Читать книгу Nur ein Tropfen Leben - Christina M. Kerpen - Страница 7
Erklärungsversuche
ОглавлениеAm folgenden Morgen erscheint Mrs. Wolters ziemlich übernächtigt im Frühstücksraum und setzt sich zu den beiden Männern, die sie nach wie vor ein wenig misstrauisch mustert.
Sie bestellt sich einen starken Kaffee und spitzt die Lippen, ohne ihren Blick von den Gästen abzuwenden. „Carol schläft endlich. Der Doktor hatte ihr zunächst ein starkes Beruhigungsmittel gegeben, aber das hat nicht gewirkt, sie hat ununterbrochen geweint. Jetzt hat er sich dazu entschlossen, ihr noch ein starkes Schlafpulver zu geben, weil sie unbedingt aufstehen und zu ihrem Baby wollte.“
Sie bemerkt die besorgten Blicke der Männer und brummt: „Er musste sie einfach ruhigstellen, es ist nur zu ihrem besten. – Puh, was ist sie nur für ein energisches Persönchen. Einfach nicht zu bremsen. Ich wünschte, ich hätte nur ein Drittel von ihrer Energie und ihrem Lebenswillen.“
Die Frau gähnt verhalten und lächelt entschuldigend: „Für mich war die Nacht ganz schön anstrengend. Man merkt halt doch, dass man älter wird.“
Die Hausangestellte erscheint und stellt den Kaffee vor ihrer Chefin ab. Diese bedankt sich und wendet sich wieder den Willow-Tree-Leuten zu. „Mrs. Blake wird bestimmt nicht lange im Bett bleiben, fürchte ich. Wochenbett scheint für sie der schlimmste Ausdruck unseres Wortschatzes zu sein. Um sie nicht zu unüberlegten Handlungen zu verleiten wenn sie alleine ist, wird ihr der Doktor möglicherweise schon morgen erlauben, für ganz kurze Zeit aufzustehen, obwohl sie eigentlich eine ganze Woche fest liegen sollte. Aber versuchen Sie mal einen Floh an die Leine zu legen, ein Ding der Unmöglichkeit.“
„Wem sagen Sie das, Ma’am“, brummt John über den Rand seiner Kaffeetasse hinweg, „immerhin kennen wir die Kleine schon etwas länger.“
Die Dame des Hauses kneift die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, dann sagt sie leise: „Ich muss Sie also bitten, sich noch mindestens bis morgen zu gedulden, bevor Sie Mrs. Blake einen Besuch abstatten dürfen. Vielleicht abstatten dürfen!“
Sie macht eine kurze Pause, um tief Luft zu holen, spricht aber sofort weiter, bevor sie unterbrochen werden kann: „Ich fürchte, wenn Sie heute schon zu Mrs. Blake gehen würden, wäre das ihrer Genesung mehr als abträglich, denn ich habe so das dumpfe Gefühl, dass sie sich grässlich aufregen wird, wenn sie Sie sieht. Und das ist vollkommen unnötig! Sie hat was gegen Männer und ich nehme an, gegen einen Speziellen ganz besonders viel.“
Sie heftet Ihren Blick fest auf den Indian, dann trinkt sie einen Schluck Kaffee, spitzt wieder die Lippen und will nun endlich wissen: „Jetzt aber mal zu Ihnen, meine Herren. Ich will nun Ihre Rollen in diesem großen Drama endlich kennen lernen. Wieso wagen Sie es, hier zu behaupten, Mrs. Carol sei Ihre Braut? Ich habe die ganze Nacht gegrübelt, denn das Mädchen sagt doch immer, dass ihr Mann tot sei.“ Sie macht eine kleine Pause und knurrt dann: „Das Kind wurde gezwungen Sie zu heiraten und sie hat es irgendwie geschafft, zu flüchten. Ist es nicht so?“
Widefield schüttelt den Kopf und schließt gottergeben die Augen. Typisch Carol, nie um eine Story verlegen, wenn die Leute an der Nase herumgeführt werden sollen.
