Читать книгу Machts gut, ihr Trottel! - Christiane Hagn - Страница 18

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Ich erwachte mit einem schlimmen Kopfschmerz. Immerhin ein Schmerz und damit ein Gefühl. Das war gut. Um noch mehr zu spüren, zwang ich mich, nun endlich meine Weiße-Hai-Phobie zu überwinden, und sprang bei strömendem Regen in die Fluten. Ich schwamm meine Kopfschmerzen einfach weg. Trotz Todesangst teilte ich mir das Wasser mit bunten Fischen, die ich namentlich aufgrund meines Halbwissens nicht benennen konnte. Nur den Clownfisch erkannte ich dank Findet Nemo. Dieser Ausblick war allemal besser als im Stadtbad Mitte, in dem ich die Wochen vor meiner Abreise schweren Herzens meine Bahnen gezogen hatte. Nicht ohne dabei an ihn zu denken. An wen eigentlich?

Ihn hatte ich schon vergessen. Er fiel in die Kategorie »belanglos«. Und dieser Gedanke zauberte ein Lächeln auf mein Gesicht. Denn das war eine wirklich gute Erkenntnis. Mein Glück war nicht von ihm oder sonst jemandem abhängig. Ich hatte es selbst vermasselt. Und das wiederum war gar nicht schlecht, denn wenn ich es selbst vermasselt hatte, könnte ich es auch selbst wieder richten.

Als ich aus dem Wasser stieg, nicht ohne mir an den spitzen Felsen eine blutende Wunde am Zeh zuzuziehen, beschloss ich, dass endlich Schluss sei mit der Opferhaltung. (Und dass es Zeit für Badeschuhe war.) Ich wollte kein Opfer mehr sein. Kein Opfer des gebrochenen Herzens oder der gemeinen anonym bleiben wollenden Berliner Subkultur-Männer. Wenn ich von nun an leiden sollte, dann weil ich es so beschlossen hatte. Aktives Leiden statt passivem Verkümmern. Dieser Gedanke gefiel mir. Und mit etwas Geschick könnte ich aus dieser neuen Einstellung vielleicht nicht nur kein Leid gewinnen, sondern möglicherweise sogar Glück.

Das war vielleicht ein wenig zu dreist für den Anfang. Ich wollte meine Ziele nicht gar so hoch stecken, damit meine Chance, diese auch zu erreichen, größer blieb. Spontan entschied ich mich für das Ziel »Unbeschwertheit erlangen«.

Also ignorierte ich den blutenden Zeh und setzte mich ganz unbeschwert an den Strand. Da saß ich nun und starrte auf den Horizont, auf die immense Weite des Meeres. Es sah aus, als würde die Welt dahinter einfach aufhören oder in eine neunzig Grad tiefe Schlucht übergehen. Der Anblick war faszinierend. Trotzdem, nach zwei Minuten des Starrens wurde mir das dann auch schon wieder zu langweilig. Also stand ich auf, griff mein Handtuch und ging los in Richtung Honeymoon-Hütte.

In dem Moment, als ich den ersten Schritt tat, ertönte ein unglaublich lauter Knall. Direkt hinter mir. Zu Tode erschrocken drehte ich mich um und starrte auf eine aufgeplatzte Kokosnuss, die genau dort lag, wo ich vor einer Sekunde noch gesessen hatte. Es war kaum zu fassen. Aber es schien, als hätte meine Unfähigkeit, länger als zwei Minuten still zu sitzen und unbeschwert zu tun, gerade mein Leben gerettet. Ob das ein Zeichen war? Von – im wahrsten Sinne – ganz oben? Was wollte »er« oder »sie« oder »es« mir damit sagen? Vielleicht: »Unbeschwertheit ist überbewertet bis lebensgefährlich«? Oder eher: »Egal was du tust, es liegt eh in meiner Hand, über dein Leben zu entscheiden.«

Ich konnte den Gedanken nicht zu Ende spinnen, da plötzlich ein aufgebrachter junger Mann vor mir stand, der geschockter zu sein schien als ich selbst.

