Читать книгу Nur ein Tropfen Leben - Christina M. Kerpen - Страница 4
Das neue Leben
ОглавлениеEin eisiger Winter droht über das Land zu fegen und macht es ziellosen Wanderern einfach, sich über die Richtung ihrer Schritte klar zu werden und gemäßigteren Temperaturen nachzureisen. So ist auch eine rothaarige, noch sehr junge Frau den Hinweisen gefolgt, dass das Klima an der südlichen Westküste der Vereinigten Staaten das ganz Jahr über milde sein soll und hat ihren leichten Wagen von Wyoming aus, wo sie ihre Reise begonnen hat, immer der untergehenden Sonne nachgelenkt.
Carols Aussehen hat sich ziemlich verändert. War sie noch vor wenigen Wochen eine knabenhaft schmale Jugendliche, die trotz ihrer Zierlichkeit harte Männerarbeit auf einer großen Ranch verrichtet hat, so ist sie zu einer jungen Frau mit durchaus weiblichen Rundungen geworden.
Sie hat ihre Jeans, die sie auch mit aller Gewalt vor ein paar Tagen beim allerbesten Willen und noch so angestrengtem Baucheinziehen nicht mehr hat schließen können, gegen ein einfaches, graues Leinenkleid gewechselt, obwohl gerade dieses Kleidungsstück traurige Erinnerungen in ihr wach hält und eigentlich auch schon nicht mehr richtig passt, obwohl sie bereits die Knöpfe an den äußersten Rand des Vorderteils versetzt hat.
Unter dem Leibchen, welches sie anstelle eines Korsetts trägt, hat sie ein fleckiges Taschentuch verborgen, welches sie eigentlich längst hatte vernichten wollen, so wie sie krampfhaft versuchen wollte, alle Erinnerungen an ein früheres Leben zu verbannen.
Doch so wenig sie es über ihr Herz gebracht hat, das Taschentuch fortzuwerfen oder zu verbrennen, so wenig gelingt es ihr, die Erinnerungen aus dem Kopf zu verjagen, denn tief in ihrem Innersten wünscht sich die junge Frau, dass gerade mit dem Tuch das Gefühl einer großen Liebe wachgehalten werden kann, die sie selbst zerstört hat und immer wenn sie es in der Hand hält, denkt sie daran, dass dieser Fetzen Stoff sie daran gemahnen sollte, sich nie wieder mit einem Mann einzulassen oder sich diesem gar hinzugeben.
Ab und zu, wenn sich die Frau, die eigentlich selbst noch gar nicht richtig erwachsen ist, sehr schlecht oder einsam fühlt, holt sie das Tuch heraus und verbirgt ihr Gesicht darin, nur um zu spüren, wie grausam die Strafe ist, die sie sich für ihr schändliches Tun selbst auferlegt hat.
In den Nächten liegt sie oft wach und denkt an die wundervolle Zeit, die sie auf der Willow-Tree-Ranch in Wyoming hat verbringen dürfen. Bei den Menschen dort hatte sie, die elternlose Waise, ein neues Zuhause gefunden, dort hat ihr Bruder, ihr einziger Verwandter, seinen Job und dort war ihr auch ihre große Liebe begegnet.
Immer wieder sieht sie den Mann vor sich und sehnt sich unaussprechlich nach ihm, gleichzeitig hofft sie inständig, dass es ihm gut geht und ihm nicht wegen ihr gekündigt worden ist, denn eine Liaison unter Angestellten findet selten Gnade vor den Augen der Rancher und damit den Arbeitgebern.
Und wenn diese Liebelei auch noch Folgen hatte…, unwillig verscheucht die junge Frau diese elenden Gedanken.
Das Mädchen, welches eigentlich von kleiner Statur und sehr zierlicher Gestalt ist, ist mittlerweile alles in allem ein wenig fülliger, weiblicher geworden, aber ihr zartes Gesichtchen hat nach wie vor kindliche Züge, auch wenn es ständig bleich ist und sie immer dunkle Schatten unter den tiefliegenden, traurigen Augen hat.
Mittlerweile ist es deutlich zu erkennen, dass sie weit im fünften Monat schwanger ist und sie selber merkt es immer dann an sich, wenn ihre Finger und Füße anschwellen. Wenn sie in diesen Momenten das Elend überkommen will, horcht sie in sich hinein und spürt die zaghaften Bewegungen des Babys und staunt darüber, wie sich sofort ein merkwürdiges, ganz sachtes Glücksgefühl in ihr trauriges Herz einschleicht und den Kummer zu überlagern imstande ist.
In jedem Ort, den sie durchfährt oder in dem Station macht, wird die junge Frau neugierig nach ihrem Mann gefragt und immer wieder beantwortet sie die Frage tieftraurig: „Mein Mann ist tot, bitte quälen Sie mich nicht mit Fragen um Einzelheiten.“
Bedauernde Blicke folgen nach dieser Erklärung jedes Mal der werdenden Mutter, die noch so jung aussieht, als wäre sie selber noch ein Kind, schmal und untergewichtig, mit zartgliedrigen Händen, denen man aber sehr viel schwere und harte Arbeit ansehen kann. Zur, wie sie meint, perfekten Täuschung aller wohlmeinenden Mitmenschen trägt Carol den Ehering ihrer Mutter und so nimmt ihr schließlich auch jeder Skeptiker die Geschichte vom verstorbenen Ehemann ab.
