Читать книгу Machts gut, ihr Trottel! - Christiane Hagn - Страница 17
ОглавлениеDie Fährüberfahrt von Banda Aceh auf die Insel war wunderschön. Ich stand zusammen mit einer Gruppe rauchender indonesischer Männer im Freien auf Deck und beobachtete, wie das Festland immer kleiner wurde und der einst kleine Fleck am Horizont zu einer wuchtigen grünen Fläche heranwuchs. Von allen Seiten spürte ich Blicke. Schultern und Knie hatte ich zwar brav bedeckt und ich hielt auch kein Bier in der Hand, dennoch war ich als Einzige weiß, weiblich und allein. Es machte mir nichts aus. Vermutlich würde ich an deren Stelle auch starren. Schließlich war ich ja auch ein lustiger Anblick, eingewickelt in meine Tücher, mit dem Rucksack neben mir, der fast meiner eigenen Körpergröße entsprach, und außerdem strahlte ich etwas aus, das ich längst verloren geglaubt hatte: Unbeschwertheit. Ich war zurück. Bei mir und zugleich frei von mir und meiner Belanglosigkeit.
Auf der Insel angekommen, nahm ich trotz des strömenden Regens ein Becak zum Strandresort. Dem Fahrer schien die Nässe nichts auszumachen und ich wollte nicht verweichlicht wirken.
Ich kam völlig durchnässt an, checkte ein und bezog sofort meinen Bungalow. Mit Absicht hatte ich mir die Honeymoon-Suite reserviert. Wenn schon kein Honeymoon, dann wenigstens die Suite. Und das hatte sich gelohnt. Die Hütte war wie alle Strandhütten relativ einfach ausgestattet: kein Schnickschnack, ein großes Bambusbett, ein Regal für Kleidung und ein Bad mit Warmwasser, was genauso wie der kleine Kühlschrank und der Wasserkocher für mich schon in die Kategorie »Luxus« fiel. Doch der absolute Wahnsinn war der Ausblick von meinem Balkon auf den von Palmen gesäumten Sandstrand und das türkisfarbene Wasser. Im Regen wirkte er unheimlich und heimlich zugleich.
Die Geräuschkulisse passte zum Zwiespalt meines Ausblicks: Statt beseeltem Meeresrauschen hörte ich die ohrenbetäubende Macht der Brandung. Aber davon hatte ich schon im Internet gelesen. Da schrieb tatsächlich jemand: »Die Bungalows sind schön, aber das Meer ist zu laut.« Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Da könnte man ja gleich sagen: »Das Wasser ist zu nass«, »der Regenbogen zu bunt«, »die Auswahl zu vielfältig«, »die Torte zu sahnig« oder »der Mann zu nackt«.
Natürlich war das Meer zu laut. Aber nur, wenn man jemand anderem anstatt des Meeres zuhören wollte. Vorausgesetzt, jemand würde etwas sagen. Ich sagte nichts. Ich hörte zu. Und dabei beobachtete ich die Palmen, die vor meinem Balkon mit wehender Mähne Limbo tanzten und ab und an eine Kokosnuss fallen ließen, um auf sich aufmerksam zu machen. Vergeblich. Diese zersprangen auf den Felsen, lautlos, da sie vom Meer übertönt und dann von der nächsten Welle erbarmungslos verschluckt wurden.
Ich zog die nassen Klamotten aus, nahm eine heiße Dusche und befriedigte mich auf dem riesigen Doppelbett erst mal selbst. Zum ersten Mal seit vielen Wochen. Irgendwie hatte ich vergessen, mich selbst zu befriedigen, und ich war froh, dass es mir wieder eingefallen war. Ich hatte es vermisst.
Ich weiß nicht mehr genau, wie ich die nächsten zwei Tage verbracht habe. Erinnern kann ich mich an den permanenten Regen, an die tanzenden Palmen, an die Nässe, an das schaukelnde rote Boot, das ich Tag für Tag von meinem Balkon aus beobachtete. Es hörte einfach nicht auf zu schütten. Fast schien es, die Welt würde sich mal so richtig auskotzen. Detoxen. Alles Schlechte und Ungesunde loslassen. Raus damit. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass an diesem Ort jemals die Sonne scheinen würde, und es war mir auch egal. Ich saß auf meinem Balkon und tat das, was ich schon lange nicht mehr getan hatte: Nichts.
So lag ich einfach nur da, in meiner Hängematte auf dem Balkon, und starrte vor mich hin. Ich war weder melancholisch noch nachdenklich. Ich war nicht traurig oder glücklich. Auch nicht gleichgültig. Ich genoss es, nichts zu tun. Nichts tun zu müssen. Ich hatte keinen Druck, keinen Kummer. Ich war einfach nur da.
Ab und an knurrte mein Magen. Oder war es wieder das Meer? Verrückt, über was man sich so Gedanken macht, wenn man sich keine Gedanken mehr machen muss.
Nach zwei Tagen des schlichten Daseins beschloss ich, meine Hütte nicht nur zum Essen zu verlassen. Ich sprang durch den Regen nach unten ins Restaurant und setzte mich mit einem Stift und einem Blatt Papier an einen Tisch. Ich wollte schreiben. All die Gedanken aufschreiben, die ich nicht hatte, aber vielleicht hätte haben sollen. Oder haben würde, wenn ich anfinge, sie aufzuschreiben. Gedanken über die Zukunft oder zumindest über die Vergangenheit. Über Erkenntnisse, Vorsätze, Pläne oder einfach nur Träume. Wenigstens Fantasien, darüber, was ich vom Leben wollte. Ich war über dreißig. Und ich hatte keinen Plan.
Mit Stift und Zettel bewaffnet im Regenschauer Sumatras war ich mir sicher, einen klaren Gedanken fassen zu können. Zu müssen. Darüber, wie es »zu Hause« – zurück in Deutschland, beim Ernst des Lebens – weitergehen würde oder sollte. Zumindest darüber, wie es nicht weitergehen würde oder sollte. Nach fast drei Monaten des Alleinreisens, nach all den Eindrücken, den – wenn auch nur oberflächlichen – Bekanntschaften, wollte ich etwas mitnehmen. Etwas, das ich nicht vergessen und daher vorsichtshalber aufschreiben wollte, schwarz auf weiß. Von mir aus auch in Regen getränkt.
Aber mir wollte einfach nichts einfallen. Nichts. Ich saß bestimmt eine Stunde vor einem leeren Blatt Papier. Vielleicht auch zwei. Es war hoffnungslos. Nach über zwei Stunden bestellte ich mir einen Wein, den es zu meiner Erleichterung hier auch gab. Schließlich musste ich mir die bittere Wahrheit eingestehen: Ich hatte nichts gelernt. Ganz im Gegenteil: Ich war einfach nur davongelaufen, vor dem Kummer, dem Leid, der Realität, vor den anderen, vor mir selbst. Aber das Schlimmste an dieser Erkenntnis war, dass meine Eltern mal wieder recht gehabt hatten.
Ich trank das Glas auf ex und bestellte ein zweites. Vielleicht würde es dann gehen. Hemingway hatte das genauso gemacht. Jack London auch. Und Bukowski. Doch über dem leeren Blatt Papier kam ich nach wie vor zu der Erkenntnis, dass meine einzige und wichtigste Erkenntnis war, nichts gelernt zu haben. Vielleicht hätte ich auch zu Hause bleiben können. Aber dann hätte ich nicht mal nichts gelernt.