In groben Zügen erzählt er der Hoteliersgattin die ganze Story. „Sie sehen also, mein Mädchen ist ein klein bisschen verquer, aber wir lieben uns und niemand hat sie zu irgendetwas gezwungen. Ganz davon abgesehen, sie hat so einen eigenen starken, unbeugsamen Willen, sie ließe sich von niemandem zu etwas zwingen, was so massiv in ihr Leben eingreifen würde.“ Er schnaubt. „Eine Zwangsheirat und Carol, einfach undenkbar.“
„Nein so was!“ Die Frau schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. „Nein, so was, sie ist wirklich eine richtige, kleine Komödiantin. – Aber wissen Sie“, wohlwollend blickt die Frau am Indian herab, „ich kann das Kind nicht verstehen. Wie kann man so ein Mannsbild einfach sitzen lassen? Ich kann es durchaus nachvollziehen, dass sich die Kleine in Sie verliebt hat, auch wenn der Altersunterschied wohl nicht ganz unerheblich sein dürfte, aber ich begreife nicht, wie sie dann einfach das Feld räumen konnte. Sie sind doch sicherlich der begehrteste Junggeselle in ganz Wyoming.“ Sie stutzt. „Sie sind doch wohl Junggeselle?“
David nickt schmunzelnd. „Bin ich! Es gibt keine eifersüchtige Ehefrau, vor der Carol hätte die Flucht ergreifen müssen.“
„Hm, aber wieso dann das ganze Theater? Sie haben ihr ja wohl nicht Gewalt angetan oder sie mal geschlagen?“
Stumm schüttelt David den Kopf, räuspert sich und knurrt: „Carol hat sehr eigenwillige Vorstellungen von dem, was man so im allgemeinen den Ehrenkodex nennt. Wissen Sie, Ma’am, es wird normalerweise von den Arbeitgebern nicht gerne gesehen, wenn ihre Angestellten eine Liaison untereinander eingehen und Carol hatte einfach Angst davor, unser beider Leben durch ihre Schwangerschaft kaputt zu machen.“
„So ein Blödsinn, Carpenter ist als Arbeitgeber nicht mit normalen Maßstäben zu messen. Er hätte es immer begrüßt, dass Ihr ein Paar seid!“, knurrt John, der endlich auch zu der Geschichte beitragen möchte und schüttelt den Kopf. „Überleg nur, was der Alte für Klimmzüge gemacht hat, um Dich eifersüchtig zu machen.“
David seufzt. „Stimmt, aber das hätte Carol nie im Leben geglaubt, deswegen hat sie auch so überstürzt die Flucht ergriffen, ohne jemandem etwas von ihren Sorgen zu beichten. Wie einfach wäre alles zu klären gewesen, wenn sie sich nicht immer so verfolgt fühlen würde. - Euer blöder Dickkopf!“, knurrt er leise in Johns Richtung, der darüber nur mit den Achseln zuckt und knurrt: „Und Carpenters Geheimnistuerei! Der ist auch nicht ganz unschuldig an dem Dilemma. Wenn der direkt gesagt hätte: Vormann, Cowgirl werdet gefälligst ein Paar oder ihr seid beide entlassen, dann wäre uns allen viel Kummer erspart geblieben!“
Die Dame runzelt die Stirn, denn sie versteht diese Bemerkungen natürlich nicht. Sie blickt wieder dem Indianer in die dunklen Augen. „Ich hätte Sie niemals verlassen, Mann, ich hätte immer Angst, dass ein anderes Weib Sie mir vor der Nase wegschnappen könnte. – Ich bin zwar verheiratet, aber Sie wären mir jede Sünde wert!“
John kichert in seine Kaffeetasse und der Indian lacht laut auf. „Keine Chance, Ma’am. Dafür liebe ich das Mädchen viel zu sehr. Ich gedenke nicht, ihr jemals untreu zu werden. So ein Girl kriege ich nicht wieder. Die Gefahr, dass ich ihre Liebe ganz verliere, wäre mir einfach zu groß.“
„Wirklich schade! Dabei verdient das Kind Sie gar nicht.“ Mrs. Wolters zuckt mit den Schultern, hebt ihre Tasse und murmelt plötzlich leise in das Getränk hinein: „Aber vom Alter her könnten Sie doch wohl fast ihr Vater sein, oder?“
„Stimmt, aber das hat uns bisher nicht gestört.“
„Würde es mich bei Ihnen auch nicht.“ Der Augenaufschlag der Lady ist verheißungsvoll. Sie hat jegliches Misstrauen den Männern gegenüber verloren und John schaut seinen Freund bedeutungsvoll an. Er kann sich genau ausmalen, wie sich die Dame in jungen Jahren ihren Lebensunterhalt verdient hat. Sie ist sicher nicht das erste leichte Mädchen, das im Alter fast ehrbar geworden ist und sicher auch nicht das Letzte. Frech grinsend meint er dann: „Junge, Du hast vielleicht Chancen!“
Mrs. Wolters schaut den blonden Jungen an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. „Sie sind auch ein hübscher Bengel. Wer sind Sie denn nun eigentlich und welche Rolle haben Sie in dieser Inszenierung übernommen?“
John grinst noch breiter. „Ich bin John Blake und spiele die Rolle von Carols Bruder, ihrem einzigen noch lebenden Verwandten.“
„Sie sollten besser auf Ihre Schwester Acht geben“, brummt Charlotte gespielt ermahnend, „die gibt sich nämlich mit älteren Herren ab.“
„Au weia, was glauben Sie denn? Einen Sack voller Flöhe bekommen Sie leichter gebändigt, als meine kleine Schwester. – Wie war das eben mit dem Floh an die Leine legen?“
Mrs. Wolters lacht auf und schüttet sich Kaffee nach, während sie das eben Gehörte überdenkt.