Jedes Mal, wenn sie ihre Lügengeschichte erneut hervorgebracht hat, fragt sich das Girl, wie ihre Mutter wohl in einer solchen Situation gehandelt hätte.
Carol weiß es genau.
Abgesehen davon, dass Mummy niemals in eine solche prekäre Situation geraten wäre, sie wäre bestimmt nicht so feige fortgelaufen. Keinesfalls hätte sie so impulsiv und falsch gehandelt, auch wenn sie selber ihr Leben anders gestaltet hat, als ihre Eltern es sich für die wohlbehütete Tochter erhofft hatten. Die hochmusikalische Tochter einer deutschen Musikerfamilie hatte, statt eine große Karriere als Pianistin einzuschlagen, bei einem Konzert in England einen jungen Mann kennen gelernt, sich bis über beide Ohren in ihn verliebt, ihn schon nach wenigen Tagen geheiratet und war ihm dann in die Staaten gefolgt.
Aber eben ehrbar, wie es sich für eine anständige Frau gehört, erst die Hochzeit, dann das andere.
Carol hingegen hat den sturen Hitzkopf des Vaters geerbt und handelt impulsiv aus dem jeweiligen Gefühl heraus und das ist nicht immer unbedingt richtig. Insbesondere in der Liebe nicht. Als anständiges Mädchen hätte sie bis nach der Hochzeit warten müssen, bevor sie sich ihrem Geliebten körperlich hingibt, doch sie hatte nicht auf die warnenden Stimmen in ihrem Hinterkopf gehört und die Strafe folgte sofort und wird ihr in wenigen Monaten auf zwei wackligen Beinchen überall hin folgen.
Ihre Reise bringt die junge Frau Hunderte von Meilen weg von Ebony Town und der Willow-Tree-Ranch und ihren beiden Vergangenheiten. Schon einmal war sie mutterseelenallein durch die Vereinigten Staaten geritten.
Nach dem Tod der Eltern hatte sie sich auf die Suche nach ihrem älteren Bruder gemacht, der die elterliche Ranch im Streit verlassen hatte, als Carol noch fast ein Baby gewesen ist. Zwei Jahre war sie auf sich alleine gestellt und um diese Zeit ranken sich für die Menschen in der Kleinstadt in deren Nähe die Willow-Tree-Ranch liegt, ständig alle nur möglichen Vermutungen.
Lächelnd lässt Carol die hinter vorgehaltener Hand und ihr doch immer wieder zu Ohren gekommenen Geschichten Revue passieren und denkt manchmal, dass die guten, anständigen Bewohner von Ebony-Town gar nicht so falsch gelegen haben, weder was ihre Liederlichkeit noch ihre kriminelle Energie anbelangt. Nur dass dies nicht ihre Vergangenheit sondern eher die gegenwärtige Lage beschreibt. Sie ist unverheiratet schwanger und sie belügt alle Menschen nach Strich und Faden
Und in noch etwas unterscheidet sich diese Reise sehr von der ersten, denn Carol trifft es unterwegs fast immer gut an und stellt verwundert fest, dass sie nicht mehr wie eine junge Straftäterin auf der Flucht behandelt wird, sondern fast überall wie eine Dame.
‚Welch eine Ironie’, denkt sie manchmal traurig, ‚damals war ich im Prinzip nicht auf der Flucht, sondern nur auf der Suche nach einem Platz zum Bleiben, wurde aber wie eine Kriminelle behandelt. Heute bin ich tatsächlich auf der Flucht und werde von allen hofiert. Ha, wenn die Leute wüssten, dass ich gar keinen Vater für mein Kind habe, dass ich es mir nur in meiner grenzenlosen Dummheit eingefangen habe, na, die würden mich bestimmt ganz anders behandeln.’
Hatte das junge Mädchen noch bei seiner Abreise befürchtet, nicht lange mit seinem ersparten Geld hinzukommen und sich den Kopf nach einer Erwerbsquelle zerbrochen, so stellt sie schnell fest, dass es selten nötig ist, den Geldbeutel aufzumachen, denn schon in den ersten Ortschaften, in denen sie Station gemacht hatte, war ihr aufgefallen, dass die Bewohner der kleinen Ansiedlungen nur wenig Abwechslung haben und dass es für sie ein willkommener Genuss ist, wenn jemand ein Klavier malträtiert. Und wenn er dazu auch noch singt, sind sie hin und weg und ihre Spendierbereitschaft kennt kaum noch Grenzen.
Carol benötigt nur zwei Abende, um ihre anfängliche Scheu, Geld für ihre Darbietungen zu nehmen, abzulegen und die Aufmerksamkeiten, die ihr zu Teil werden, zu genießen.
Schnell verlegt sie sich darauf, abends in den Hotels in denen sie unterkommt oder auch mal in einem Saloon ihre Künste darzubieten und bald ist es so, dass sie sogar einige Dollar mehr bekommt, als sie unterwegs ausgeben muss und statt Geld aus ihren Beständen zu nehmen, fügt sie fast täglich welches hinzu. Plötzlich erscheinen ihr ihre Aussichten gar nicht mehr so trübe, sondern wirken wie in ein rosiges Licht getaucht.
