Читать книгу Machts gut, ihr Trottel! - Christiane Hagn - Страница 19

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Meine Mutter sagte immer, wenn man einen Menschen wirklich kennenlernen möchte, sollte man mit ihm in die Berge fahren. Bestimmt ist da was Wahres dran. Ich hatte allerdings die Erfahrung gemacht, dass man, wenn man einen Menschen wirklich kennenlernen wollte, gegen ihn Schach spielen musste. Das hat auch den Vorteil, dass man nicht ein Wochenende mit einem Mann, der sich womöglich als Vortrottel herausstellt, in den Bergen festsitzt.

Eine Partie Schach konnte in der Tat sehr viel über den Charakter eines Menschen aussagen. Da Männer, wie ich behaupten möchte, grundsätzlich eher ein Problem damit haben, bei Spielen oder Sportarten zu verlieren, im Besonderen, wie ich wiederum behaupten möchte, gegen Frauen, weil diese ja angeblich das schwächere Geschlecht sind, ist so eine gegengeschlechtliche Partie Schach unter dem Kennenlern-Aspekt äußerst aufschlussreich.

Schon die Eröffnung verrät sehr viel über seinen Charakter. Ist er eher offensiv oder defensiv? Entwickelt er seine Figuren und geht dabei auf Nummer sicher oder stürzt er sich tollkühn mit einem Springerangriff im Alleingang auf die andere Seite? Ist er ein Sicherheitstyp, rochiert er meist relativ früh und entwickelt seine Dame erst gegen Ende des Spiels. Ist er mutiger bis hin zu übermütig, riskiert er ein Bauernopfer, um einen Angriff einzuleiten oder einen Entwicklungsvorsprung zu erzielen.

Unabhängig von der strategischen Spielweise ist es äußerst interessant, das Spielverhalten des Gegenübers außerhalb des Spielbretts zu beobachten. Spricht er während der Partie? Und wenn ja, über was? Lobt er gute Züge seines Gegners oder gar seine eigenen? Flucht er, wenn er einen fatalen Fehler gemacht hat? Und sucht er anschließend nach lächerlichen Ausreden oder hat er die Größe, sich eine Unaufmerksamkeit einzugestehen? Schaut er seinem Gegenüber ab und an in die Augen? Googelt er Regeln wie das »en passant«, falls er sie nicht kennt? Sagt er höflichkeitshalber »gardez«, wenn er die gegnerische Dame bedroht? Wie lange nimmt er sich Bedenkzeit? Neigt er dazu, einen Zug zu machen und die Figur erst dann loszulassen, wenn er sich ganz sicher ist, dass sie richtig steht? Dann fällt er für mich in die Kategorie »ängstlich«, »verunsichert« oder »zögerlich«. Nimmt er sich ausreichend Bedenkzeit und zieht anschließend entschlossen seine Figur, ohne lange daran rumzufingern, fällt er in die Kategorie »konsequent«, »entschieden«, »selbstbewusst«. Scheint er dahingegen auf Bedenkzeit völlig zu verzichten, fällt er, falls er gewinnt, in die Kategorie »Profi« bis hin zu »Angeber«. Falls er verliert, in die Kategorie »Hitzkopf« bis hin zu »Depp«.

Neben all diesen Feinheiten ist es immer am interessantesten zu beobachten, wie Männer sich verhalten, die zu ihrer Überraschung gegen eine Frau verlieren. Meine Top drei auf dieser Liste sind bisher:

1. Ein Klassenkamerad, der mich erst in den Unterarm biss und dann das Schachbrett aus dem Fenster warf.

2. Ein Liebhaber, der sich entschied, die Nacht doch lieber allein anstatt nackt in meinen Armen zu verbringen.

3. Ein fester Freund, der mich anschließend darauf hinwies, dass ich fett geworden sei.

Ich selbst flippe nur aus, wenn ich – wie immer – gegen meinen Vater verliere, der dann großartig rumposaunt, dass ich endlich lernen müsse, die Einzüger zu erkennen. Dann würde ich ihm am liebsten auch den Arm abbeißen, das Schachbrett auf seinen Mercedes knallen und behaupten, dass ich von einem Obdachlosen schwanger wäre.

