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Hey Mister!

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Ich kam spät abends am Flughafen von Banda Aceh an und nahm ein Taxi zu dem Hotel, das im Lonely Planet unter den günstigen Unterkünften als »unsere Wahl« aufgelistet war: Hotel 61.

Es war deprimierend. Der Eingangsbereich ging über in eine Art indonesisches McDonald’s, das man durchqueren musste, um überhaupt zu den Zimmern zu gelangen. Mein Zimmer glich dann auch einem Kühlschrank: Es hatte Minusgrade, kein Fenster, war komplett weiß gekachelt und hatte als einzige Lichtquelle eine Neonröhre an der Decke. Wenn das der Favorit des Lonely Planet war, wollte ich gar nicht erst wissen, wie die anderen Hotels aussahen.

Ich war seit meiner Abreise aus Lombok über 15 Stunden unterwegs. Zweimal musste ich umsteigen und bei meiner Ankunft auch noch eine Zollkontrolle über mich ergehen lassen, bei der ein unfreundlicher Beamter nicht davor zurückschreckte, sich durch meine Schmutzwäsche zu wühlen. Jetzt war ich erschöpft, aber noch lange nicht bereit, schlafen zu gehen. Ich musste unbedingt raus aus dieser Zelle und beschloss, zumindest noch irgendwo ein Bier zu trinken. So wanderte ich, begleitet vom Geschrei des Imam, die Straßen Banda Acehs entlang und fragte an verschiedenen Straßenständen nach Bintang-Bier.

Die meisten Angesprochenen sahen mich nur verständnislos an und schüttelten den Kopf. Vielleicht gab es in Nordsumatra kein Bintang? Vielleicht hieß es hier Aceh-Bier? Vielleicht gab es aber auch überhaupt kein Bier. Auf diesen Gedanken kam ich allerdings nicht, weil mir zum wiederholten Mal alkoholfreies Bier unter die Nase gehalten wurde, sondern erst, als mir ein zahnloser Straßenstandverkäufer flüsternd anbot, mir bis morgen Bier besorgen zu können.

Ich wusste nicht, ob ich irritierter darüber war, dass er mich die ganze Zeit mit »Mister« ansprach oder dass er so ein Theater wegen einer Flasche Bier veranstaltete. Spontan entschied ich mich für Cola, trottete zurück in die Zelle und nahm mir noch mal meinen Reiseführer vor.

Und da stand es, schwarz auf weiß: In Banda Aceh herrscht strengstes Alkoholverbot. Pro Person dürfte maximal nur ein Liter Alkohol eingeführt werden. Einheimischen, die Alkohol verkauften, drohten nach dem Scharia-Gesetz hohe Geld- und sogar Gefängnisstrafen. Ebenso untersagt waren Glücksspiel, Drogenkonsum oder -verkauf, Pornografie und Ehebruch. Laut Scharia-Gesetz stand auf Ehebruch Steinigung. Ach du liebes Bisschen!

Vermutlich war es nicht besonders schlau gewesen, als Frau nachts allein durch die Straßen zu ziehen und nach Bier zu fragen. Nach dieser Erkenntnis war ich froh über meine Zelle und fiel in der Geborgenheit der vier gekachelten Wände in einen tiefen Schlaf.

Bereits am frühen Morgen wurde ich endlich mit dem echten Indonesien konfrontiert, allerdings auf brutale Art und Weise: Hotelfrühstück.

In einem beige gefliesten Raum, natürlich auch wieder ohne Tageslicht, teilten drei verschleierte Frauen Frühstück vom Büfett an die Gäste aus. Ich hatte die schwere Wahl zwischen Hühnersuppe und braunen Erbsen mit Reis. Ich fragte nach Toast, kam mir sofort blöd vor und entschied mich für die Hühnersuppe.

Um mich herum saßen vereinzelt Indonesier, die sich die Lunge aus dem Leib qualmten. Dabei löffelten sie lautstark Hühnersuppe, zogen die Nase hoch, rülpsten und starrten mich an. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich neben den drei verschleierten Grazien die einzige Frau hier war. Ich trug zwar eine lange Hose, aber dazu ein Tanktop und keinen BH. Die Männer starrten und ich starrte zurück.

Nicht nur das Rauchen im fensterlosen Frühstücksraum machte mich als frisch geborene Nichtraucherin einfach fassungslos, sondern auch die Hühnersuppe, in der kleine Krähenfüße schwammen. Aber die Blöße, nicht aufzuessen, wollte ich mir als weiße Frau auf keinen Fall geben. Ohne eine Miene zu verziehen, zwang ich mir Löffel für Löffel der Suppe hinein. Als es geschafft war, überlegte ich, mir zur Überraschung aller noch einen Nachschlag zu holen, aber das Interesse an mir, dem »Mister«, war schnell verschwunden, als jemand den Fernseher in der Ecke anmachte und das Karaokeprogramm auf volle Lautstärke drehte.