In einem kleinen Nest in Nevada beendet die junge Frau ihre Reise, denn schon als sie die Hauptstraße von Plumquartpinie entlang holpert, fühlt sie sich wohl. Dieser kleine Ort, so entscheidet ihr Herz, ist der Ort wo sie die nächsten Wochen erst einmal zu bleiben gedenkt, bis das Baby da ist. Danach muss sie weitersehen, doch jetzt ist erst einmal Schluss mit der anstrengende Reiserei. Das ewige Fahren bekommt ihr nicht mehr, alles wird von Tag zu Tag beschwerlicher und sie fühlt sich dick und aufgeplustert, wie ein frierender Vogel in Eiseskälte, nur dass sie selber schwitzt, wie ein Ochse am Spieß.
‚Mal sehen, wie die Menschen hier auf mich reagieren’, denkt Carol und schaut sich neugierig um.
Zuerst bringt sie Wagen und Pferd im Mietstall unter, dann quartiert sie sich mit ihrer Story von der armen Witwe im Hotel ein. Dort erkundigt sie sich zunächst nach einem Schneider, der fertige Kleider in seinem Angebot hat und diese nicht nur auf Bestellung anfertigt. Dabei zeigt sie der Hotelbesitzerin lächelnd, wie sie provisorisch ihren Rock geschlossen hat. Nur mit einem Bindfaden wird er noch zusammengehalten und klafft auch schon mehr als eine Handbreit auseinander.
Die neugierige Besitzerin des Hotels, der immer neue Fragen zu Carols Herkunft und ihrem Leben einzufallen scheinen, mustert die Fremde mit größter Neugier. Das Mädchen ist bildhübsch, hat trotz des gewölbten Leibes offensichtlich eine zauberhafte Figur, die leuchtendsten roten Haare, die die Frau jemals zu Gesicht bekommen hat und Augen von einem unwiderstehlich schönen Grün.
Da die junge Frau das Zimmer für eine Woche im Voraus bezahlt und angekündigt hat, darüber hinaus bis mindestens zur Entbindung zu bleiben, ist die Hoteliersfrau beflissen, ihr höchstpersönlich den Weg zu einer Schneiderin zu zeigen und schon eine Stunde später ist die Schwangere vollkommen neu eingekleidet. Sie hat sich für ein schwarzes Kostüm und ein dunkelgraues Kleid mit einem weiten Rock entschieden. Beides sieht für Carols Geschmack eigentlich viel zu elegant aus und ganz schwarz mag sie sich im Prinzip auch nicht kleiden, aber als trauernde Witwe muss sie auf gedeckte Farben achten. Außerdem bekommt sie in ein paar Wochen ein Kind und kann jetzt nicht mehr wie ein Wildfang durch die Gegend fegen, die Zeiten sind unwiederbringlich vorbei.
Sie seufzt und betrachtet sich im Spiegel, dabei muss sie an die Worte der Schneiderin denken, die erklärt hatte, dass viele werdende Mütter Schwarz trügen, weil die Farbe schlanker mache, obwohl Carol das nun ganz sicher nicht nötig habe.
Das Girl dreht sich zur Seite und betrachtet das Fass, das sie unter ihren Rock gesteckt zu haben scheint und holt tief Luft. Wehmütig denkt sie noch immer an die unbeschwerte Zeit zurück, als sie noch das wilde, hitzköpfige, fröhliche Cowgirl sein durfte. Alles aus und vorbei und das nur durch eigenes Verschulden.
Nachdenklich stochert sie beim Abendessen im Speisesaal in ihrem Essen, wobei sie neugierig von einer ganzen Menge Augenpaare beobachtet wird. Sie bringt kaum einen Bissen herunter, denn sie ist urplötzlich von einer starken inneren Unruhe befallen, die sie sich beim besten Willen nicht erklären kann. Sie denkt an David und seine zärtlichen Umarmungen und kann es schließlich nicht verhindern, dass sich ihre grünen Augen mit Tränen füllen.
Wie unter einem geheimen Zwang schiebt das Mädchen seinen Teller von sich, steht auf und geht zum Klavier, seit Wochen zum ersten Mal ohne vorher eine Gage auszumachen.
Im Augenblick denkt sie nicht einmal daran, wie sie in den letzten Wochen ihren Lebensunterhalt bestritten hat.
Vorsichtig öffnet sie den Deckel, schlägt sanft ein paar Tasten an und hört deutlich die Stimme des Willow-Tree-Vormanns: „Ich träume von einem Mädchen, das Klavier und nicht unbedingt Gitarre spielen kann.“
Das Instrument ist sehr gut gestimmt, so nimmt Carol, wie in Trance, auf dem Klavierhocker Platz, murmelt unhörbar: „Ach David, ich kann doch Klavier spielen.“, und beginnt leise ein paar Melodien zu intonieren.
Sie spielt gedankenverloren ihre ganzen Lieblingsstücke von Bach, Mozart und Chopin.
Die Gäste im Speiseraum des Hotels von Plumquartpinie sind genau so begeistert von dem Vortrag, wie alle Gäste in den vielen Hotels, in denen Carol bisher aufgetreten ist. Sie applaudieren laut und bitten enthusiastisch um eine Zugabe. Diese Begeisterung bringt Carol auf den Boden der Tatsachen zurück und gibt ihr gleichzeitig den Mut, zum Abschluss ein Liebeslied zu spielen und dazu zu singen, obwohl sie sich eigentlich gerade hier nicht hatte präsentieren wollen, sondern möglichst unauffällig die letzten Schwangerschaftswochen verbringen wollte.
