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Kapitel 10

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Noch im Haus klingt das Schaben und Kratzen der Kinder draußen im Hof wie Musik in Lydias Ohren.

Im kleinen Badezimmer gegenüber der Küche wäscht sie sich Hände und Gesicht, trocknet sich ab und öffnet den halb aufgelösten Haarknoten am Hinterkopf.

Die waren einmal richtig braun, denkt sie, als sie ihre langen weißen Haare bürstet. Mit gekonnten Bewegungen zwirbelt sie ihren gesamten Haarwuchs zu einer einzigen dicken Strähne mehrfach um sich selbst und steckt sie am oberen Hinterkopf fest, sodass es sich anfühlt wie ein Knäuel aus feinem Garn.

„Du bist schon so uralt“, flüstert sie ihrem Spiegelbild mit der Betonung des Mädchens zu. Nicht diese Bemerkung ist es, die Lydia schmunzeln lässt, vielmehr hat sie soeben eine Lücke in all der frühkindlichen Bildung der kleinen Verena entdeckt: Wer so viel weiß, sollte Erwachsene nicht einfach mit Du ansprechen!

„Ich bin Frau Brause, du kleiner Intelligenzbesen da draußen“, sagt Lydia schnippisch, wenngleich sie sich fragen muss, ob sie sich den Kindern überhaupt vorgestellt hat. Dennoch weiß sie nicht recht, was sie von diesem Mädchen halten soll; ganz geheuer ist ihr das Kind nicht. Andererseits konnte sie Kinder noch nie gut einschätzen, bevor sie nicht ihre persönlichen Erfahrungen mit ihnen gemacht hatte. So wird sie auch bei Verena erst beobachten müssen, wie mit ihr umzugehen ist. Aber das sollte kein Problem darstellen – entweder fügt sich die Kleine oder sie war das letzte Mal hier oben gewesen.

Lydia greift in das geöffnete Einweckglas und verteilt eine Portion Pflegecreme auf Gesicht und Hals, massiert sie mit kreisenden Bewegungen ein und nutzt den glänzenden Überschuss für ihre Hände.

Auf ihre glatte Haut war Gustav immer sehr stolz. Seine Frau hatte nie ein kosmetisches Fertigprodukt gekauft, ihre selbstgemischten Tiegelinhalte aus gelber Taubnessel, Bienenwachs und Öl, die viele frische Luft und die Arbeit in der Natur schienen seit jeher bessere Erfolge zu bringen als die Tübchen und Dosen der Vorzeigedamen des Ortes. Lydias gesamte Kosmetik wird aufbewahrt in zwei tassengroßen Gläsern mit Dichtungsgummi und Schnappverschluss – in ehemaligen Wurstgläsern aus dem alten Bestand der Hausschlachtungen.

So lange sie zurückdenken kann, wurde am Brausehof alles wiederverwertet und weiterbenutzt, indem man es zweckentfremdete.

So sitzt sie nun alleine auf einer Fülle von gläsernem Leergut, Eimern ohne Henkel und gesammeltem Kleinkram. Den von draußen begehbaren Lagerraum für all die gestapelten Behältnisse, gleich neben dem Wohnhaus, nennt sie seit jeher etwas zynisch 'Antiquitätenkammer', was ihr Schwiegervater Magnus kommentierte:

„Ihr Verschwender würdet euch umsehen, wenn ihr all das Zeug bei Bedarf kaufen müsstet. Würden wir nach euren Maßstäben wirtschaften, wären wir längst bankrott.“

Die einzige Plastikflasche, die den Brausehof je aufgesucht hat, stammte von einem Wanderer, der sie achtlos neben der Außenbank liegen ließ. Sie existiert immer noch – als Sammelbehälter für mehrfach benutzte Bratfette, die dann wiederum als Schmierfett eingesetzt wurden. Noch heute wird Lydia dieses ekelhafte Ding entsorgen.

„Jetzt entscheide ich, was hier wie und wo eingesetzt wird!“, sagt sie mit festem Ton zu ihrem Spiegel-Zwilling, von dem aus die immer noch klaren blauen Augen möglichst konsequent zurückblicken. Sie wird lernen müssen, solche notwendigen Vorsätze ernst zu nehmen, denn noch ist sie nicht aus Überzeugung, sondern nur der Erbfolge nach die alleinige Besitzerin des Brausehofes.

