Читать книгу Schicht im Schacht - Christiane Uts - Страница 3
ОглавлениеI. FREITAG, 5. JULI
Heimkehrer
„Herr Markus Tiedemann, gebucht auf die Maschine ...“.
Markus war wieder mal spät dran. Schnellen Schrittes eilte er durch das Terminal.
„... wird gebeten, zum Gate 23 zu kommen.“
Das Gate, von dem sein Flugzeug abflog, war – ebenfalls wie immer - am Ende des Terminals, der Weg entsprechend weit und Markus gestresst. Wieder mal nichts für die Kinder dabei. Wieder mal versagte das Antitranspirant. Die linke Hand fingerte suchend in der Außentasche seines Jackets nach dem Boarding-Pass, während sich die rechte Hand um das Notebook krallte, damit es in der Hektik nicht verloren ging.
Das Bodenpersonal wartete schon ungeduldig, versuchte sich dies aber nicht anmerken zu lassen, sondern scannte zügig den Abschnitt ein und wünschte noch einen guten Flug. Durch den Rüssel ging es in die Maschine, ein bevorzugter Gangplatz war beim Einchecken leider nicht mehr frei. Der mittlere Sitzplatz war in etwa so komfortabel wie die Versuchsanordnung, in der Tiere im Namen der Forschung gefoltert werden. Der nach dem Start servierte Kaffee und das obligatorische Pappbrötchen verstärkten den Eindruck nachhaltig. Wenigstens Bonuspunkte!
Nach der Landung folgte die letzte Disziplin des Reisedekathlons: die Taxifahrt. Da mehrere Maschinen gelandet waren, und einige davon verspätet, war die Warteschlange am Taxistand entsprechend lang. Nach etwa zehn Minuten hatte Markus einen der vorderen Plätze erreicht. Abschätzend schaute er in die Reihe heranfahrender Taxen. Eine Vorgehensweise, die er sich angewöhnt hatte als er mal mit einer alten Schrottkiste auf halber Strecke liegen geblieben war und der Taxifahrer einen Kollegen rufen musste. Da das Beförderungsentgeld fahrzeugunabhängig war, wollte Markus in einem ordentlichen Taxi fahren, möglichst in einem Fahrzeug der oberen Mittelklasse oder besser. Bei anderen Kutschen ließ er gern jemand anderen in der Warteschlange den Vortritt.
Das Fahrzeug, welches vor ihm zum Stehen kam, war ein relativ neuer E-Klasse Mercedes. Markus schwang sich auf die Rückbank, nannte als Fahrziel Biberlingen-Blumental und erkannte erst dann, dass es sich diesmal um eine Fahrerin handelte, was selten war. Die späte Stunde, es war bereits zwanzig Uhr, animierte ihn nicht mehr zur Konversation. Aus Höflichkeit erkundigte er sich dennoch danach, ob denn viel los sei, was zu einem Monolog der Taxifahrerin führte, der bis in den Rosenweg der dreißig Kilometer entfernten Stadt Biberlingen reichte.
Sie sprach von den Spritpreisen, die zur Zeit völlig inakzeptabel seien und von Wartezeiten am Flughafen und dass Biberlingen natürlich eine gute Fuhre sei, während sie in der vergangenen Woche nach einer Stunde Wartezeit den Fahrgast nur ins Airport-Hotel bringen durfte. Und überhaupt Biberlingen. Wenn dort erstmal der Flughafen ausgebaut sei, könne man quasi zwischen den Flughäfen pendeln und den Umsatz wie in einer Zwickmühle in schwindelerregende Höhen steigern. Außerdem hätte sie letztens erst den Dings, den Chef der Baufirma gefahren. Der hätte ihm erzählt, dass es bereits Planungen zu einem Outlet-Park gäbe. In Biberlingen gehe was. Gute Location.
Markus Tiedemann hörte nur am Rande zu, ließ noch das Meeting in Zürich in seinem Geiste vorbeiziehen. Ging es doch um einen großen Kunden, der die Agentur, in der Markus Team-Leiter im Bereich Web-Entwicklung war, für ein Promotion-Projekt engagieren wollte. Gegen zwanzig Uhr fünfundvierzig war Markus nach einem langen Tag endlich zuhause angekommen.