Unter dem Beifall der Anwesenden erhebt sich das junge, rothaarige Mädchen schließlich und verlässt mit gesenktem Blick und ohne noch irgendjemanden anzusehen, damit niemand ihre Tränen sieht, den Raum, um auf ihr Zimmer zu gehen.
Seufzend lässt sie sich auf das breite Bett sinken und starrt aus noch immer tränenfeuchten Augen vor sich hin. Das Baby in ihrem Bauch spürt die traurige Stimmung der Mutter und tritt heftig um sich. Sie kann das Flattern genau spüren. Sanft legt sie beide Hände auf ihren Leib und murmelt: „Hallo, Du Wildfang, wegen Dir sitze ich jetzt hier einsam rum, anstatt auf Willow-Tree bei den Leuten zu sein, die ich mag und liebe. Hoffentlich erdrücke ich Dich armen Wurm nicht mit all meiner Liebe, wenn Du erst einmal auf der Welt bist. Ich vermisse Deinen Vater nämlich unendlich und wenn Du ihm auch nur ein wenig ähnlich sein wirst, werde ich es kaum aushalten.“ Sie schluchzt. „Ach, David, mein Geliebter, Du fehlst mir so wahnsinnig. Es tut richtig böse weh.“
Unablässig streicheln ihre Hände die Wölbung ihres Bauches und sie kann spüren, wie das kleine Wesen darin immer ruhiger wird. Erschrocken zuckt sie aus ihren Gedanken hoch, als es unvermittelt an der Zimmertür klopft. Sie erhebt sich, streicht den Rock ihres neuen Kostüms glatt, räuspert sich und ruft leise: „Ja bitte, die Tür ist nicht verschlossen.“
Erwartungsvoll schaut sie, wer ihr wohl einen Besuch abstattet. Es wird ja wohl nicht der Sheriff sein, der den jugendlichen Gast einer näheren Untersuchung vollziehen will.
Erstaunt erkennt sie den Hoteldirektor, der seinen Kopf durch den Türspalt schiebt und schnell überlegt sie, ob sie irgendwie gegen die Hausordnung verstoßen haben könnte. Außer unerlaubten Lärmens während der Abendmahlzeit fällt ihr nichts ein und das kann es doch wohl nicht sein, denn es hat sich niemand über ihr Klavierspiel beschwert. Das Geld für das Abendessen hat sie auf den Tisch gelegt, und zu wenig kann es eigentlich auch nicht gewesen sein.
„Störe ich Sie gerade, Mrs. Blake?“
Carol schüttelt den Kopf. Was mag der Mann nur von ihr wollen? Sie hat ihr Zimmer eine Woche im Voraus bezahlt und ist nicht ohne Gepäck erschienen, was manchmal ein wenig verdächtig auf die immer neugierigen Vermieter wirkt. Sie lächelt immer noch und sagt mit ihrer klaren Stimme leise: „Treten Sie ruhig näher, Sir. Was kann ich für Sie tun?“
„Jede Menge, Mrs. Blake, jede Menge.“ Er grinst jovial und Carol weicht automatisch ein Stückchen zurück. Der Mann kommt ihr vor, wie der Fuchs, der den Hühnerstall belauert und sie ist auf der Hut, doch die Anspannung löst sich schon bei den folgenden Worten. „Meine Frau und meine Wenigkeit haben mit angenehmem Erstaunen und äußerstem Wohlbehagen ihrem Klaviervortrag gelauscht.“
Carols Augen verengen sich unmerklich ein wenig. ‚Ist der Typ bescheuert?’ denkt sie. ‚Wie kann ein Mensch, der in so einem Kaff in der Provinz lebt, nur so gestelzt quatschen? Komm zur Sache Mann, Du nervst!’ Sie schweigt jedoch höflich und blickt ihn nur weiter erwartungsvoll an.
„Sie spielen fabelhaft. Ich habe ein wenig ein Ohr für solche Talente. Auf welchem Konservatorium waren sie?“
Dieses Wort hat die junge Frau noch nie gehört. Was haben Konserven mit Musik zu tun? Sie denkt: ‚Du hast Dich verhört, liebe Carol, außerdem hat der Typ hat eine Meise unter seinem Pony!’
Laut fragt sie allerdings, noch immer freundlich lächelnd: „Wie meinen? Ich kenne kein Konversatorium.“ Konversationen kennt sie, das hat mit Reden zu tun.