Unter dem Türspalt am Ende des langen Flures fließt kein Licht hindurch, im Gegensatz zu all den anderen Türen des Wohntraktes. Die Türen des Brausehofes enden allesamt etwa fingerbreit über dem Boden, damit die Holzdielen Platz haben, sich bei Wetterveränderungen auszudehnen.

„Gute Handarbeit“, merkte Schwiegervater Magnus stolz an, wenn die Brausefrauen ihren Hausputz bewerkstelligt hatten. Die gelobte Handarbeit bezog sich nicht auf das Werk der Frauenhände, sondern auf die selbst geschnittenen und eigens gelegten Bodenbretter.

Nun steht Lydia vor der Tür des immerdunklen Zimmers. Seit dem Tod von Gustavs Mutter, die ihren Mann Magnus um zwei Jahre überlebt hatte, wurde dieser Raum nur noch zum Lüften und Säubern geöffnet. Hierin hatte Adelinde, genannt Ada, sich zurückgezogen, hier hatte sie geschlafen und hier war sie gestorben. Ihre wenigen Besitztümer schlummern weiter genauso vor sich hin, wie Ada sie mit den Füßen voraus verlassen hat. So nimmt Lydia es jedenfalls an.

Für Adas Sohn Gustav war diese zuletzt unbewohnte Kammer ein dritter Augapfel. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, zweimal die Woche Fenster und Läden zu öffnen, um frische Luft einzulassen und dieses besondere Erbe zu entstauben.

Gustav hatte seine Mutter verehrt, wie es ihm das Vaterunser gebot. Für seinen Vater hingegen galt seit dessen verhängnisvoller geäußerten Enttäuschung über einen fehlenden Hoferben keines der Gebote mehr; er hätte dem alten Magnus vermutlich nicht einmal mehr in Lebensgefahr geholfen. Bis heute kann Lydia nicht einschätzen, ob Gustav sich in der eigenen Ehre verletzt fühlte oder ob es ihm um die Ehre seiner Lydia ging.

Die 'stille Stube', wie Adas Kammer seit ihrem Tod vor dreizehn Jahren genannt wird, ist auch heute noch still. Ihrem Mann zuliebe hat Lydia diese letzte ganz persönliche Erinnerungsstätte – vielleicht sogar Begegnungsstätte zwischen Mutter und Sohn – stets aus Respekt gemieden. So lange Gustav lebte, lebte auch diese Kammer, weil sie geöffnet und betreten wurde. Erst gestern ist Lydia bewusst geworden, dass sie selbst Adas kleines Reich seit dreizehn Jahren nicht mehr betreten hat. Es hat einfach nicht mehr existiert, war tabu für sie wie ein Kellerraum, der für jemanden mit Angst vor Ratten verschlossen bleibt; tabu wie der Austritt durch eine gemauerte Wand. Tabu wie die private Post anderer Personen. Doch diese Wand ist in Wirklichkeit eine Tür zu einem Raum, der jetzt ganz und gar Lydia gehört.

„Andenken heißt, beim Betrachten von Dingen an jemanden zu denken“, so Gustavs Gebrauchsanweisung für die stille Stube. Als Lydia jetzt zum ersten Mal selbst den Schlüssel vom oberen Türrahmen nimmt und ihn ins Schloss steckt, hält sie inne. „Stimmt, Gustav, Andenken sind da, um betrachtet zu werden. Man kann Andenken aber auch benutzen. Und jetzt lebe ich alleine hier, verstehst du? Ich bin übrig geblieben. Alles, was hier ist, werde einmal ich hinterlassen. Und dann darf es hier ruhig so aussehen, als hätte ich meinen Besitz auch benutzt.“

Lydias Hand zittert so stark, dass sich sogar ihr Herzschlag anpasst. Bedächtig öffnet sie die Tür zur Dunkelheit, ganz vorsichtig drückt sie die Klinke herunter, immerhin wird sie jetzt eine Art Heiligtum betreten. Obwohl sie im Grunde die geringe Habe ihrer Schwiegermutter aus den Stunden kennt, in denen sie gemeinsam in deren Stube an dem kleinen Tisch saßen. Denkt Lydia aber genauer nach, weiß sie nur sehr wenig Persönliches über diese zurückhaltende Frau. Wahrscheinlich gibt es darüber hinaus auch kaum Erwähnenswertes; man hat sich immerhin täglich gegenseitig beobachten können und hätte sofort erfasst, wenn sich außergewöhnliche Ereignisse abspielten. Sie und ihre Schwiegermutter haben beide ein ähnliches Leben geführt, wurden von ihren Ehemännern geschätzt und verehrt, ebenso selbstverständlich war jedoch auch der tägliche Arbeitseinsatz auf dem Brausehof, und da wäre es beiden Frauen niemals in den Sinn gekommen zu schwächeln oder sich aus der Pflicht zu ziehen.

