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Abschied ist ein Arschloch

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Unsere letzte gemeinsame Nacht war alles – außer unbeschwert. Die Tatsache, dass ich am nächsten Morgen die Insel verlassen musste, um nur wenige Tage später von Singapur aus wieder nach Hause zu fliegen, fühlte sich unerträglich gemein an. Ich spielte mit dem Gedanken, dem »Ernst des Lebens« einfach einen Arschtritt zu verpassen. Ich könnte meinen Flug verfallen lassen. Ich könnte so tun, als würde es den Ernst des Lebens gar nicht geben, und für den Rest meiner Tage mit David Die blaue Lagune nachspielen. Mit dem klaren Vorteil, dass wir nicht verwandt waren und ich wusste, was eine Periode war.

Während wir auf seiner achtzig Zentimeter breiten Matratze lagen und dem ohrenbetäubenden Meeresrauschen nicht wirklich lauschten, schwante mir, dass mein Verstand längst am Packen war. Ihm war völlig klar, dass es sich hier um einen klassischen Urlaubsflirt handelte. Zugegeben, um einen äußerst romantisch-klassischen Urlaubsflirt, der aber nichtsdestotrotz vermutlich schon nach wenigen Tagen zurück in der Heimat vergessen sein würde. Schließlich war das die Natur eines klassischen Urlaubsflirts. Vermutlich würde noch die eine oder andere E-Mail folgen, vielleicht in diesem Fall auch mal ein in Regen getränkter Brief.

Ja, David tat mir gut. So wie jeder Mann einer Frau guttat, der sie nach einer enttäuschten Liebe begehrte und auf Händen trug. Aber wir hatten keine Zukunft. Ausgeschlossen, dass ich auf dieser Vulkaninsel in der Andamanensee mit gerade mal 37.000 Einwohnern leben könnte. Ich lebte seit sieben Jahren in Berlin, du Muschi! Ich war eine von über dreieinhalb Millionen Einwohnern der deutschen Hauptstadt. Ich war ein Großstadtmensch, der abends mit Freunden oder allein in Bars herumlungerte und sonntags auf den Flohmarkt ging.

Hier auf dieser Insel gab es nicht eine einzige Bar. Gut, es gab ein paar heruntergekommene Orte, an denen man Kaffee bestellen konnte, aber Frauen hatte ich dort nie gesehen. Es gab nichts außer dem Meer, dem Sand, den Palmen, den Affen und David. Warum mich ausgerechnet das so glücklich machte, konnte ich mir selbst nicht erklären. Vermutlich fand ich, der Großstadtmensch, das alles faszinierend, weil es so exotisch war. Ich Klischee.

David strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sah mich an. Mit seinen Knopfaugen, die tagsüber blau wie das Meer und abends grün wie Palmenblätter waren. Er war das reinste Chamäleon. Ich berührte vorsichtig sein Tattoo am Oberarm. Es war ein Text, verfasst in Großbuchstaben und ohne Leerzeichen. Obwohl ich aus Prinzip keine Tattoos mag, fand ich es wirklich schön. Auch wenn ich es nicht lesen konnte.

»Was steht auf deinem Oberarm?«, fragte ich David, wobei ich versuchte, das Meeresrauschen zu übertönen.

»Das ist ein Versteil aus der Bibel, den ich mag«, erklärte David. »1. Korinther 13,4–7.«

Da ich alles andere als bibelfest war, bat ich ihn, mir vorzulesen. Ohne hinzusehen, legte David los:

»Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.«

Er sah ernst aus, als er mir das alles sagte, was mich ziemlich verlegen machte. Es machte mich immer verlegen, wenn jemand in einem Moment der Nähe ernst wurde. Und grundsätzlich hasste ich es, wenn mich jemand fragte, was ich gerade dachte. Denn falls ich meine Gedanken mitteilen wollte, würde ich sprechen. Doch in diesem Moment wollte ich nichts lieber wissen, als was gerade in Davids Kopf vorging. Er musste das gespürt haben, denn er räusperte sich erneut und sagte etwas, womit ich nie im Leben gerechnet hätte.

Er sagte: »Ich liebe dich.«

Zu meiner allergrößten Verwunderung erwiderte ich: »Ich liebe dich auch.« Und das tat gar nicht weh. Es war auch nicht schwer. Es ging mir von den Lippen, als hätte ich gesagt: »Ich habe Hunger.«

Vielleicht gingen mir diese vier Worte so leicht von den Lippen, weil es auf Englisch passierte. Vielleicht auch, weil es keinen besseren Ort und Zeitpunkt gab, so etwas zu sagen. Kurz vor dem Abschied, auf einer »einsamen« Insel. Es war unverfänglich. Und trotzdem echt. Ich liebte ihn. Ich liebte ihn dafür, dass er die letzten Tage zu den schönsten seit langer Zeit gemacht hatte. Dafür, dass er mir das Gefühl gab, etwas ganz Besonderes zu sein. Dafür, dass er mich beim Schach gewinnen ließ, ohne, wie er zumindest dachte, es mich merken zu lassen. Dafür, dass ich mich mit ihm sicher, geborgen, ernst genommen und bedingungslos geliebt fühlte, so wie ich es damals bei dem ungleichen Paar in Melbourne zu beobachten geglaubt hatte. Dafür, dass er hier lag und »Ich liebe dich« sagte. Einfach so. Einfach, weil er es fühlte. Ich liebte ihn dafür, dass er keine Angst hatte, das zu sagen.

