlich recht lang.
„Streitet euch, wo immer ihr wollt, aber nicht hier!“, mischt sie sich streng ein, und sofort herrscht Stille. Lydia genießt diese Reaktion auf ihren Tonfall – eine recht unbekannte Situation für sie.
„Ihr habt also Ferien. Und jetzt wollt ihr euch wohl ein bisschen Geld verdienen, damit ihr euch Süßkram kaufen könnt?“ Sie weiß, dass ihre Augen an Freundlichkeit nicht mithalten, als sie abwechselnd die Kindergesichter anlächelt. Noch ist sie nicht eins mit ihrem Plan, immerhin ist Kinderarbeit hier im Land verboten. Allein die Absicht, die sie im Moment verfolgt, könnte ihr den Aufenthalt in einer Gefängniszelle bescheren.
Ein kurzer Schauder läuft ihr den Rücken hinunter, doch diese Gelegenheit ist zu verlockend, als sie ungenutzt verstreichen zu lassen, zumal die Geschwister überzeugt nicken.
„Dann wartet. Setzt euch hierhin.“ Sie überlässt den Kindern ihre Bank und verschwindet mit überraschender Gewandtheit im Haus.
„Schritt eins, Gustav“, murmelt sie, als sie vor der Küchenvitrine steht und den Zwanziger zwischen den Glasscheiben hervorangelt. „Warte ab, wie es weitergeht.“ Der Geldschein lässt sich viermal falten, ehe er als Schnipsel in ihrer Faust verschwindet.
Sie sitzen da wie festgeklebt, denkt Lydia und fragt sich, wessen Erwartungshaltung im Augenblick größer ist – die der Kinder oder ihre eigene.
Wie alt mögen die anderen beiden sein? Das Mädchen ist einen halben Kopf kleiner als der zehnjährige Olav, der Bruder wiederum einen halben Kopf größer.
Wie Orgelpfeifen, zitiert Lydia im Stillen den altbekannten Vergleich, und sie überlegt, wann sie das letzte Mal in der kleinen Kirche im Ort gesessen hat.
Während sie nun den Geldschein vor den Augen der Kinder entfaltet, erinnert sie sich, dass ihr Schwiegervater jedes Jahr am Heiligen Abend eine Papiernote in den Kollektenbeutel am Kirchausgang gesteckt hatte, mit geräuschvollem Rascheln, im Gegensatz zum üblichen Kleingeldgeklimper der Mitbesucher.
„Der kann euch gehören, wenn ihr mir ein wenig behilflich seid“, sagt sie mit lockendem Unterton. Die drei Augenpaare vor ihr weiten sich. Doch Lydia hat bereits geahnt, dass sie mit ihrem Angebot einen neuen Disput entfacht.
„Zwanzig geteilt durch drei geht nicht“, merkt der Älteste an.
„Dann rechnet. Wer zuerst die richtige Lösung nennt, bekommt den Rest dazu.“
Das war unfair, weiß Lydia noch im selben Moment, natürlich wird der Große gewinnen, doch jetzt hat sie ihre Entscheidung geäußert und muss dazu stehen.
„Jeder kriegt 6 Mark und … sechsundsechzig, die zwei Pfennig gehören mir.“ Das hat das Mädchen gesagt, bevor Lydia anfangen konnte zu rechnen.
Dass die zwei Brüder gar nicht erst damit angefangen haben, erkennt sie an den unbeteiligten Gesichtern. Die Jungs wussten, dass sie der Kleinen gegenüber keine Chance haben. Ein gescheites Kind, hier wird sie vorsichtig sein und gut aufpassen müssen, was sie tut und sagt.
„Natürlich dürfen Kinder nicht für Geld arbeiten“, belehrt sie die Geschwister, indem sie den grünen Schein wieder zusammenfaltet. „Ihr werdet zuerst daheim fragen müssen, ob man euch das erlaubt. Aber ich denke, wenn eure Eltern davon hören, werden sie es euch verbieten. Damit hätten sie ja auch Recht ...“ Lass es wirken, sagt sie sich, wohl ahnend, was nun folgt.