„Siehst du, Ada, jetzt bin ich auch eine Witwe. Aber das wirst du wissen, du hast deinen Sohn ja wieder um dich“, sagt Lydia, weil sie irgendein Geräusch braucht, weil die Stille, die aus der stillen Stube dringt, zu still ist. Selbst die Stimmen der Kinder im Hof scheinen auf einmal wie gekappt.

„Und du, Gustav, bist gerade bestimmt richtig sauer auf mich, was? Aber wenn's brennen würde, wolltest du auch, dass ich hier hineingehe und lösche.“

Nicht noch an Feuer denken, beschwört sich Lydia, das würde ihr den letzten Funken Mut nehmen. „Ich komm jetzt rein, Ada“, sagt sie stattdessen mit höflich gedämpfter Stimme.

Der Lichtschalter befindet sich gleich neben der Tür. Es ist ein schwacher Schein, der sich auf die dunklen Möbel legt. Lydia empfindet stärker als vermutet die Bedeutung dieses Augenblicks. Sie hat ja nicht nur vor einzutreten, sondern sie verfolgt damit eine Absicht, die schon jetzt plant, alles hier zu verändern, konkret formuliert,

zu zerstören.

Der Geruch verblüfft sie. Er enthüllt unerwartet intensiv das Wesen der einstigen Bewohnerin. Wahrscheinlich ist es das, was Gustav sich mit seinem Alleinrecht bewahren wollte.

Lydia hat damit gerechnet, dass die stille Stube finster und gespenstisch auf sie wirken könnte. Jetzt, da sie eingetreten ist, vermittelt dieses kleine Reich nichts anderes als Ordnung und Anstand, vielmehr hat es etwas Unschuldiges an sich, etwas Warmherziges wie zu Adas Lebzeiten, etwas, das auf dem gesamten Rest des Brausehofs nirgends zu finden ist. Und Gustav scheint keinen einzigen Gegenstand in seiner Position verändert zu haben. Dennoch fehlt hier etwas Lebensnotwendiges ...

Lydia eilt zum Fenster, öffnet den ächzenden Rahmen und stößt die Läden mit aller Kraft auseinander, sodass sie zu beiden Seiten gegen die Hauswand schlagen. Augenblicklich strömt reine Waldluft in die stickige Kammer und Lydia saugt genüsslich den vertrauten feuchtgrünen Sauerstoff ein. Dann wendet sie sich dem erhellten Zimmer zu, lässt ihren Blick über die wenigen Möbelstücke gleiten und erstarrt auf der Stelle.

„Sieh an, ein Eindringling!“, vernimmt sie sogleich Gustavs helle vorwurfsvolle Stimme von der gläsernen Abdeckplatte des Nachttisches her. Lydia hatte ganz vergessen, dass es diese Aufnahme ihres Mannes gibt.

Es ist das erste Mal, dass sie ihm seit dem vergangenen Herbst wieder in die Augen schaut. Er hatte seiner Mutter das Foto zu deren letztem Weihnachtsfest geschenkt. Damals, als diese Aufnahme gemacht wurde, war Gustav dreiundsechzig.

Er blickt stark, fröhlich und gesund aus dem braunen Rahmen direkt in Lydias Gesicht, und Lydia drückt die Hand gegen ihren Brustkorb und weiß nicht, ob ihr Herz überhaupt noch schlägt. Sie schließt die Augen, ganz kurz nur, dann lässt sie ihren Blick weiter wandern. Gustavs Foto gegenüber steht ein Bild von Ada. Er muss es im Nachhinein so angeordnet haben, eine Zweisamkeit, die an Einvernehmen nichts entbehrt.