Nach diesem leckeren Mahl packte ich meine Taschen, zog mir einen super BH an und warf mir ein Tuch um die Schultern. Ich hatte noch ein paar Stunden Zeit, bis meine Fähre auf das paradiesische Inselchen ablegen würde, und entschied mich daher für eine Banda-Aceh-Tsunami-Tour. Das klang zwar makaber, schien aber das Einzige zu sein, was man hier machen konnte. Traurig, aber wahr.

Ein junger Mann namens Ari erklärte sich bereit, mich für umgerechnet vier Euro zwei Stunden mit seinem ­motorisierten Becak durch die Stadt zu allen »Sehenswürdigkeiten« zu bringen. In gebrochenem Englisch berichtete er mir, dass seine komplette Familie – Eltern, Geschwister und seine erste Frau – bei dem Tsunami 2004 ums Leben gekommen waren. Er hatte Glück gehabt, weil er in den Bergen war, um Bäume zu fällen. Während er mir diese traurige Geschichte erzählte, lächelte er immerzu und schloss nach meinen diversen Fragen mit: »Jetzt bin ich glücklich. Weil ich wieder Liebe gefunden habe.« Er zeigte mir seinen Ehering, strahlte mich an und ich fing an zu heulen.

In dieser seltsamen Stimmung besuchte ich das Tsunami-­Museum. Das Erdgeschoss entsprach einer Art Mahnmal: dunkle Gänge mit beleuchteten Monitoren, die zahlreiche Bilder der Katastrophe von damals zeigten, verwüstete Häuser, weinende Menschen, Zerstörung, soweit das Auge, der Verstand aber nicht reicht. Das Ausmaß dieser Katastrophe vermochte ich trotz all dieser Bilder nicht zu begreifen. All die Toten. Und all die Hinterbliebenen, die damals so plötzlich vor Trümmerhaufen standen. Trümmer, in denen sich einst all ihr schwer erarbeitetes Hab und Gut befunden hatte, in dem die eigenen Kinder geboren und aufgewachsen waren. Trümmer, aus denen sie nun geborgen werden mussten.

Seit diesem Tag, dem 26.12.2004, zwei Tage nach Heiligabend, war für all diese Menschen die Welt nie mehr wie zuvor. Und sie hatten keine Zeit zu trauern. Alles lag begraben unter Schlammlawinen: Weihnachtsgeschenke, Ehepartner und Kinder. Boote wurden auf Hausdächer gespült und ein Elek­trizitätsschiff wurde vier Kilometer landeinwärts geschwemmt, wo es auch heute noch steht. Es zerstörte alles, was in seinem Weg stand: Bäume, Häuser, Tiere, Menschen. Platt gewalzt von Stahl und Beton.

Mein eigenes Leid, mein Liebeskummer und meine Einsamkeit schienen mir hier plötzlich das Belangloseste auf der ganzen Welt zu sein. Liebeskummer – wie lächerlich! Wie konnte ich mich nur so wichtig nehmen? Diese Menschen hatten alles verloren und alles wieder aufgebaut. Sie hatten ihre Toten, zumindest die, die sie finden konnten, geborgen, begraben und weitergemacht. Und nicht nur das: Sie hatten neuen Lebensmut gefasst. Manche legten die Naturkatastrophe als ein Zeichen Gottes aus. Allahs, um genau zu sein. Als einen Hinweis, dass sie bestraft wurden, da sie den richtigen Weg verlassen hatten. Demütig nahmen sie diese Warnung an und gelobten Besserung. Somit leitete der Tsunami in der Provinz im Norden Sumatras Friedensverhandlungen ein, die ein Jahr später zur Beendigung eines schon dreißig Jahre anhaltenden Bürgerkrieges zwischen der Regierung und der Rebellenorganisation GAM, »Bewegung Freies Aceh«, führten.

Und ich? Ich war traurig wegen eines barfüßigen Gitarrenspielers. Obwohl ich auch schon vorher wusste, dass Leid relativ ist und auch mein lächerlicher Kummer Berechtigung hatte, wenn es auch weitaus Schlimmeres auf der Welt gab, schämte ich mich. Und ich wollte mich doch nicht mehr schämen. Nie mehr. Also gelobte ich Besserung.

Macht's gut, Ihr Trottel!

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