Читать книгу Schicht im Schacht - Christiane Uts - Страница 8
Arztbesuch
ОглавлениеGelangweilt wippte Lena mit den Beinen auf dem Stuhl hin und her. Ihr Blick wanderte dabei langsam vom Tisch vor ihr, mit den darauf kreuz und quer verteilten Kinderbüchern, an dem kleinen Regal neben dem Fenster hoch, bis zur gegenüberliegenden Wand, an der unzählige Kinderbilder den leichten Grauschleier und die vielen Abdrücke von Kinderhänden auf der hellgelben Wandfarbe zu übertünchen versuchten. Viele neue Bilder waren im vergangenen Monat nicht hinzugekommen, die genaue Position der meisten dieser kleinen Kunstwerke hatte Lena auf Grund ihrer bisherigen Besuche bereits im Kopf.
Außer Lena und ihrem Vater, der neben ihr saß und eine Automobilzeitschrift las, war noch eine junge Mutter mit ihrem schreienden Baby im Wartezimmer, was die Wartezeit für Lena nicht gerade angenehmer gestaltete. Und wodurch sich die Frequenz der wippenden Beine nur noch erhöhte. Einige Minuten später kam die rettende Erlösung, als die Arzthelferin ihren Kopf durch die geöffnete Wartezimmertür steckte und mit freundlichem Gesichtsausdruck „Lena Neuberger, bitte!“ rief. Lena und ihr Vater standen sofort auf und, während die Zeitschrift noch scheinbar wie in Zeitlupe auf den Tisch schwebte, waren die beiden bereits im Flur, auf dem Weg in das Behandlungszimmer von Dr. Schulte.
Wie immer reichte Dr. Schulte dem begleitenden Elternteil zuerst die Hand, während er sich dabei zügig mit den Worten „Na, wie geht's denn heute?“ zu Lena wandte. Lena machten Arztbesuche hingegen meist ein wenig nervös und so fokussierte sie ihren Blick auf den kleinen goldenen Bären der auf dem Schreibtisch des Arztes stand und antwortete wie immer mit einem zarghaft-langgezogenen „Gut“.
Lena ging es merklich besser, seit die Familie sich entschlossen hatte, den Wohnort fernab einer Nachtflugzone eines Großflughafens in das idyllische Biberlingen zu verlegen. Die Nervosität und die Konzentrationsschwäche in der Schule und bei den Schularbeiten verringerten sich bereits merklich, wusste der Vater dem Arzt zu berichten. Dr. Schulte begrüßte den Fortschritt und erklärte, dass Fluglärm bedingte Gesundheitsrisiken unter Anderem durch die 2008 im Umfeld europäischer Flughäfen durchgeführte HYENA-Studie bestätigt wurden. Und während er über Lärmpegel und signifikante Erhöhungen morgendlicher Stresshormone referierte, führte er bei Lena eine Blutdruckmessung durch. Alles bestens. Die Herz-Kreislauf-beruhigende Medikation, die noch zu Beginn der Behandlung nötig war, wurde nun schon seit mehreren Monaten nicht mehr benötigt. Nächster Termin in vier Wochen.
Dr. Schulte ließ noch wissen, dass am Städtischen Klinikum gerade über die Einrichtung einer Abteilung für Flugmedizin diskutiert wurde, die sich auch mit den Auswirkungen von Fluglärmbelastungen beschäftigen sollte. Lenas Vater wunderte sich - er hatte den Artikel im Biberlinger Tageblatt zum Ausbau des Flugplatzes nicht gelesen - bedankte sich aber für die Information und verabschiedete sich. Auf dem Weg zum Auto beschlich ihn die für ihn quälende Vorahnung eines Flughafenausbaus in Biberlingen. Die Idee trieb ihm zusätzliche Falten auf die Stirn. Die Familie war doch nicht umgezogen, hatte Freunde und Bekannte und einen guten Job hinter sich gelassen, um jetzt wieder von vorne anzufangen. Entsprechend gereizt und nachdenklich gestaltete sich die Fahrt nach Hause.