„Hallo Gustav“, sagt Lydia scheu. Sie ist froh, sich gerade eben noch vor dem Spiegel im Badezimmer aufgehalten zu haben. Dies ist der Moment der ersten Wiederbegegnung, so empfindet Lydia seltsam real. Doch dies soll auch der Moment sein, in dem sie die Karten neu mischt.

Sie nähert sich den beiden Fotos, zieht ruckelnd die Schublade des Nachttisches auf und wundert sich nicht, dass sie darin genau das vorfindet, was sie erwartet hat.

Es liegt obenauf, mit der Vorderseite nach unten. Lydia holt es heraus, hält es sich kurz vor die Augen und stellt es liebevoll auf der anderen Seite von Gustavs Foto auf.

„Das wird dir nicht gefallen“, sagt sie zögernd, doch sie bemüht sich um eine feste Stimme, als sie einen Schritt zurücktritt. „Doch so war es einmal und so solltest du es jetzt wieder annehmen, mein lieber Gustav. Auch dein Vater gehörte zur Familie. Und weißt du, was? In seinen letzten beiden Jahren, in dem ihr euch aus dem Weg gegangen seid, du mehr ihm als er dir, ja, also, was ich damit sagen will: Ich habe heimlich mein gutes Verhältnis zu ihm weitergelebt. Du hast das nicht bemerkt, Gustav, es war wohl das einzige große Geheimnis, das ich je vor dir hatte. Jetzt bist du platt, was? Nein, ich hab euren Hahnenkampf nicht mitgeführt, weil ich nämlich kein Hahn bin, sondern eine sensible Henne. Und deine Mutter, was glaubst du, wie sie gelitten hat, weil ihr Mann und ihr Junge verfeindet waren? Wie sehr hat sie sich nach Harmonie gesehnt. Ada und ich haben zwar nie darüber gesprochen, ich denke, weil wir wussten, dass es sinnlos war und dass es zwischen euch Holzköpfen nichts mehr zu kitten gab. Aber dein Vater hat dieses heimliche versöhnliche Spiel mitgespielt, mir zuliebe, vielleicht auch sich selbst zuliebe. Ich konnte nämlich seine Enttäuschung verstehen. Ein Bauer will einen Nachfolger haben. Einen Sohn und auch einen Enkel. Dass er diese Bemerkung damals fallen lassen musste, ist doch nur menschlich. Natürlich hätte er dir oder uns das unter vier Augen sagen sollen, und nicht an einem vollen Tisch. Aber ich glaube, das muss ich dir jetzt nicht mehr erklären. Jetzt wirst du alles begreifen. Dort oben, wo du bist, wird man wohl keine offenen Fragen mehr haben … Und erst recht keine Wut.“

Lydia schluckt, ihre Stimme ist immer leiser geworden, doch sie spürt, wie selten gut ihr dieser Monolog getan hat. Sie tritt wieder an den Nachttisch und rückt die drei Fotos noch näher zueinander. Dann legt sie wie segnend ihre Hände darüber, fühlt sich ein wenig wie eine Pastorin: Was Gott zusammengefügt hat …

Aber was weiß sie schon – vielleicht tanzen die Drei wirklich längst ihren engelhaften Reigen miteinander, ohne dass sie hier unten etwas ahnt.

Noch einmal langt sie mit den Fingerspitzen nach dem mittleren Rahmen und holt ihn ganz nah zu sich heran. „All das musste längst mal gesagt werden“, flüstert sie und drückt einen Kuss auf das verstaubte Gesicht ihres Ehemannes.

Nachdem sie Gustav wieder in der familiären Mitte platziert hat, geht sie hinüber zu dem kleinen Tisch an der linken Wand, gleich beim Fenster. Dort liegt ein nicht minder eingestaubtes Buch, das Lydia so oft in den Händen ihrer Schwiegermutter gesehen hatte; wenn sie recht überlegt, viele Jahre lang, und in den letzten zwei Jahren als Witwe hatte Ada sich fast nur noch damit beschäftigt. Ein Buchtitel, den Lydia im Grunde der stillen, nach innen gekehrten Frau recht gut zuordnen konnte: 'Über allem die Harmonie', von einer Schriftstellerin namens Edda Zirbel, und vorn auf dem Umschlag eine biedere Dame mittleren Alters mit reinweißer Bluse und langem schwarzen Rock, milde lächelnd in einem hohen Sessel sitzend. Ein recht dickes Buch, das sich von selbst aufschlägt, weil zwischen den Seiten ein fein gehäkeltes Lesezeichen klemmt. Wahllos tippt Lydia mit dem Zeigefinger auf eine Stelle im Text, um Adas Lesemoment nachzuempfinden: „...denn nichts ergibt sich genau so, wie man es erwartet hat. Was am Ende zählt, sind die Momente, in denen wir geliebt haben. Doch die Liebe setzt innere Harmonie voraus. So ist die Harmonie einer der erstrebenswertesten Zustände in Anbetracht all der Machtkämpfe und Zerwürfnisse unter den Menschen und Nationen ...“ Lydia schüttelt mit dem Kopf. „Wie sehr wirst du unter dem Zwist deiner beiden Männer gelitten haben, dass du dich mit solchen Buchtexten beschäftigt hast?“

