Читать книгу Schicht im Schacht - Christiane Uts - Страница 9
Fluglärmbelastungen
ОглавлениеNeuberger war gelernter Kommunikationselektroniker. Er hatte damals, als sich die Familie für den Umzug nach Biberlingen entschloss, einen Job bei der Elektro-Systeme Biberlingen, ESB, bekommen, eine der größten Elektrofirmen in der Region. ESB war in den Bereichen Elektroinstallation, Hausautomation und Kommunikationstechnik zuhause. In letzterem Bereich fand Neuberger seine Anstellung.
An diesem Tag gab es eine Inbetriebnahme am späten Abend, die in Neubergers Verantwortung lag. Da bei einigen Kunden auf Grund von Systemverfügbarkeiten nur nachts gearbeitet werden konnte, kam es in Ausnahmefällen zu solchen Spätschichten, die immerhin dazu gut waren, den täglichen Trott ein wenig zu durchbrechen. Außerdem gab es eine Nachtzulage und einen freien Vormittag.
Die letzten Tage waren schon sehr sommerlich gewesen und das kurze Wärmegewitter, welches am vorherigen Tag in den Nachrichten vorhergesagt wurde, ergoss sich gerade über Biberlingen. Neuberger saß vor dem Fenster am Erker und begleitete die Regentropfen, die auf der Scheibe – teils alleine, teils mit anderen Tropfen zusammenlaufend – getrieben von der Erdanziehungskraft ihren Weg in Richtung Boden suchten.
Die Fokussierung seiner Augen verlief langsam in die Ferne, wobei die Regentropfen auf der Scheibe in gleichem Maße unscharf wurden. Der Blick ging über die Tujas, welche die Grundstücksgrenze markierte, in den Himmel. Während ihm spontan Reinhard Mey's Lied „Über den Wolken“ durch den Kopf ging, drehten sich seine Gedanken doch eigentlich um den eventuell zu erwartenden Fluglärm.
Nie hätte er gedacht, dass er sich mal mit den Ursachen und den Folgen Fluglärm bedingter Erkrankungen beschäftigen musste. Epidemiologie nennt dies der Fachmann. Aber an ihrem vorherigen Wohnort wurde durch den Bau einer weiteren Start-/Landebahn eines bereits viel zu großen Flughafens die kleine Idylle in Neubergers Hinterhof nachhaltig gestört. Bei den fragwürdigen Genehmigungsverfahren für die Flughafenerweiterung waren damals natürlich auch Fachmänner und andere Lobbyisten beteiligt. Die geballten Kräfte der Bürgerinitiativen und Verbände waren allerdings gegen Wirtschaft und Politik in ihrer Wirkung völlig unterdimensioniert.
Wie hatten sie es verabscheut, wenn die Politiker auf Informationsabenden durch das rosa Mikrofon nur die Vorzüge einer Flughafenerweiterung in den Vordergrund stellten. Arbeitsplätze sollten in großem Maßstab entstehen. Ein Nachtflugverbot sollte die Anwohner schützen.
Die Anzahl der Arbeitsplätze schien sich tatsächlich zu erhöhen. Wie sich aber später herausstellte, handelte es sich nur um eine Verschiebung, da Firmen wie Logistikunternehmen ihren Standort in die nähere Umgebung des Flughafens verlagerten.
Das zunächst eingeführte Nachtflugverbot wurde auf Druck der am Flughafen beteiligten Fluggesellschaften Schritt für Schritt gelockert.
Es fing schleichend an. Die Kinder wurden langsam schlechter in der Schule, unkonzentrierter, wobei dies sogar sehr viel stärker auf Lena als auf ihren zwei Jahre älteren Bruder zutraf. Man dachte zunächst an prä-pubertäre Hormoneskapaden, die zu einer Prioritätsverschiebung zu Ungunsten der täglichen Lernarbeit und der allgemeinen Sozialverträglichkeit führten. Aber die Stimmung im Haus wurde insgesamt gereizter. Ständig litt man an Schlafmangel oder konnte sich nicht konzentrieren. Auf ihrem Weg durch den Ärzte-Dschungel hatten sie eine wahre Odyssee hinter sich gebracht. Die vielen Verharmlosungen und Fehleinschätzungen der Ärzte klangen Neubergers noch immer wie Sirenengesänge in den Ohren.