„Konservatorium, meine Liebe“, der Mann ist ein wenig enttäuscht, denn er hatte gedacht, eine junge Frau von Welt vor sich zu haben, aber wahrscheinlich ist sie lediglich höchst talentiert. Er räuspert sich, dann erklärt er: „Ich möchte gerne erfahren, wo sie das Klavierspiel erlernt haben, ich habe nämlich selten einen so großartigen Vortrag gehört. Vor allem Chopin beherrschen Sie meisterhaft. Meine Frau spielt schon ausgezeichnet, aber gegen Sie ist sie nur eine kleiner Stümper.“
„Ach so, das meinen Sie.“ Carol lächelt und meint verschmitzt: „Lassen Sie das besser nicht ihre Frau hören, sonst ist sie noch böse auf mich.“ Sofort wird sie aber wieder ernst und erklärt: „Ich habe nirgendwo richtigen Unterricht bekommen. Lediglich meine Mutter hat darauf bestanden, dass ich mich mit dem Instrument vertraut mache. Sie hat mir sicherlich ihre große Liebe zur Musik mitgegeben. Dabei muss ich wohl erwähnen, dass meine Mutter aus einer sehr musikalischen Familie kommt. Mein Großvater war sogar irgendwo Hofkapellmeister, was immer das für ein merkwürdiger Titel ist und er hat ganz Europa bereist und sogar vor Kaisern und Königen gespielt. Ich glaube, er hat lange Zeit in Leipzig gearbeitet.“
Ein Strahlen geht über das Gesicht des Mannes. Also doch eine junge Frau von Welt, eine Europäerin, vielleicht sogar adliger Abstammung oder verwandt mit dem deutschen Kaiser, herrlich, welch ein Glanz!
„Na, dann haben Sie das Musikalische ja schon mit der Muttermilch eingeflößt bekommen, Mrs. Blake“, lacht der Hoteldirektor. „Übrigens klingt Carol Blake aber sehr amerikanisch.“
Säuerlich murmelt Carol: „Mein Vater war Brite, wahrscheinlich deswegen der Vorname und mein verstorbener Gatte war Amerikaner.“ Gerade noch rechtzeitig ist ihr das mit dem Ehestand eingefallen.
Der Mann nickt, räuspert sich und schaut dann genüsslich an dem Körper des Mädchens herab, was ihr wieder ein ungutes Gefühl über den Rücken rieseln lässt.
„Der Grund meines Kommens ist allerdings nicht nur, um Ihnen hier Komplimente zu machen, sondern ich wollte sie vielmehr, auch im Namen meiner Frau übrigens, bitten, jeden Abend für unsere Gäste zu singen. – Natürlich nicht umsonst. Sie und demnächst ihr Baby“, sein Blick bleibt an der Wölbung ihres Leibes hängen, „dürfen dafür so lange hier im Hotel wohnen und essen, wie Sie es möchten.“
Carol starrt den kleinen, ältlichen Mann mit dem unruhigen Zucken des rechten Augenlides, verblüfft an, dann begreift sie das Gehörte. Ihre innere Anspannung fällt von ihr ab und sie strahlt: „Mr. Wolters, das ist aber ein wirklich großzügiges Angebot. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen dafür und kann natürlich nicht anders, ich muss es annehmen.“
Mit einem Handschlag wird der „Arbeitsvertrag“ besiegelt und das Girl lässt sich, nachdem der Mann das Zimmer wieder verlassen hat, mit einem Aufatmen zurück auf das Bett sinken.
„Hallo. Baby, hast Du das gehört?“, flüstert sie leise. „Wir sind zu Hause. Wir beide sind hier willkommen. Wachse, mein Kleines, ich hoffe, Du wirst Deinem Pa einmal sehr ähnlich werden.“ Sie seufzt, streichelt zärtlich über ihren Bauch und murmelt: „Irgendwann werden wir versuchen, ihn zu finden, damit Du ihn kennen lernen kannst. Dein Vater ist der tollste Mann auf der ganzen Welt.“
Die Zeit vergeht überall gleich schnell oder langsam, ganz so, wie man mit ihr umgeht.
Carol stellt fest, dass auch die Männer überall gleich sind, die Annäherungsversuche sehen hier in Plumquartpinie kaum anders aus, wie in Ebony Town und das Mädchen steht ihnen hier wie dort gleichermaßen freundlich ablehnend gegenüber.
Vieles hier in dem kleinen Ort in Nevada erinnert sie an Wyoming, besonders die Neugier der Leute. Doch auch an ihrem neuen Wohnort beantwortet sie keinerlei Fragen, die ihre Vergangenheit betreffen und das macht sie natürlich erst recht interessant, denn jeder spekuliert wild drauflos, woher sie wohl kommen mag und vor allen Dingen, was der Kindsvater gemacht hat und wie um Himmels Willen, er ums Leben gekommen sein könnte.
Von irgendwoher taucht plötzlich sogar das Gerücht auf, dass er ein berüchtigter Outlaw gewesen ist und die junge Frau deshalb mit dem Ungeborenen ein neues Leben in der Fremde beginnen musste.
Carol, die schon immer ein sehr feines Gespür für Stimmungen hatte und zudem mit äußerst scharfen Ohren gesegnet ist, hört die ganzen Spekulationen und schmunzelt insgeheim über die wüsten Vermutungen, allerdings ohne sich jemals dazu zu äußern.
Schon wenige Tage nach ihrer Ankunft in Plumquartpinie wird ihr überraschenderweise angeboten, einige Stunden in der Woche an der Schule des Ortes zu unterrichten, nachdem irgendwem der Dorfhonoratioren zu Ohren gekommen ist, dass sie Fremdsprachen beherrscht.
Sie zögert zunächst, den Job anzunehmen, denn eigentlich hat sie selbst viel zu wenig Schule besucht, um als Lehrerin arbeiten zu können, aber da sie es ausgezeichnet versteht, mit Menschen umzugehen und sich auch hervorragend auf Kinder einstellen kann, denn sie ist den Kinderschuhen ja selbst kaum entwachsen, hat sie schließlich doch allen ihren Mut zusammengerafft und zugesagt.