Ihre Schwiegermutter muss dieses Buch mehrmals gelesen haben, denn immer wieder bezeugen kleine Pfeile nach vorn oder hinten über gekräuselt markierten Textstellen, dass hier ausgiebige Kopfarbeit geleistet wurde.

Lydia selbst hat nie viel gelesen. Die wenigen ruhigen Momente am Brausehof hat sie mit anderen Dingen gefüllt. Da war es schon mehr Gustav, der sich hier und da mit seinen kleinen Gedichtbänden befasst hat. Vielleicht hatte er diese Neigung von seiner Mutter geerbt?

Was Ada auch mochte, war kleiner glänzender Zierrat, silber- und goldfarbene Kerzenhalter und Schalen, winzige Mokkatassen …

Lydia fällt ein, dass genau die perlmuttfarbenen Tässchen in der Küchenvitrine es waren, die ihr erst gestern den Impuls beschert haben, die stille Stube am Ende des Ganges zu öffnen. „Warte ab, meine liebe Ada, bald zieht hier in deiner Stube das Leben wieder ein. Du wirst staunen.“

Wie aus weiter Ferne hört sie eine helle Stimme rufen. Die Kinder!, schießt es ihr durch alle Glieder. Die hat sie ganz vergessen. Hoffentlich treiben sie keinen Unfug, so still, wie sie sich bisher verhalten haben.

Mit Adas Buch in der Hand huscht Lydia geräuschlos durch den langen Flur, in die Küche und dort von der Seite unauffällig ans Fenster zum Hof.

Die zwei Knaben hocken auf den gefalteten Säcken und kratzen in den Ritzen herum. Ein Teil des Pflasters sieht bereits wieder manierlich aus. Aber das Mädchen fehlt. Es muss Verena gewesen sein, die nach ihr gerufen hat. Erst jetzt fällt Lydia auf, dass dieses Kind sich doch anständig zu verhalten weiß, es hatte „Hallo, Frau Brause!“ gerufen, muss den Namen dem Schildchen über der Haustürklingel entnommen haben, und dass Verena trotz ihrer halben Vorderzähne schon lesen kann, steht außer Frage. Was wird die Kleine von ihr gewollt haben und wo ist sie jetzt?

Lydia vernimmt die WC-Spülung aus dem Bad gegenüber – das Kind wird nur die Toilette gesucht haben – wohlgemerkt, mit vorherigem Nachfragen. Dass es sie nun benutzt, verrät aber, dass es hier einfach Türen geöffnet hat, ohne Lydias Erlaubnis, was wiederum für Dreistigkeit zeugt.

Am besten bereitet sie sich schon mal auf ein Gespräch mit dem Mädchen vor und legt sich alles zurecht, damit sie sich nachher nicht von einem kleinen Gör geschlagen fühlen muss. Kinder sind so eine Sache … Mit Kindern konnte sie eigentlich noch nie. Sie sind meist zu direkt, spüren nicht, wann es genug ist, haben kein Feingefühl für kritische oder peinliche Momente … Mit Kindern soll sich der herumplagen, der sie in die Welt gesetzt hat. Indem sie selbst jedoch den Dreien hier die Gelegenheit gibt, sich nützlich zu machen, trägt auch sie zur Weiterentwicklung bei. Zudem sollen diese Kinder ja für ihre Arbeit auch etwas bekommen. Zwanzig Mark ist viel Geld! Und wer weiß, sollte sich dieses Geld als echt entpuppen, dürfen die kleinen Schaffer sich gern weiteres Feriengeld auf dem Brausehof verdienen.

Die stille Stube

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