„Die brauchen doch nichts davon zu wissen“, sagt Olav.
„Genau, wir sagen am besten nichts“, bestätigt Viktor, der Große. Die kleine Verena fügt hinzu: „Sonst können wir dir ja nicht behilflich sein. Und du bist doch schon so uralt. Und für so alte Leute soll man im Bus aufstehen und sich auch für sie bücken oder ihnen beim Tragen helfen, weil die alten Knochen schon morsch sind.“
„Na, wenn ihr meint ...“, sagt Lydia zögernd, und wehrt sich innerlich dagegen, gedanklich tiefer auf die letzten Anmerkungen einzugehen. „Aber sagt mir hinterher nicht, ich hätte euch nicht belehrt.“
Hier waren drei Ohrenpaare Zeuge, es dürfte eigentlich nicht zu Vorwürfen von Seiten der Eltern kommen; zumindest eines der Kinder wird sich an Lydias Mahnung erinnern.
Lydia strafft die Schultern und bemüht sich um eine feste Stimme. „Wir werden sehen. Wenn es uns gelingt, ein bisschen Ordnung am Hof zu schaffen, fahren wir hinterher eine Runde mit dem Traktor.“
Wie auf Knopfdruck sind die Kinder aufgesprungen. „Was sollen wir denn arbeiten?“
Lydia deutet auf die Pflastersteine. „Hier müsste das Unkraut herausgekratzt werden. Ihr habt junge Gelenke, ich kann das nicht mehr.“ So uralt, wie ich bin, fügt sie in Gedanken nun doch hinzu. Erneut holt sie tief Luft und spricht weiter: „Ihr lasst den Schein bei der Sparkasse wechseln, das ist Bedingung.“
Das Mädchen Verena schnippt eifrig mit den Fingern, als befände es sich in der Schule. „Die prüfen dort auch, ob dein Schein echt ist, stimmt's?“
„Vielleicht“, sagt Lydia gleichmütig und ermahnt ihre zuckende Miene zur Ruhe.
Bei diesem Kind ist Vorsicht geboten, es wird die Intelligenz schon mit der Flasche aufgenommen haben. „Dann folgt mir jetzt. Wir holen alle Geräte, die ihr braucht.“
Jetzt kann Olav endlich zeigen, dass er mehr weiß, als seine jüngere Schwester. Er rennt voraus zum Traktorschuppen und zieht seine Geschwister hinter sich her, durch den Sackvorhang in die Geräteecke. Mit hochroten Wangen sucht er Spatel, spitze Schraubenzieher und andere schmalkantigen Werkzeuge zusammen.
„Ihr könnt euch auf die gefalteten Kartoffelsäcke knien. Und das Unkraut fegt ihr zwischendurch immer mal zusammen und stopft es in diesen Sack. Den leert ihr drüben auf dem Kompost aus. Und so weiter. Ich denke, ihr wisst, wie man so was macht.“
Alleine vom Anblick der wuselnden kleinen Körper und flinken Hände wird Lydia warm ums Herz. Wann hat ihr das letzte Mal jemand geholfen? Sie wird einen extra großen Topf Kakao kochen. Und Waffeln wird sie backen. Und vielleicht weiß sie schon morgen, ob sie es bei dem Umschlag mit echtem Geld zu tun hat …
Sollte Letzteres nicht der Fall sein, wird sie sich etwas einfallen lassen müssen. Darüber wird sie noch ausführlich nachdenken, aber erst, wenn die Kinder sich wieder auf dem Weg ins Tal befinden. Vorher jedoch will sie etwas ganz anderes angehen, etwas, das schon lange überfällig ist.
Ihr weites Hemd weht wie eine Flagge hinter ihr her, als sie mit langen Schritten ins Haus eilt. Mit dem Bewusstsein, dass draußen Regsamkeit wie in alten Zeiten herrscht, wird sie schon heute den Mut für ihren Plan vom Vortag aufbringen.
Zumindest den Anfang dazu wird sie wagen.