Sie gesteht sich aber sehr ehrlich ein, dass sie wohl kaum die Traute aufgebracht hätte, sich selbst noch einmal als Schülerin in die Bank zu setzen, aber auf der anderen Seite des Pults, da riecht die Luft dann doch nicht ganz so dünn.
Zu Anfang bereitet ihr der geregelte Schulbetrieb die größten Schwierigkeiten. Sie versucht sich an die Zeit zu erinnern, als sie jeden Morgen in die kleine Dorfschule in Pennsylvania musste und ihr fällt ein, dass sie häufig wegen zu spät Kommens oder Störens des Unterrichts nachsitzen musste.
Sogar der Gedanke daran lässt sie noch heute, nach so vielen Jahren, frösteln und sie nimmt sich vor, dass sie weder Strafarbeiten aufgeben noch nachsitzen lassen wird. Wehmütig erinnert sie sich daran, dass sie immer glücklich war, wenn sie in Krankheitszeiten von ihrer Mum unterrichtet worden ist. Sie hat dann in einer Woche mehr gelernt, als in einem halben Jahr in der Schule und brauchte nicht ein einziges Mal nachzusitzen.
Carol reißt sich zusammen und anpassungsfähig wie sie nun einmal ist, hat sie auch diese Klippe ihrer eigenen kleinen Unzulänglichkeit umschifft und sich selber alle Stolpersteine aus dem Weg geräumt. Sie braucht gar nicht nachzudenken, um zu wissen, dass sie in Zukunft einen Batzen Verantwortung hat, wenn das Baby erst einmal auf der Welt ist und so sieht sie den Unterricht als Chance, sich schon einmal ein wenig in Verantwortung zu üben.
Die Kinder von Plumquartpinie haben gerne Unterricht bei der immer fröhlichen und unkonventionellen Frau, denn da das junge Mädchen keinerlei Ahnung von Unterrichtsplanung oder gar so etwas wie Lehrplänen hat, unterrichtet sie aus dem Gefühl heraus und macht so das Lernen für alle, auch für die schwächeren Kinder spielerisch einfach.
Da Plumquartpinie keine Lehrkraft hat, die der französischen Sprache mächtig ist, beginnt Carol ihre Tätigkeit als Dorfschullehrerin mit dem Fach Französisch. Sie vermittelt die Sprache den Kindern auf die denkbar simpelste Art und Weise, indem sie mit ihnen singt und kleine, lustige Unterhaltungen führt. Sie benötigt dazu kein Lehrbuch und das ist gut so, denn in dem ganzen kleinen Städtchen ist kein einziges Französischbuch aufzutreiben. Die Kinder jedenfalls sind begeistert und können bereits nach wenigen Unterrichtstunden kleine Gespräche miteinander führen.
Nach diesem wunderbaren Start ist es nicht verwunderlich, dass die junge Frau schon nach einer Woche den Musikunterricht ganz eigenverantwortlich übernehmend darf und sie ist glücklich darüber, dass alle Kinder diszipliniert und brav sind. Es ist nicht ein einziger Rabauke Marke Carol Blake darunter.
Unsere kleine Freundin liebt die ihr anvertrauten Kinder sehr und ist in den wenigen Schulstunden unbeschreiblich glücklich, denn dann vergisst sie regelmäßig ihren Kummer und wird selbst wieder das, was sie eigentlich noch ist, ein Kind.
Nach kurzer Zeit stellt sie fest, dass an der Schule weder Mal- noch Handarbeitsunterricht erteilt wird. Auf ihre erstaunte Nachfrage hin wird ihr erklärt, dass die bisherige zweite Lehrerin der Schule einem bösen Reitunfall zum Opfer gefallen ist und dass aus diesem Grunde so lange, bis sich ein neuer hauptberuflicher Lehrer gefunden hat, der Unterricht eben auf kleinem Feuer weiterlaufen muss und alle weniger wichtigen Fächer nicht unterrichtet werden können.
Das Angebot, selbst die Stelle als hauptberufliche Lehrerin zu übernehmen, lehnt Carol allerdings dankend ab, denn sie fürchtet zum einen, wenn das Baby da ist, mit allem überfordert zu sein, zum anderen möchte sie nicht gern publik machen, dass sie noch immer nicht rechnen kann. Außer ihr selber weiß nur David von diesem Mangel und so soll es nach Carols Willen auch unbedingt bleiben.
Der andere Lehrer, der gleichzeitig die Leitung der Schule inne hat, hat volles Verständnis für die werdende Mutter und drängt sie nicht weiter, da ihm klar ist, dass auch die junge Frau nur eine Notlösung ist, denn sie hat den Beruf ja nicht erlernt. Darüber ist Carol sehr froh, doch nach einigem Überlegen erklärt sie sich schließlich bereit, wenigstens den Handarbeitsunterricht sowie Mal- und Bastelstunden zu übernehmen, da sie der Meinung ist, dass auch dieses wichtige Fächer sind, nicht nur Lesen und Schreiben.
Seit die rothaarige Lehrerin unterrichtet, sind alle Kinder morgens pünktlich und vollzählig in der Schule anwesend. Erstaunt und angenehm überrascht stellen die Eltern fest, dass morgendliches Bäuchleinweh und andere Unpässlichkeiten der Vergangenheit angehören und nicht wenige sind dankbar, dass ihre Kinder endlich Spaß am Lernen gefunden haben.