Allerdings hatte ich keine Ahnung, wie viel von dieser heute Nacht ausgesprochenen Liebe noch übrig sein konnte, sobald ich neuntausend Kilometer von ihm entfernt sein würde. Was mein Verstand dazu sagen würde, war mir völlig klar: »Pustekuchen.« Das sagte er immer gern.

Nachdem wir ein letztes Mal miteinander geschlafen hatten, ließ ich alle meine Vorsätze fallen und zündete mir eine dieser Zigaretten an, die so lecker nach Nelken rochen und, wie ich feststellte, auch schmeckten. Gott, tat das gut. Dann fuhr ich mit meinen Fingern seine Gesichtszüge entlang, in der Hoffnung, diese länger als gewöhnlich in Erinnerung behalten zu können.

Weil ich die Stille, die über unserem Abschied lag, nicht länger ertrug, fing ich an zu reden. Ich fragte ihn, ob er schon mal in Deutschland gewesen wäre. David verneinte. Er hätte fast überall auf der Welt gelebt, aber in Europa nur ein Jahr, in England. Allerdings wollte er alle diese Länder noch besuchen, denn seine einzige große Leidenschaft wäre das Reisen. Voll­treffer, dachte ich und grinste.

Als David da so lag und rauchte, fiel mir auf, dass ich unsere gemeinsame Zeit nicht wirklich genutzt hatte, um mehr über ihn zu erfahren. Ich wusste rein gar nichts über diesen Mann, zu dem ich vor wenigen Minuten noch »Ich liebe dich« gesagt hatte. Möglicherweise war es deshalb so einfach. ­Möglicherweise konnte ich mich immer nur in Männer verlieben, die ich gar nicht kannte. So wie damals mit dem barfüßigen Musiker.

Vielleicht spielte seine Vergangenheit aber auch einfach keine Rolle. Ich forderte David auf, mir mehr über sich und sein Leben zu erzählen, im kläglichen Versuch, meine verpassten Möglichkeiten nachzuholen.

»Was willst du wissen?«, fragte David und lachte, als ich »Alles!« sagte. Er meinte, dafür würde uns die Zeit fehlen. Ich gab nicht nach und bat wenigstens um eine kurze Zusammenfassung. Als er schließlich zu erzählen begann, verstand ich, warum unsere Zeit zu knapp war.

David war in Südafrika geboren worden. Er war Einzelkind. Seine Eltern ließen sich scheiden, als David fünf war. Da seiner Mutter die finanziellen Mittel fehlten, wuchs er bei seinem Vater auf, der beruflich viel unterwegs war. David musste mindestens einmal pro Jahr umziehen und besuchte insgesamt elf Schulen auf vier Kontinenten. Die Schule interessierte ihn jedoch nicht mehr, nachdem er Schreiben und Lesen gelernt hatte, das reichte ihm aus. Alles andere lernte er aus Büchern oder von seinem Vater. Im Alter von 18 Jahren begann er, in Südafrika als »Game Ranger« zu arbeiten. Er fuhr sieben Jahre lang Touristen durch den afrikanischen Busch und zeigte ihnen die »big five«: Elefanten, Nashörner, Büffel, Löwen, Leoparden und was ihnen unterwegs sonst noch so über den Weg lief. Giraffen, Zebras, Erdmännchen, Schlangen und Spinnen standen auf der Tagesordnung. Während dieser Zeit lernte er seine Freundin kennen, eine Frau, die zehn Jahre älter war als er und mit ihm im »Busch« arbeitete. Als das Verantwortungsgefühl nach sieben Jahren Beziehung größer wurde als die Liebe, die schließlich beidseitig ganz unbemerkt verschwand, trennten sie sich voneinander und David versumpfte im Drogenmoloch Südafrikas.

Er nahm alles außer Heroin. Meistens war er bekifft oder betrunken.

Bis er eines Tages einen schweren Verkehrsunfall hatte, bei dem er sein Motorrad völlig bekifft gegen den einzigen Baum auf weitem Feld setzte. Er wurde schwer verletzt und begriff das als Zeichen, sein Leben zu ändern. David flog nach Indonesien, eigentlich nur, um etwas Abstand von seiner Vergangenheit zu gewinnen und um seine Wunden zu lecken, was mir bekannt vorkam. Als er schließlich auf dieser Insel hier ankam, gönnte er sich, den Boden unter den Füßen gerade zurückgewonnen, einen einzigen Joint am Strand, in einer Hängematte. Er war unvorsichtig, dumm und wurde im Gegensatz zu allen anderen Touristen auch noch erwischt. Die Scharia machte keine Ausnahmen und verpfiff ihn bei der Polizei, die sich im Gegensatz zu ihren Kollegen auch nicht-muslimischer Straftäter annehmen konnte. David wurde verhaftet.

