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Seelenverwandt

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Sydney war gut zu mir. Denn diese Stadt gab mir kaum Gelegenheit, trübsinnig zu sein. Nachdenklich ja, trübsinnig nein. So saß ich am ersten Tag stundenlang vor der weißen Oper, die wie eine überdimensional große Muschel aus dem Meer ragte. Ich staunte und konnte mich an diesem Gebäude einfach nicht sattsehen. Ähnlich wie vor wenigen Wochen noch an ihm. Er, der immer noch und immer wieder in meinen Gedanken herumschwirrte und ein unangenehm zärtliches Gefühl in meiner Herzgegend hinterließ. Ein leichtes Stechen, manchmal nur ein Ziehen. Nicht mehr der tief eingerammte Dolch, der mehrmals umgedreht wurde, wie in jener Nacht, in der mein Schlüpfer verschwand.

Wenn ich nicht gerade die Oper anstarrte, machte ich Spaziergänge durch den botanischen Garten, schlenderte die Oxford Street entlang oder verbrachte Stunden in der Sonne liegend in Manly. Dieser Strand sagte mir weitaus mehr zu als der mit Hipstern übersäte Bondi Beach, an dem sich dem Körperkult erlegene Australier und Touristen tummelten. Da hätte ich auch in Berlin bleiben können, auf dem Badeschiff.

Ich sah mir Darling Harbour an und verbrachte einen halben Tag im Taronga Zoo auf der Suche nach meinem ersten lebendigen Wombat. Über eine Stunde blieb ich nur am Wombat-Gehege stehen und versuchte, trotz der dunklen Höhlen ein Exemplar zu erspähen. Eigentlich bin ich kein großer Tierfreund, aber als ich schließlich kleine Knopfaugen im Dunkeln erblickte, schmolz mein Herz dahin. Ich fühlte mich diesen höhlengrabenden Pflanzenfressern irgendwie nahe. Erst recht, als ich die Tafel am Gehege las, die erklärte, warum die meisten Wombats es vorzogen, allein zu leben: »In freier Wildbahn leben Wombats allein. Sie können miteinander verbundene Höhlen teilen, vermeiden sich aber gegenseitig auf ihren Reisen. Im Zoo können Wombats sich aneinander gewöhnen und manchmal auch kurze Zeit miteinander verbringen.« Jetzt war es offiziell. Die Wombats und ich: Wir waren seelenverwandt.

Nach meinem Aufenthalt in Sydney flog ich nach Coolangatta an die Gold Coast. Ich war mir bis zu diesem Zeitpunkt nicht sicher gewesen, ob ich per Greyhound-Bus weiterreisen oder mir einen Wagen mieten und selbst fahren sollte. Immerhin herrschte hier Linksverkehr, ich war kurzsichtig und nachtblind. Nicht zu vergessen: allein unterwegs. Es schien mir weitaus vernünftiger, den Bus zu nehmen. Aber dann musste ich an Sanne denken, die aus Prinzip keine Touristenbusse nahm. Und damit hatte sie irgendwie recht, schließlich war ich auf der Suche nach mir selbst. Nach Abenteuer. Nach Freiheit. Nach der Möglichkeit anzuhalten, wann immer ich wollte. Nicht, wenn mir der Kaugummi kauende Greyhound-Busfahrer eine Pinkelpause genehmigte. Allein, mit geöffneten Fenstern statt Klimaanlage, mit meinem iPod statt dem TV-Unterhaltungsprogramm, an der Ostküste entlangzufahren, schien mir gerade unvernünftig und abenteuerlich genug, um meine Sehnsucht zu stillen. Sehnsucht wonach, das konnte ich nicht genau sagen, vermutlich danach, etwas zu tun, was ich mich eigentlich gar nicht traute. Es war Zeit, meine Komfortzone zu verlassen. Es war an der Zeit für einen echten Roadtrip.

Ich entschied mich für einen Hyundai in Blau. Viertürer, Automatik und alle Kilometer frei. Ich wählte die Versicherung mit der geringsten Selbstbeteiligung, verzichtete aber aus Abenteuer- und Kostengründen auf das Navigationssystem. Meinen Scherz, dass es in Australien doch eh immer nur geradeaus gehen würde, fand die Dame am Car-del-Mar-Schalter allerdings gar nicht witzig. Mit einem für australische Verhältnisse eher bescheidenen Lächeln, heißt: ohne Zähne, überreichte sie mir die Autoschlüssel. Ich hielt die Freiheit quasi in meinen Händen und konnte es kaum erwarten, die läppischen neunzig Kilometer nach Byron Bay sofort anzutreten.

Für die Strecke brauchte ich fast zwei Stunden. Und das lag mehr an der Dunkelheit, dem strömenden Regen und dem Linksverkehr als an den Geschwindigkeitsbegrenzungen. Außerdem hielt ich vor jedem Kreisverkehr an, um noch einmal in mich zu gehen. Ich habe seit klein auf eine Rechts-Links-Schwäche, auch bekannt als Angularis-Syndrom. Allerdings treffen bei mir nicht alle Symptome zu: Schreiben und Lesen ist kein Problem, Rechnen geht auch, wobei ich jedoch schon meine Finger zu Hilfe nehmen muss, nur rechts und links bereitet mir große Schwierigkeiten und erfordert immer einen kurzen Moment der Besinnung. Ebenso machte ich das Angularis-­Syndrom verantwortlich für meine Unfähigkeit zur Abstraktion. Und die Fähigkeit zur Abstraktion galt als wichtige Grundlage, um Lernerfolge verzeichnen zu können. Im Grunde konnte ich also gar nichts dafür, dass ich immer wieder die gleichen Fehler machte. Vermutlich sollte ich das meiner nächsten Bekanntschaft gleich zu Beginn mitteilen: »Hallo, mein Name ist Christiane und ich leide am Angularis-­Syndrom. Also erwarte nicht, dass ich aus meinen Fehlern lerne oder den Ehering an der richtigen Hand trage. Aber Lesen und Schreiben ist kein Problem. Soll ich dir meine Nummer aufschreiben?«

Mein Hyundai war sehr geduldig mit mir und den vielen Runden, die wir im Kreisverkehr drehten, bis uns schwindelig wurde. Zum Dank parkte ich ihn, in Byron Bay angekommen, nicht im Parkverbot und warf ausreichend Münzen ein, damit er dort in aller Ruhe die Nacht zubringen könnte. Ich selbst entschied mich für das Nomades-Hostel und zahlte wie immer ein Vermögen für ein Vierbettzimmer. Zum Glück hatte ich das Zimmer diesmal die halbe Nacht für mich allein. Denn meine ungefähr 17-jährigen Bettgenossinnen aus den Niederlanden waren damit beschäftigt, im Erdgeschoss in einem aufblasbaren und mit Wackelpudding gefüllten Swimmingpool im Kämpfen gegeneinander anzutreten. Im Bikini versteht sich. Während sie also versuchten, sich gegenseitig die Augen auszukratzen, um die Preisprämie in Höhe von fünfzig aus­­tralischen Dollar, circa 38 Euro, zu gewinnen, dämmerte ich in einen tiefen, erschöpften Schlaf und träumte von Jelly Wrestling an meinem Arbeitsplatz. Meinen Chef hatte es in jener Nacht wirklich übel erwischt.

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