Markus öffnete die Haustür und sondierte mit einem mittellauten, langgezogenen „Hallo“ die Lage. Nach geraumer Zeit, gerade so als ob bei dieser Kommunikation die Laufzeit zwischen Erde und Sonne eine Rolle spielte, erhielt er zunächst eine „Hallo“- Rückantwort von seiner Tochter Svenja und etwas später von seinem Sohn Fabian. Beide verweilten offenbar in ihren Zimmern im Dachgeschoss.
„Ist Mama gar nicht zuhause?“ rief Markus nach oben, und erhielt diesmal postwendend von Svenja die leicht genervte Antwort „BBP – wie jeden Freitag“. Er schmiss die Sachen in die Ecke und nahm sich erst einmal ein Bier aus dem Kühlschrank: Mann trinkt auf Dienstreisen zu wenig.
Problemzonen
Katharina Tiedemann war eine sportlich-adrette Mittvierzigerin. Ein- bis zweimal pro Woche ging sie mit ihrer besten Freundin Caroline Staben zum Bauch-Beine-Po – Training, welches von der Volkshochschule Biberlingen Montags, Dienstags und Freitags angeboten wurde.
Caroline war 38, gertenschlank und gut aussehend.
„Oh mein Gott, heute tut mir alles weh!“, sagte Katharina zu Caro, während sie unter der heißen Dusche stand und sich das Wasser zur Entspannung den Rücken hinunter laufen ließ.
„Na ja“, antwortete Caro mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht, „du bist eben ein paar Jahre älter als ich!“
Beide mussten lachen, beendeten dann das Duschen, trockneten sich ab und verhüllten die knackige Figur mit den neuesten Kreationen aus der Biberlinger Fashion-Meile.
Entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten gingen sie diesmal nicht mehr in die nahe gelegene Sport-Bar, da Caros Schwiegermutter sich noch für den Abend angekündigt hatte.
Reifeprüfung
Fabian Tiedemann hatte in diesem Sommer sein Abitur bestanden, in der Schule bereits Tabula Rasa gemacht und das Zeugnis in der Hand. Er war ein guter Schüler. Für die sofortige Aufnahme des gewünschten Medizinstudiums fehlte aber leider eine kleinere Nachkommastelle. So war er vor einigen Wochen noch auf der Suche nach einer sinnvollen, Punkte bringenden und Sozialengagement zeigenden Beschäftigung.
Schafe scheren in Neuseeland konnte er sich nicht so richtig vorstellen, wenngleich ihn das Land durchaus interessiert hätte. Einen sozialen Hintergrund suchte er. Nach einem Informationstag beim Bundesarbeitskreis Freiwilliges Soziales Jahr erkannte er dann „eine Chance seine Persönlichkeit und Kompetenzen weiterzuentwickeln“. Schließlich fiel seine Wahl auf ein FSJ im Stadtklinikum Biberlingen. So konnte er bereits seitlich in den zukünftigen Beruf des Arztes reinschnuppern und gleichzeitig in seiner Mannschaft weiterhin Basketball spielen. Zum Studium musste er Biberlingen ohnehin verlassen, da es hier keine Hochschule gab. Einziger Nachteil: Er musste am ersten Juli bereits anfangen, da das Klinikum auf Grund einer Umstrukturierung in diesem Monat besonders knapp an humanen Ressourcen war. Dreizehn Jahre Schule ohne im Anschluss fette Ferien zu haben! Das war eigentlich ein K.O.-Kriterium für diese Stelle. Aber es gab einen Deal mit der Personalabteilung. Fabian fingt am ersten Juli an zu arbeiten und sollte dann die Monate August und September Urlaub bekommen. Im Oktober würde es dann so richtig ernst werden. Auf diese Weise konnte er auch nochmal mit der Familie kostengünstig in den Urlaub fahren. Gebongt. Seit zwei Wochen arbeitete er nun also im Klinikum, zunächst in der Kinderabteilung.