Da Plumquartpinie nicht sonderlich groß ist, ist die junge Frau nicht nur wegen ihres geheimnisvollen Auftauchens, sondern auch wegen ihrer Freundlichkeit und ihrem scheinbar unerschöpflichen Wissen und ihrer Intelligenz dauerhaftes Gesprächsthema Nummer eins in dem kleinen Ort und sie ist sehr schnell bei jedermann beliebt, obwohl sie sich nach wie vor mit der Aura des Geheimnisvollen umgibt.
In diesem Nest in Nevada wird ihr sogar mehr Zuneigung entgegengebracht als in Ebony Town, denn hier kommt keiner auf die Idee, in ihr eine Streunerin oder gar Schlimmeres zu sehen, ja noch nicht einmal eifersüchtige Ehefrauen fürchten um ihre Ehemänner, denn Carol scheint keinerlei Interesse an den männlichen Bewohnern zu zeigen.
So dauert es auch gar nicht lange und schon kommen verlegen die ersten erwachsenen Bürger, die sie bitten, ihnen Privatunterricht im Klavierspiel zu erteilen und nachdem es sich herumgesprochen hat, dass sie neben Französisch und Spanisch auch die deutsche Sprache beherrscht, gibt es eine ganze Reihe von Lernwilligen, die auch von dieser Sprache etwas lernen möchten.
Nach anfänglichen Bedenken ist ihr Tagesablauf angefüllt mit den diversen Stunden, die sie gibt und dafür erhält die junge Frau gutes Geld, obwohl sie sich gar nicht im Klaren darüber ist, ob sie sich angemessen entlohnen lässt oder ob sie den Menschen das Geld aus der Tasche zieht, denn sie bekommt wesentlich mehr, als sie jemals auf der Willow-Tree-Ranch erhalten hat und verliert schnell den Überblick über ihre Einkünfte. Allerdings staunt sie immer wieder, dass sie sogar über das vereinbarte Entgelt hinaus Summen zugesteckt bekommt, wenn eine Stunde besonders lernintensiv gewesen ist und kommt zu dem Schluss, dass es in Nevada offensichtlich recht viele wohlhabende Bürger zu geben schein. Dagegen ist die Bevölkerung von Wyoming geradezu als arm zu bezeichnen.
Und nicht nur für Carols Vermögen bringen die vielen kleinen Jobs nur Gutes mit sich, nein, sie wirken auch dem Grübeln entgegen und Grübeln ist noch immer das Hauptproblem der jungen Frau. Allerdings grübelt sie mittlerweile nicht nur dem verlorenen Glück hinterher, nein, mittlerweile grübelt sie sogar über ihre Vermögensverhältnisse. Niemals hätte sie bei ihrer Flucht aus Wyoming gedacht, dass sie einmal so reich sein würde, dass sie Angst um ihr Geld hat. In Ebony Town würde sie sich jetzt an Gerrit Fisher wenden, den jungen Mann von der Bank, den sie als Mann zwar ein wenig verachtet, aber als Bankangestellten umso höher schätzt.
An einem Mittag legt sie ihre Barschaft und einige alte Bankpapiere vor sich auf den Tisch und betrachtet sinnend die vielen Banknoten. Mit einem Ruck schiebt sie den Stuhl zurück, auf dem sie sich schwerfällig niedergelassen hatte, rafft Geld und Papiere zusammen, schüttelt Hefte, Stifte und Bastelkram aus ihrer großen Handtasche und stopft entschlossen alles Geld und ihre Papiere hinein. Ihr direkter Weg führt sie zu der kleinen Bankfiliale in Plumquartpinie. Als sie im Schalterraum steht und die Gitterstäbe sieht, hinter der der hiesige Bankangestellte seine Arbeit verrichtet wird es ihr wieder wehmütig ums Herz, denn dieser Raum unterscheidet sich in nichts von dem in Ebony Town. Sie wird nach ihren Wünschen gefragt und als sie ihr Begehr genannt hat, in einen anderen Raum gebracht, welcher von innen verschlossen ist und erst auf Klopfen und der Nennung des Grundes der Störung, geöffnet wird.
Nach etwa einer Stunde verlässt sie die Bank wieder und ist ziemlich verwirrt, denn nachdem der Bankdirektor ihr Bargeld und ihre Papiere in Augenschein genommen und mit vielem „Hm“ und „Oh“ eine Kolonne Zahlen auf einem Zettel notiert hatte, war er so galant und fast unterwürfig freundlich, dass es Carol ganz unheimlich geworden war. Er hat sie als eine der reichsten Frauen der Stadt bezeichnet und Carol ist sich nicht sicher, ob er sie mit dieser Aussage irgendwie auf den Arm genommen hat. Sie wünschte sich Gerrit wäre jetzt hier und stellt wieder einmal fest, Ebony Town ist nicht so leicht aus dem Kopf zu bekommen.