Neubergers beschäftigten sich damals intensiv mit dem Thema Fluglärm. Sie traten der Bürgerinitiative Anwohner gegen Fluglärm bei, lasen Publikationen des Umweltbundesamtes und epidemiologische Studien und waren vertraut mit Begriffen wie „Lärmexposition“, „Lipoproteinspiegel“ (Stress bedingt) und „Multivariante logische Regression“ (im Zusammenhang mit Arzneimittelverordnungen). Dabei war die Thematik durchaus interessant, wäre man nicht selber betroffen gewesen. So lernte die Familie in Vorträgen, dass Regionen mit erhöhter Lärmexposition bereits an der Verordnungsmenge für Arzneimittel ausgemacht werden könnten. Medikamente zur Senkung des Blutdrucks, zur Beruhigung von Spannungszuständen sowie Schlaf fördernde Mittel wurden hier deutlich häufiger verschrieben. Dabei sind Frauen und Mädchen statistisch gesehen deutlich stärker betroffen. Die höhere Bereitschaft zu einem Arztbesuch verzerre die Ergebnisse bei dieser Zielgruppe allerdings ein wenig. Und so weiter.
Viele Familien empfanden sich damals mindestens so hilflos, wie die seit Jahrzehnten friedlich gegen die Einlagerung radioaktiver Materialien demonstrierenden Bewohner des Wendlandes. Für viele war dies eine Demontage – mindestens aber eine erhebliche Einschränkung der Demokratie, viele traten in Selbsthilfegruppen gegen Fluglärm ein, und es erging ihnen doch wie den Kollegen im Wendland.
Das war der Zeitpunkt, als die Familie Neuberger keinen anderen Weg mehr sah, als ihr Reihenhaus zu verkaufen und den Wohnort zu wechseln. Es war eine gute Entscheidung.
Und nun vielleicht das ganze Elend nochmal durchstehen? All das darf es nicht noch einmal geben!
Die Gespräche beim Abendbrot drehten sich also fast ausnahmslos um eine eventuelle Erweiterung des Flughafens und dem damit verbundenen Fluglärm, der voraussichtlichen Erweiterung der Betriebszeiten und der zusätzlichen Luftverschmutzung durch den zusätzlichen Luft- und Straßenverkehr. Hans-Helmut Neuberger war ungeduldig, wollte mehr wissen. Was war dran am Gerücht, dass der Flughafen ausgebaut werden sollte? Mussten Neubergers Angst haben, dass eben jener zusätzliche Verkehr die Lebensqualität abermals drastisch reduzieren würde? Gab es bereits einen Zeitplan?
Er setzte sich ins Auto und fuhr aus dem Wohngebiet heraus nach links in Richtung Ortsausgang. Im Kreisel nahm er die Ausfahrt in Richtung Flughafen, dessen Anflugfeuer, obwohl ausgeschaltet, schon von weitem gut zu sehen waren. Er kannte einige Teile des Flughafengeländes, beziehungsweise der elektrischen Einrichtungen auf Grund eines Auftrages, den die ESB im vorherigen Jahr erhalten hatte. Ohne zu wissen, ob er mit jemandem hätte sprechen können, fuhr er bis zum kleinen Terminal und parkte sehr freizügig und entgegen den Markierungen am Ende des Gebäudes. Von hier aus ging ein kleiner Weg seitlich um das Terminal herum, bis zu einem Zaun mit einer verschlossenen Tür, an der eine Gegensprechanlage mit einem Klingelknopf und einer Kamera installiert war. Über dem Klingelknopf war ein Schild „Tower“ angebracht. Neuberger drückte den Klingelknopf und nach kurzer Zeit meldete sich eine männliche Stimme und fragte nach Name und Anlass. Neuberger gab sich als ESB-Mitarbeiter zu erkennen und wies sich als technisch Interessierter aus, der den Kontrollturm gern besichtigen würde. Die Tür im Zaun wurde ihm elektrisch geöffnet, ebenso die Tür zum Treppenhaus des Kontrollturms.