Reife-Prüfung
Svenja war gerade in dem Abschnitt der Abdoleszens, in dem Eltern peinlich sind. Sie war vierzehn Jahre alt und kurz vor dem Ende der achten Klasse am Eduard-Kluge-Gymnasium in Biberlingen. Die Schule war dafür bekannt, trotz der wirren Entscheidungen und unnötigen Strukturänderungen des Kultusministeriums, noch überaus brauchbare Schulabgänger in die Umlaufbahn des ernsten Lebens zu befördern. Die Klasse hielt ihre Bildungseinrichtung für eine inklusive Schule, schließlich waren im Unterricht auch Lehrer anwesend.
Svenja war ein aufgeschlossenes Mädchen, liebte Musik und hasste Ungerechtigkeiten. Wenn sie nicht gerade mit einem Fuß auf dem Schreibtisch lässig auf der Bettkante saß und sich die Fingernägel umlackierte, spielte auch sie im TSV Biberlingen Basketball, hörte „voll schrille Musik“ oder „chillte“ mit ihren Freundinnen „total krass“ ab.
Dunstkreis
Biberling wurde landschaftlich von der weltlichen Entstehungsgeschichte verwöhnt. Die Stadt lag zwischen dem Fluss Beaverau im Westen, dem Waldgebiet im Süden und dem seicht ansteigenden Gebirge im Nord-Osten.
Die 30.000 Einwohner zählende Kleinstadt besaß bereits seit Mitte der sechziger Jahre Stadtrechte. Sie hatte damals etwa siebzehntausend Einwohner und wuchs besonders in den achtziger und neunziger Jahren langsam aber kontinuierlich. Zum Erfolg trugen besonders der Bau des Klinikums, der zunehmende Tourismus, die Wiedereröffnung des – wenn auch kleinen – Flugplatzes und der Bau der Wohnsiedlungen nordöstlich der Stadt bei. Entsprechend interessante Gewerbesteuerzahler waren unter Anderem die Baufirma FlaKo Bau GmbH, das Stadtklinikum, sowie die Summe der mittelständischen Firmen der Größenordnung zehn bis fünfzig Mitarbeiter.
Man munkelte außerdem, dass die Stadt als zukünftiger Luftkurort ein Kurzentrum erhalten könnte. Aber dies war noch sehr leise Zukunftsmusik, einen Antrag auf Anerkennung als Kurort gab es bisher noch nicht und die Finanzierung und Umsetzung des Projektes wäre wohl so seriös und stabil wie der Bau des Berliner Flughafens.
Geleitet wurde die Verwaltung durch Karl Wolter, der als Oberbürgermeister und Kind der Stadt über ein hohes Ansehen und gute Kontakte verfügte. Er war eher der Typ mit den aufgekrempelten Hemdsärmeln als Träger von Nadelstreifen, was ihn allerdings nicht bei allen beliebt machte. Seine Mitgliedschaft in der SPD spielte da eher eine untergeordnete Rolle.
Biberlingen wurde durch die Beaverau in den größeren östlichen Teil und den kleineren westlichen Teil getrennt. Der Altstadtteil lag etwa mittig im Ostteil. Die bevorzugten Wohngebiete lagen westlich des Flusses. Das neue Wohngebiet im Nordosten wurde in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre gebaut, da die Stadt aus den Nähten zu platzen drohte. Die Grundstücke wurden den ortsansässigen Bauern abgekauft. Landwirtschaft wurde in dieser Region ohnehin nicht mehr groß geschrieben. Und die Zweifler erkannten schnell, dass sie gar nicht mehr so häufig mit dem Traktor rausfahren konnten, um das zu verdienen, was sie durch den Verkauf der Grundstücke einnehmen konnten.
Familien konnten mit relativ günstigen Krediten der KfW ein Eigenheim erwerben. Dreifach-Reihenhäuser und Doppelhaushälften wurden hier in erster Linie gebaut, federführend durch die FlaKo-Bau GmbH. Der Flugplatz im Süd-Osten störte bei den geringen Flugzahlen und den kleinen Maschinen nicht. Der Wohnwert war hoch, die Eigenheime wurden schnell verkauft.