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Schamlos unbeschwert

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Es war ein guter Abend. Ich war glücklich über das gerade abgegebene Manuskript und in Stimmung, einfach nur den Moment zu genießen, frei von Sorgen, Selbstzweifeln und der Angst vor berechtigter Kritik. Eine seltene Stimmung völliger Unbeschwertheit hatte mich erfasst. Und in dieser Stimmung sah ich ihn zum ersten Mal. Ich lächelte. Er erwiderte das Lächeln. Das war zwar schön, aber nicht unbedingt notwendig. Es ging mir gut, ich bedurfte an diesem Abend keiner Bestätigung durch ein Gegenüber. Ich war mir selbst genug. Ausnahmsweise.

Als er eine Stunde später nicht auf die Bühne, sondern samt Gitarre auf das Fensterbrett gegenüber der Bühne ging, sich vorstellte und zu singen begann, war es trotzdem um mich geschehen. Ich hatte mich verliebt.

Ich verliebe mich schnell und oft. Mindestens einmal pro Woche. Manchmal auch mehrmals täglich. Doch in diesem Moment war ich nicht nur verliebt, sondern wie von Sinnen. Nur ein einziger Gedanke konnte mein gerade eben noch so unbeschwertes Gemüt erreichen: Ich will ihn küssen, kennenlernen, heiraten. Nein, das ist nicht richtig. Es war vielmehr: Ich muss ihn küssen, kennenlernen, heiraten. Ich hatte ein neues Ziel.

Ich tat das, was man vermutlich nur in unbeschwerter Stimmung tun kann: Ich schrieb meinen Namen und meine Telefonnummer auf einen Zettel und legte diesen, als ich noch vor dem dritten Lied die Bar verließ, in seinen Gitarrenkoffer. So hatte ich gehandelt und müsste mir niemals vorwerfen, es nicht wenigstens versucht zu haben. Außerdem hatte ich nichts zu verlieren. Ich lebe in Berlin. Schämen kann man sich woanders.

Vier Tage später bekam ich eine SMS von ihm. Er unterschrieb mit seinem Namen, als ob ich nicht wüsste, wer er sei. Als ob ich darauf nicht die letzten 96 Stunden gewartet hätte. Als ob ich nicht stündlich mein Handy auf neue Nachrichten überprüft, mir selbst Test-SMS geschrieben und Schweißausbrüche bekommen hätte, sobald mein Telefon auch nur einen Ton von sich gab. Als ich nach vier Tagen nun seine Nachricht las, erschien es mir selbstverständlich, dass er sich gemeldet hatte. Natürlich würde er sich melden. Ich lächelte unbeschwert.

Wir trafen uns zwei Tage später in einer dunklen Bar, tranken Bier, stellten uns Fragen, lachten viel und oft. Mal, weil es lustig war, öfter, weil wir verlegen waren. Wir berührten uns unauffällig, absichtlich zufällig. Nach vier Bier und einer Schachtel Zigaretten wechselten wir in eine noch dunklere Bar. Nach fünf Bier küssten wir uns. Unsere Lippen waren wie füreinander geschaffen. Seine Lippen, die passende Memory-­Karte zu meinen.

Wir gingen getrennte Wege nach Hause, auch wenn ich mir nichts sehnlicher wünschte, als meinen Körper um seinen zu schlingen. Aber ich wollte ihn schließlich nicht nur küssen, sondern kennenlernen und heiraten. Und daher beschloss ich, mit dem Körperumschlingen noch zu warten. Ich hörte, das sei besser so. Und diesmal wollte ich alles richtig machen. Unbedingt.

Es dauerte eine ganze Woche, bis er sich wieder meldete. Diesmal tat ich am Telefon nur unbeschwert und hoffte, er würde die Aufregung in meiner überdrehten Stimme nicht bemerken. Wir gingen wieder aus und in dieser Nacht auch zusammen nach Hause. Unsere Körper umschlangen sich, ein Körper-Memory.

Als ich nachts aufwachte und ihn dort liegen sah, in seinem Bett, schlafend und friedlich wie ein Engel, da wusste ich es: Ich war nicht verliebt. Ich war verloren.

Seit dieser Nacht drehte sich all mein Denken um diesen Mann. Diesen Musiker, der plötzlich in mein Leben kam und alles relativierte, was es vorher gegeben hatte. Liebe hatte eine neue Dimension erreicht. Alles, was ich bisher erlebt hatte, war nichts im Vergleich zu meinen Gefühlen für diesen Mann. Diesen Mann, den ich nicht wirklich kannte.

Das zu erleben, war wunderschön und grauenhaft zugleich. Denn tief in meinem Innersten spürte ich, dass meine Gefühle nicht erwidert wurden. Ja, er mochte mich. Ja, er genoss die Zeit, die wir zusammen verbrachten. Ja, er sehnte sich nach meinen Armen und meinen Schenkeln. Aber er fürchtete sich vor meinem Herzen. Und er ließ keine Gelegenheit aus, mir das zu zeigen und schließlich auch zu sagen: Er wollte keine Nähe, keine Verantwortung. Er wollte »frei« sein von emotionalem Ballast. Ich war der emotionale Ballast.

Ich versuchte, nicht mehr an ihn zu denken. Doch je stärker ich das versuchte, desto hoffnungsloser wurde es. Mein Denken kannte das Wort »nicht« nicht. Ich dachte einzig und allein an ihn, an meinen Musiker, der gerade versuchte, sich ein neues Leben in Berlin aufzubauen, einer fremden Stadt. Ein fremdes, freies Leben. Gern mit meinen Schenkeln, aber bitte ohne mein Herz.