»Bist du in Ordnung?«, fragte er mich in perfektem Englisch, das ich spontan keiner Nationalität zuordnen konnte. Dabei sah er ein bisschen blass aus, was irgendwie lustig wirkte: dieser blutleere Kopf auf dem sonnengebräunten Körper. Dann entdeckte er meinen blutenden Zeh und beugte sich sofort nach unten, um das Unglück zu begutachten. Er entschuldigte sich tausendmal und bat mich, an Ort und Stelle Platz zu nehmen. Ich antwortete ihm, dass ich nicht, beziehungsweise nicht mehr, lebensmüde wäre und daher einen überdachten Sitzplatz vorziehen würde. Dann humpelte ich in Richtung Restaurant davon, mehr um Mitleid zu erzeugen als wegen der Schmerzen. Der junge Mann eilte mir hinterher, nahm mich kurzerhand auf seine Arme und trug mich zu einem Stuhl. Ich protestierte zwar gegen diesen abrupten körperlichen Übergriff, aber zugegebenermaßen nicht sonderlich vehement. Seine warme Haut fühlte sich unverschämt gut an.

Kaum hatte er mich abgesetzt, verschwand er wieder. Ich starrte auf die Palme, die eben versucht hatte, mich umzubringen, und erinnerte mich, dass die Wahrscheinlichkeit, von einer herabfallenden Kokosnuss getötet zu werden, viel größer war als die, durch einen Haiangriff zu sterben. Um genau zu sein, beträgt die Wahrscheinlichkeit, von einem Hai angegriffen zu werden, nur eins zu zehn Millionen. Und von weltweit 76 Haiangriffen jährlich endeten nur fünf tatsächlich tödlich. Dagegen wurden jedes Jahr etwa 150 Menschen an Stränden von Kokosnüssen erschlagen.

Dennoch: Die Furcht vor Haien überwiegt. Schließlich gibt es auch fünf Teile von Der weiße Hai und zwei Teile Open Water, doch keinen Film namens Die Killernuss oder Der Tod lauert unter der Palme. Selbst Menschen, die in der »Gefahrenzone Strand« lebten, schätzten die tödliche Bedrohung offensichtlich falsch ein. So zum Beispiel auch die Fischer von Sumatra: Diese würden, wie ich von einem dieser aufdringlichen Pärchen, die sich nach nur wenigen Tagen Zweisamkeit im Paradies gegenseitig zu Tode langweilen, beim Abendessen ungefragt erfuhr, niemals ohne Socken zum Nachtfischen hinausfahren. Das taten sie aus folgendem Grund: Falls sich der Anker verhaken und sie in das schwarze Wasser springen müssten, um ihn zu lösen, würden sie sich ihre vorab mitgebrachten Socken anziehen. Reine Vorsichtsmaßnahme, um den Hai nicht mit ihren weißen, zappelnden Fußsohlen zum Angriff zu ermutigen. Nachvollziehbar. Doch kein Mensch trägt am Strand einen Helm. Grob fahrlässig, wie ich nun feststellen musste.

Diese Kokosnuss-versus-Hai-Statistik hatte ich im Zuge meiner Reisevorbereitungen recherchiert, aber aufgrund von Unglaubwürdigkeit ignoriert. Wie absurd das wäre, wenn man auf seiner Liebeskummer-Reise durch eine Kokosnuss zu Tode käme. Nicht gerade ein Märtyrertod. Und genau das erzählte ich dem jungen Mann, der inzwischen zurückgekehrt war, um meinen Fuß professionell mit einem Erste-Hilfe-Set zu verarzten.

»Du hast wirklich Glück gehabt, dass die Kokosnuss nur deinen Fuß getroffen hat. Das hätte übel ausgehen können«, meinte er, während er meinen Zeh sehr zärtlich mit höllisch brennender Jodsalbe eincremte.