Nach drei Monaten in Untersuchungshaft und zig Verhandlungen bis hin zum obersten Gerichtshof in Jakarta kam er für neun Monate ins indonesische Gefängnis und anschließend vier Monate in die Psychiatrie, zur Rehabilitation.

15 Monate unter Einheimischen eingesperrt, lernte er die Sprache und schloss Land und Leute, seltsamerweise, in sein Herz. Ohne das Gefängnis, so sagte er, wäre er niemals aufgewacht. Das Tattoo ließ er sich an dem Tag stechen, an dem er entlassen wurde.

Seit seiner Entlassung vor circa eineinhalb Jahren lebte und arbeitete David nun in diesem Resort. Er bekam etwas Taschengeld, verdiente aber offiziell kein Geld, da er immer noch auf Bewährung war. Seinen Pass würde er frühestens in einem Jahr zurückbekommen. Dann könnte er entscheiden, ob er dieses Land wieder verlassen wollte oder nicht. Er fühlte sich wohl hier, aber sein Herz, das war immer noch in Afrika, im Busch. Zumindest war es das, bis er – so schloss David seine Erzählung – mich kennengelernt hatte.

»Warum hast du mir das nicht früher schon erzählt?«, fragte ich schockiert über die »Kurzzusammenfassung« einer solchen Lebensgeschichte. Er sah mich an, lächelte und sagte: »Du hast nicht gefragt.«

Da hatte er allerdings recht. Ich wusste nicht, ob ich geschockt oder fasziniert war. Dieser Mann hatte wirklich einiges erlebt und nicht alles davon war ruhmreich. Aber mit einer ruhmreichen Vergangenheit konnte ich mich auch nicht gerade schmücken. Ich war zwar nicht im Gefängnis gewesen, aber nicht jede Dummheit wurde bestraft. Im Gegensatz zu mir hatte David offensichtlich aus seinen Fehlern gelernt. Er litt eindeutig nicht am Angularis-Syndrom.

Ich umarmte ihn und bedankte mich für seine Aufrichtigkeit. Er lachte und fragte, warum er nicht aufrichtig sein sollte. Es gab keinen Grund, mich anzulügen. Seine Vergangenheit hätte ihn zu der Person gemacht, die er heute war. Bei mir wäre das bestimmt auch nicht anders, sagte er und hatte schon wieder recht. Wir waren alle ein Produkt unserer Vergangenheit.

David und ich redeten noch die ganze Nacht hindurch. Schließlich auch über die große Frage, die schon seit Tagen über uns schwebte. Die Frage, ob es für uns irgendeine gemeinsame Zukunft geben könnte. Nun wussten wir immerhin beide, dass es für ihn nicht möglich sein würde, nach Deutschland zu kommen. Selbst wenn er seinen Pass in einem Jahr zurück hätte, müsste er eine Menge Fische fangen, bis er sich das Ticket leisten konnte. Und David war sich sicher, dass eine Frau wie ich niemals auf einer Insel wie dieser leben könnte, umgeben von verschleierten Frauen, die – wie er sagte – hier weniger wert wären als »Kuhscheiße«. Obwohl wir all das wussten, träumten wir noch stundenlang weiter von einem gemeinsamen Leben. Hier auf der Insel, im südafrikanischen Busch oder in Berlin. Allerdings wäre es dann für ihn wirklich an der Zeit für einen Pullover.

Der nächste Tag war mehr als schwierig. David begleite mich auf der Fähre bis nach Banda Aceh und ließ es sich nicht nehmen, auch noch mit bis zum Flughafen zu kommen.

»Ich hasse Abschiede«, versuchte ich zu protestieren.

»Das ist mir egal. Ich will jeden Moment, den ich mit dir haben kann, auskosten.«

Am Sicherheitsbereich angekommen, umarmten und küssten wir uns ein offensichtlich letztes Mal. Ohne Zunge, versteht sich. Ich murmelte, dass ich versuchen würde, ihn irgendwann, vielleicht um Weihnachten herum, wieder besuchen zu kommen, und glaubte mir selbst kein Wort. Und weil ich Abschiede so sehr hasste, da sie mich so verlegen machten, heulte ich mehr aus Unbeholfenheit und Wut als aus Trauer. Ich winkte ihm ein letztes Mal zu, bevor ich nach dem Check-in um die Ecke verschwand, und war mir sicher, David, den Fischer aus Südafrika, nie wiederzusehen.

Macht's gut, Ihr Trottel!

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