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Geteilte Leidenschaft

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An meinem letzten Abend in Melbourne lernte ich ein befreundetes Pärchen meines Pärchens kennen und konnte mich nicht sattsehen an diesem ungleichen Paar, das in ein paar Wochen heiraten wollte. Sie war wunderschön: groß, schlank, porzellanfarbene Haut, dunkelblondes, glattes und sehr langes Haar. Er war mindestens zwei Köpfe kleiner als sie, stark übergewichtig und hatte derart verkniffene Augen, dass er immer irgendwie aussah, als würde ihn die Sonne blenden. Er vergötterte diese Frau und sie schien sich an seiner Seite sehr wohl zu fühlen. Ich konnte nicht ausmachen, ob ich verblüfft oder ratlos war. Fest stand, dass ich schwer damit beschäftigt war, mir meine oberflächliche Beurteilung ihrer Liebe nicht anmerken zu lassen.

Wir tranken Aperitifs, machten Pizza und mixten Cocktails. Das ungleiche Paar schlug vor, anschließend zu einer Tango-Milonga zu gehen, die in einer alten Kirche stattfinden würde. Ich war mir sicher, dass mein Tangotalent stümperhaft war, und konnte mir außerdem nicht vorstellen, wie man so eine Tanzveranstaltung in einer Kirche – und daher vermutlich ohne Bar – abhalten und genießen könnte. Aber trotzdem war ich neugierig genug, um mich vom Gegenteil überzeugen zu lassen.

Und es war wunderschön. Die Erhabenheit und Kälte, die das steinerne, schlichte Gebäude ausstrahlte, unterlegt mit den melancholisch anrührenden Tangoklängen, gefüllt mit all diesen Menschen, die wie in Trance versunken Tangokreise drehten, einander berührend, ohne sich zu umschlingen, faszinierten mich. Ungeniert staunte und beobachtete ich die Paare, wie sie ihre Runden drehten. Mein Blick blieb immer wieder an dem ungleichen Paar hängen.

Ihrer Unterschiedlichkeit trotzend, verschmolzen sie tanzend zu einer einzigen Person. Und plötzlich verstand ich es: Es war die Leidenschaft für Tango, die sie teilten. Das war ihre Gemeinsamkeit, die sie eins werden ließ. Sie mussten sich beim Tanzen ineinander verliebt haben. Als dieser kleine, dicke Mann sie das erste Mal so sicher durch den Raum schweben ließ, da war es um sie geschehen, dafür liebte sie ihn. Und er liebte sie dafür, dass sie ihn liebte. Nicht weil sie so schön war, sondern eher obwohl sie so schön war und dennoch in ihm den richtigen Mann für sich erkannt hatte. Der Mann, der er war: Ein kleiner, dicker Mann, der mit einer Ernsthaftigkeit seine Schritte vollführte, die ihr das Gefühl gaben, eine Prinzessin zu sein und von ihm sicher durch das ganze Leben geführt zu werden. Der sie zum Lachen brachte. Der sie auf Händen trug und all ihre Bedürfnisse ernst nahm.

Wie ich die beiden so sah, war ich mir ganz sicher, dass er genau das für den Rest seines und ihres Lebens auch wirklich tun würde. Das zu beobachten, war wie ein Wunder, wäre da nicht dieses unangenehme Gefühl in meinem Inneren gewesen. Es fühlte sich ein bisschen an wie Neid. Nein, ich wollte nicht mit ihr tauschen, so erhaben war ich nicht, aber ich wollte mich gern so fühlen wie sie: sicher, geborgen, ernst genommen und bedingungslos geliebt.

Doch ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, jemals eine Leidenschaft mit einem Partner geteilt zu haben. Vorlieben, ja. Aber »ins Kino gehen« zählt nicht ­wirklich als eine das Gemüt völlig ergreifende Emotion. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich selbst überhaupt eine Leidenschaft hatte. Außer leidenschaftlichen Liebeskummer. Vielleicht hieß es ja daher Leidenschaft, weil es Leiden schafft.

Von nun an beobachtete ich Sanne und Klaus, die sich noch etwas unsicher mit Anfängerschritten durch den Raum bewegten. Es sah ein wenig so aus, als hätte Sanne die Führung übernommen, aber Klaus war Mann genug, sich von seiner Frau durch den Raum führen zu lassen.

Um nicht nur den ganzen Abend vor mich hinzustarren und womöglich wieder melancholisch zu werden, entschied ich mich bald, auch ein Tänzchen zu wagen. Dafür wählte ich die Person, die mir am fähigsten schien, einen starrköpfigen Esel durch den Raum zu schieben: Sanne. Wir tanzten und tanzten und tanzten, bis ich alles um mich herum fast vergaß.

Doch schon am nächsten Morgen war das Fast-Vergessen vergessen. Denn der Abschied, der anfangs noch in weiter Ferne gelegen hatte, klopfte erbarmungslos an die Tür. Mit gepacktem Rucksack. Sanne und Klaus brachten mich zum Flughafen. Anders als bei meiner Ankunft war es diesmal Klaus, der im Auto ununterbrochen redete, in dem kläglichen Versuch, die traurige Stimmung zu vertreiben. Der Abschied fiel uns allen schwer. Als ich spürte, dass die beiden wirklich traurig waren, fing ich doch noch an zu heulen. Vielleicht auch deshalb, weil ich selbst immer eher froh bin, wenn Besuch – so schön er auch gewesen sein mag – wieder Adieu sagt.

Wir drückten uns zum Abschied. Als ich mich ein letztes Mal umdrehte, bevor ich den Check-in-Bereich passierte, und Sanne dabei erwischte, wie sie sich verstohlen ein Tränchen wegwischte, bemerkte ich, wie sehr ich sie all die Jahre wirklich vermisst hatte.

Ich spürte, dass mein Aufenthalt bei den beiden nicht alle Wunden geheilt, aber zumindest die schlimmsten Blutungen gestoppt hatte. Vor dem unvermeidlichen Alleinsein, das nun folgen würde, fürchtete ich mich. Aber ich wusste auch, dass es jetzt an der Zeit war, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen, um den Rest des Heilungsprozesses auf mich zu nehmen. Und in diesem Moment fiel mir auf, dass ich doch eine Leidenschaft hatte: das Reisen.

Macht's gut, Ihr Trottel!

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