Doch ich klärte das Missverständnis sofort auf. Nämlich, dass ich mir diese Verletzung selbst verschuldet an dem Felsen zugezogen hatte. »Und mein Überleben hatte außerdem auch rein gar nichts mit Glück zu tun«, fügte ich erklärend hinzu. »Das Leben habe ich mir nämlich selbst gerettet, denn unbeschwertes Sitzen finde ich nach zwei Minuten einfach schrecklich langweilig. Ich bin schließlich kein Opfer, auch nicht des Schicksals. Zumindest nicht mehr.«

Er sah mich verwirrt an und lächelte. Dann meinte er, meine Gedanken wären etwas sehr »random«, also »zufällig«. Ich wusste zwar nicht, ob das nett gemeint war, lächelte aber sicherheitshalber zurück.

Nachdem er meinen Zeh fachkundig verbunden hatte, entschuldigte er sich ein weiteres Mal für den Kokosnussanschlag. Ich nahm die Entschuldigung gern an, versicherte ihm aber, dass es bestimmt nicht in seiner Hand gelegen hätte, ob mich diese Kokosnuss umbringen wollte oder nicht. Aber er sah das anders. Schließlich wäre »Opa« dafür verantwortlich, die Kokosnüsse hier rechtzeitig vom Baum zu schütteln, bevor sie zur Lebensgefahr werden konnten. Und er wiederum wäre verantwortlich dafür, dass »Opa« seinen Job machte. Opa? Ich verstand gar nichts mehr.

»Was kann denn dein Opa dafür?«, fragte ich und brachte ihn damit unbeabsichtigt zum Lachen. Er klärte die Situation umgehend auf: »Opa ist der Spitzname für Pa Wayan, den ältesten Mitarbeiter hier im Resort. Und es gehört nun mal auch zu seinen Aufgaben, wöchentlich die Palmen zu erklimmen und abzuernten. Und ich bin dafür verantwortlich, dass Opa seinen Job macht, anstatt den ganzen Tag Touristinnen auf den Po zu glotzen.«

»Also arbeitest du auch hier?«, fragte ich verwundert nach. Bisher hatte ich nämlich nur einheimische Angestellte gesehen, die kein Wort Englisch verstanden oder sprachen. Und der junge Mann hier war hellhäutig und sprach fließendes Englisch, das eindeutig seine Muttersprache zu sein schien.

»Ich glaube schon«, sagte er, als hätten ihn meine Zweifel selbst zum Zweifeln gebracht. Um seine Aussage zu bekräftigen, fügte er hinzu: »Schließlich bekomme ich jeden Monat ein paar Rupien ausgezahlt, schlafe und esse umsonst. Das bedeutet, ich arbeite hier, oder? Auch wenn ich das mit den Kokosnüssen diese Woche echt vermasselt habe.« Jetzt musste ich lachen.

Nachdem alle Missverständnisse aufgeklärt, Arbeitsverhältnisse erläutert und Zehen verbunden waren, bot er mir an, mir zur Entschädigung ein Getränk zu bringen, ein Essen auszugeben oder mir einen anderen Wunsch zu erfüllen. Ich entschied mich spontan für den Wunsch.

»Spielst du Schach?«

In Filmen spricht man bei solch einer Begegnung zwischen Mann und Frau von einem »Magic Moment«, in seichter, aber dafür nicht weniger lebensnotwendiger Frauenliteratur von »Liebe auf den ersten Blick«. Mein Verstand, den ich seit Neuestem zu gebrauchen gedachte, nannte es »die Liebeskummerfalle« und ich schwor ihm und mir, während ich debil vor mich hinlächelte, diesmal nicht hineinzutappen. Allerdings sprach nicht wirklich etwas dagegen, diesen jungen Mann nur so zum Zeitvertreib und wegen des schlechten Wetters zu einer Partie Schach herauszufordern. Mein Verstand rief zwar irgendetwas, aber ich konnte ihn nicht hören. Das Meer war zu laut.

Er lächelte. Und ich, ich dumme Kokosnuss, ich war verliebt.

Machts gut, ihr Trottel!

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