So viele Wochen ist Carol nun schon von der Willow-Tree-Ranch weg, aber sie ist einfach nicht in der Lage, die wunderschöne Zeit zu vergessen oder wenigstens ganz weit in den Hinterkopf zu verbannen. Immer wieder steht ihr Davids Bild vor Augen, sie sieht seinen ernsten Blick bei der Arbeit und dann wieder sein zärtliches Lächeln, wenn sie beide alleine waren. Dann ist die Sehnsucht jedes Mal so stark, dass sie weinen muss. Besonders schlimm ist es nachts, wenn ihre Augen in die Dunkelheit starren und sich ihre Gedanken in dem verlorenen Glück verirren. In diesen Momenten hält sie das Taschentuch, welches David ihr einmal nach einer verliebten Nacht gegeben hat, in den Händen, meint noch seinen Geruch darin zu verspüren und weint bittere, heiße Tränen. Wie konnte sie nur so dumm sein, alles in einigen schwachen Momenten zu zerstören, was ihr etwas bedeutet hat.
Das sind die Augenblicke, in denen die meint sterben zu müssen, doch genau dann spürt sie das Kind, das schon sehr kraftvoll seine Arme und Beine bewegt, sie spürt ihren dicken, rundlichen Leib, der immer wieder an anderen Stellen kleine Beulen aufweist, wenn ein Füßchen, das Knie oder der Ellbogen des Babys nach Platz suchen und dann weiß sie, dass es sich lohnt für dieses Kind zu leben, für das Kind von David, das Kind, das der Beweis dafür ist, wie sehr sie beide sich geliebt haben. Sie wird für dieses kleine Menschlein alles in Kauf nehmen und ihrer beider Leben meistern, egal, was auf sie zukommen mag.
Die bösen Geister der Nacht verflüchtigen sich allerdings jeden Morgen sofort, wenn sie aus dem Hotel auf die Straße tritt und sofort von einigen Kindern umringt wird. Dann vergisst sie schlagartig ihren Kummer, denn das Unterrichten macht ihr immer mehr Spaß und sie liebt „ihre“ Kinder von Tag zu Tag heftiger.
Auch das abendliche Singen bereitet ihr nach wie vor viel Vergnügen und wird nie zu einer lästigen Pflichtübung, weil sie sehr gerne singt und merkt, dass sie allen Zuhörern damit Freude bereitet.
Ist sie dann allerdings wieder alleine in ihrem Zimmer, spürt sie trotz aller Abwechslung und der Müdigkeit von der Arbeit, dass es ihr einfach nicht möglich ist, richtig glücklich zu werden.
Sie vermisst einfach all die netten und ihr so vertrauten Menschen, die sauberen, einfachen Häuser von Ebony Town, die wunderschöne geliebte Landschaft von Wyoming und natürlich ihren Bruder, den sie nach so vielen Schwierigkeiten endlich gefunden hatte.
Von ihrem Startkapital, welches sie sich bereits auf der Willow-Tree-Ranch erspart hatte, gibt sie in Plumquartpinie keinen einzigen Cent aus, denn mittlerweile verdient sie sehr gut, viel mehr, als sie selbst voller Übermut ausgeben kann.
Sie leistet sich einiges an Garderobe, das eigentlich nicht notwendig wäre und legt sich sogar ein paar Schmuckstücke zu, ja sie erlaubt sich sogar den Luxus, nach Lust und Laune die Schneiderin aufzusuchen und sich für die zunehmende Leibesfülle immer wieder passende Kleider arbeiten zu lassen, anstatt auf Zuwachs, wie es Schwangere normalerweise zu tun pflegen.
Dann kommt der Zeitpunkt, an dem sie nicht mehr nur für Unterkunft und Verpflegung singt, nein, sie bekommt einen richtigen Kontrakt mit fester Gehaltsvereinbarung, in dem festgehalten ist, dass sie für selbstkomponierte Lieder sogar noch einen Extrabonus erhält.
Carols Tage sind also wirklich bis an den Rand ausgefüllt und man sollte glauben, sie hätte nun keine Zeit mehr zum Nachdenken, doch das ist nicht zu erreichen, ihr bleibt noch immer mehr als genug Zeit zum Grübeln und um mit sich und ihrem Schicksal zu hadern, obwohl es das Leben mehr als gut mit ihr meint.
Eines Nachts plötzlich beginnt sie aus einer Eingebung heraus zu malen. Sie kann schon seit Wochen nicht mehr vernünftig schlafen und wälzt sich nur in ihrem Bett herum, weil die bösen Geister der Vergangenheit sie besuchen und ihr die Ruhe rauben, also greift sie zu Pinsel und Farbe und bannt auf Papier, wovon sie heimlich träumt und wonach sie sich von Herzen sehnt.
Bislang hatte Carol keine Ahnung, dass sie malen kann, denn sie hat es niemals vorher ernsthaft versucht, aber nachdem sie sich ein wenig Technik angeeignet hat, werden ihre Bilder immer ansprechender und besser, obwohl sich die Motive bei näherem Betrachten alle ähnlich sind.
Wer sie kennt, hat keine Mühe, die Willow-Tree-Ranch mit all ihren Bewohnern, Ebony Town oder die wundervolle Landschaft Wyomings zu erkennen.
Carol malt wie unter Zwang. Wenn sie ein Bild fertig hat, ärgert sie sich über sich selbst und verkauft ihr Machwerk an den erstbesten Interessenten, denn eigentlich will sie ihre Zeit in Wyoming doch so schnell wie nur irgend möglich vergessen, aber so sehr sie sich auch bemüht, endlich Motive ihrer neuen Heimat zu verwenden, immer und immer wieder entstehen Bilder aus der Vergangenheit.