Aber meistens stehe ich dann einfach nur auf, mache eine Faust und bedanke mich für das »Lehrspiel«, wie mein Vater unsere Partien zu bezeichnen pflegt. Mit David, wie sich der junge Mann namentlich vorstellte, Schach zu spielen, warf mich allerdings etwas aus der Bahn. Sein eigenes Spielverhalten war nicht wirklich aufschlussreich. Er war weder zu defensiv noch zu aggressiv. Er stierte weder verbissen vor sich hin, noch spielte er den leichtfüßigen Schachspieler, der nebenher noch ein Sudoku lösen könnte. Er nahm sich durchschnittlich viel Bedenkzeit, die kontinuierlich in etwa der meinen entsprach. Seine Figuren zog er sicher, aber nicht zu energisch über das Spielfeld. Ab und an sah er mich an, lächelte oder zündete sich eine Zigarette an, die mehr nach Nelken als nach Tabak roch.

Ich konnte nicht wirklich in seine Seele schauen. Ich konnte ihm nicht mal in die Augen sehen, denn David schien den Spieß umzudrehen: Wenn es an mir war, einen Zug zu machen, spürte ich seinen Blick auf mir. Ich tat, als würde ich das nicht bemerken, und sah besonders konzentriert auf das Spielfeld, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Ab und an kommentierte er einen unserer Züge, ohne den Klugscheißer oder den Ironiker zu geben. Ansonsten verlief unsere Partie weitestgehend schweigend. Ab und an stellte er mir eine Frage oder erkundigte sich, ob ich etwas essen oder trinken wollte. Ich antwortete knapp und versuchte, mich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen und besonderes Augenmerk auf die Einzüger zu legen, zumal die Stimme meines Vaters nicht müde wurde, mich in meinem Kopf anzubrüllen.

Unsere erste Partie endete überraschenderweise in einem Unentschieden, obwohl er einen klaren Vorteil in Form eines Springers mehr hatte.

David reichte mir die Hand, bedankte sich für das interessante Spiel und fragte, ob ich Lust auf eine Revanche hätte. Ich wollte ihn nicht weiter von der Arbeit abhalten und damit das Leben anderer Touristen gefährden und vertröstete ihn daher auf eine Partie nach dem Abendessen. Vielleicht. Dieses »vielleicht« konnte ich mir nicht verkneifen. Ich fürchte, damit wollte ich mich interessant machen, redete mir aber ein, eventuell andere Pläne zu haben. Zum Beispiel, unbeschwert auf das Meer zu starren.

Zurück in meiner Hütte setzte ich mich samt Herz und Verstand auf den Balkon und genoss den Ausblick. Wie wir drei da so saßen, stellten wir fest, dass die Welt – abgesehen von der unkalkulierbaren, wenn auch geringen Gefahr durch Haiangriffe oder Kokosnüsse und der Belästigung durch das viel zu laute Meer – wirklich schwer in Ordnung ist. Nein, sogar ganz wunderschön. Und von Liebeskummer sollte ich mich von nun an einfach fernhalten, riet mir mein Verstand, der links neben mir im Schatten mit einem alkoholfreien Bier saß. Dann könnten wir uns zukünftig nämlich auch diese anstrengenden Reisen ersparen, schob er flüsternd hinterher, mit konspirativem Blick und sehr auffälliger Kopfbewegung in Richtung Herz, das vergnügt und inzwischen völlig genesen auf der Balkonbalustrade herumturnte.

Ich nickte zustimmend und versprach, mich fernzuhalten von Männern, die mein Herz stahlen, von Versprechen, die gebrochen wurden, und von Zukunftsfantasien, die sich als romantische Illusion einer Überdreißigjährigen entpuppten, die nicht erwachsen werden wollte und zu viele amerikanische Vampirgeschichten

gelesen hatte. Ich versprach, mich von der Vorstellung zu verabschieden, dass es da draußen Edward, den Vampir, Jacob, den Werwolf, oder wenigstens einen Gale oder Peeta geben könnte, die im unwahrscheinlichen Fall von »Hungerspielen«, ohne zu zögern, ihr Leben für mich opfern würden. Denn Männer, die keine Verwendung für Worte wie »beziehungsunfähig«, »Polygamie« oder »Freiraum« hatten, gab es nur im Film. Männer, deren Wortschatz die Ausdrücke »bedingungslose Liebe«, »keine Angst vor Nähe« und »Verantwortung« umfasste, waren bereits im Paris der Zwanzigerjahre ausgestorben.

Ich beschloss, einfach hier sitzen zu bleiben, unter meinem Dach, wo weder Helm noch Socken erforderlich waren. Sicher ist sicher.

Machts gut, ihr Trottel!

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