Ich wusste, dass es falsch war. Aber ich konnte nicht anders, als ihn weiterhin zu treffen. Wieder und wieder. Nacht für Nacht. Zwischen Prenzlauer Berg und Neukölln. Bei ihm, bei mir oder in der Mitte, um anschließend bei ihm oder bei mir zu enden. Mal morgens um vier, an anderen Tagen schon um Mitternacht.

Am Morgen danach schleppte ich mich jedes Mal todmüde, aber überglücklich in mein Büro, begleitet von der Hoffnung, ihn immer noch in meinem Bett vorzufinden, wenn ich nach Hause zurückkäme. Oder zumindest anstatt seiner eine Nachricht zu entdecken. Zeilen auf einem Zettel oder ein paar Buchstaben auf meinem Bildschirm. Vielleicht auch nur ein Paar Socken als deutliches Zeichen, dass er wiederkommen würde. Denn bestimmt hatte er, der Musiker, nur dieses eine Paar. Aus Wolle, lebensnotwendig für einen echten Berliner Winter.

Und so lebte ich diesen Traum von der großen Liebe in ständiger Angst, geweckt zu werden. Doch es war einer dieser Träume, von denen man während des Träumens bereits wusste, dass es nur ein Traum war.

Bis ich eines Nachts aufwachte. Von ganz allein.

Ich saß auf ihm und bewegte mich nur sehr langsam. Auf und ab. Es war dunkel in seinem Zimmer. Auf und ab. Er lag unter mir, auf einer Matratze auf dem Boden. Ich kannte dieses Zimmer in- und auswendig. Eine typische Berliner Künstlerbude: knarrender Dielenboden, hohe Wände, Stuck.

Der Wind zog durch die nicht isolierten Altbaufenster. Rein und raus. Auf und ab. Ich fragte mich, wo diese Altbauromantik eigentlich herkam. Mir war kalt vom Wind, der meine Brustwarzen hart werden ließ. Kein schlechter Moment für steife Brustwarzen, doch ich wünschte, es würde aus Leidenschaft passieren. Leider war ich die Einzige, die in diesem Raum in dieser Nacht Leidenschaft zu empfinden versuchte. Mit diesem Künstler, in seinem minimalistischen WG-Zimmer, in dem sich nichts befand außer einem Hut an der Wand, drei Hosen, zwei T-Shirts und einer Gitarre samt Koffer.

Dieser offensichtliche Minimalismus war nichts als heuchlerische Bescheidenheit. Künstlerattitüde. Gespieltes Understatement. Koketterie. Denn zwischen Hut, Gitarre und Hose fanden sich iPhone, iPad und iBook. I, I, I. Ich, ich, ich. Das passte.

Ich versuchte, im Dunkeln seine Augen zu finden. Doch alles, was ich entdeckte, waren zwei weiße Augäpfel, die regungslos an mir vorbeistarrten, an die Decke, ins Nichts. Er war nicht bei mir. Er war ganz woanders, nicht mal in diesem Raum, nicht in dieser Stadt, nicht in diesem Land. Er war auch nicht in Gedanken bei einer anderen Frau. Nicht mal das. Ich nahm an, er war auf iTunes.

»Soll ich aufhören?«, fragte ich und fühlte mich dabei wie ein Mann. Aber der Mann in diesem Zimmer zuckte nur mit den Schultern. Es war ihm egal. Ein »Ja« hätte weniger wehgetan. Ich überlegte, ob ich ihn einfach ignorieren und mich in Gedanken auf YouPorn begeben sollte. Aber dafür war ich nicht Mann genug. Ich war schließlich nur eine verliebte, dumme Frau.

Also ging ich von ihm runter, zog mich an. Wollte mich anziehen, besser gesagt, denn ich konnte meinen Schlüpfer nicht finden. Scheißminimalistische Künstlerbude. Er war wie vom Erdboden verschluckt, zwischen den Dielen verschwunden, zusammen mit der gerade gestorbenen Hoffnung, vielleicht auch schon auf Ebay unter der Kategorie »zu verschenken an Selbstabholer«.

Natürlich fing ich an zu heulen. Aber nur ganz still. Die Dielen knarrten lauter, als meine Nase lief. Ich zog mich im Dunkeln an, ohne Schlüpfer, und wusste, dass ich ihn nicht wiedersehen würde. Den Schlüpfer auch nicht.

Nach vier Monaten des wachen Träumens gab ich es auf, um sein Herz zu kämpfen. Ein Herz wie ein kaputter Kaugummiautomat, in den man vergeblich Münze um Münze einwirft, aber nicht einmal einen steinharten, blauen Kaugummi als Gegenleistung zurückbekommt. Er liebte mich nicht. Er liebte nicht mal sich selbst. Und ich, ich konnte es ihm nicht mal verübeln. Ich mochte mich auch nicht mehr.

Enttäuschung tut weh. Schlimmer noch ist es, sich diese einzugestehen.

Getrennt nach Hause zu gehen, hat nichts genützt. Er hat sich nicht mehr gemeldet. Trotz iPhone, iPad und iBook.

Ob er jemals meinen Schlüpfer finden wird?

Macht's gut, Ihr Trottel!

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