Nach einer Weile schaut sie auf und senkt die Stimme. „Was ich Sie aber noch fragen will, ehe ich es vergesse und dann wochenlang oder gar bis ans Ende meiner Tage grübele. Ich denke, wenn Sie das Mädchen ja kennen, können Sie mir sicherlich Auskunft geben. - Carols Körper ist förmlich von Narben übersät, ist sie mal in eine Sägemühle geraten?“
Nun wird John todernst. „Nein, das waren mehr oder weniger alles Unfälle.“ Er schildert kurz das Zirkuserlebnis mit dem Tiger und berichtet dann von der versuchten Hexenverbrennung.
„Und so manchem Gangster hat sie auch schon im Weg gestanden, was ebenfalls nicht immer ohne Verletzungen abgelaufen ist“, ergänzt der Indian ein wenig bitter. „Irgendwie hat sie einen Riecher für die dicksten Schwierigkeiten, denn sie tappt immer wieder kaltlächelnd mitten hinein.“
„Du meine Güte, was für ein Leben. Und unsereins hockt hier jahrein und jahraus und das einzig Abwechslungsreiche sind hübsche Gäste, von denen die besten noch nicht mal was mit einem im Sinn haben.“ Charlotte seufzt hingebungsvoll, dann meint sie nachdenklich und wie aus einem anderen Zusammenhang heraus: „Wenn ich Sie also richtig verstehe und einschätze und Ihre verliebten Worte ernst nehme, wollen Sie uns Mrs. Blake wieder wegnehmen. Sie soll doch sicher mit Ihnen nach Wyoming zurückkehren, oder?“
Die Männer nicken ausdrücklich und John murmelt: „Wären wir sonst hier? Wenn das Kind uns gleichgültig wäre, hätten wir uns die Mühe mit der Sucherei doch sparen können.“
„Tja, da ist wohl was dran. - Schade, wirklich schade. Plumquartpinie verliert einen sehr lieben Menschen, auch wenn sie uns scheinbar gehörig an der Nase herumgeführt hat. Aber da wir hier nicht prüde sind, verzeihen wir ihr das großmütig. Zumindest all die, die die Wahrheit erfahren sollten. Alle anderen geht es nun wirklich nichts an, dass die junge Dame einige Notlügen gebraucht hat.“
Nachdenklich schaut die Frau auf den Indian, der ein sehr ernstes Gesicht macht. „Am besten verkaufen wir Sie als ihren Schwager, dann wird sich das dumme Gerede in Grenzen halten. Es kommt ja häufig vor, dass der Bruder eines verstorbenen Mannes dessen Witwe heiratet.“
David macht ein skeptisches Gesicht, denkt sich seinen Teil, sagt aber nichts dazu.
Charlotte seufzt leise. „Wenn Carol nicht mehr hier ist, wird dieses Kaff wieder in seinen dumpfen Dämmerzustand verfallen und alles wird wieder so öde und langweilig sein, wie es vor ihrem Auftauchen gewesen ist.“
John grinst. „Genau so, wie es in Ebony Town der Fall war, nachdem sie sich aus dem Staub gemacht hatte.“
Er will nun auch unbedingt noch eine Frage loswerden, die ihm schon seit ihrer Ankunft auf der Zunge liegt. „Carol hat hier scheinbar wirklich eine großartige Show abgezogen und ich kann auch durchaus verstehen, dass sie mit ihrem Klavierspiel jeden in ihren Bann gezogen hat. Ich war gestern Abend echt verblüfft, dass meine Schwester fast besser spielt, wie unsere verstorbene Mutter, die eine anerkannte Pianistin gewesen ist. Aber was mich viel mehr interessieren würde, ist die Antwort auf die Frage, wie es das kleine Luder eigentlich geschafft hat, sich hier als Lehrerin einzunisten. Schulen hat sie bisher eigentlich nur von außen gesehen und sie hat niemals Sehnsucht danach bekundet, sie auch von innen zu betrachten. Sie hat in den letzten Jahren ausschließlich Cowboyarbeit verrichtet oder sich herumgetrieben.“
Charlotte lacht ihn kokett an, dann droht sie schmunzelnd mit dem Zeigefinger. „Sie sind mir ja ein richtig feiner Bruder. Ein kleines Luder, welches sich herumtreibt zur Schwester. Gerade dann hätten Sie besser auf die Kleine aufpassen müssen. Und was ist mit Ihren Eltern? Wie konnten die das alles zulassen?“
„Unsere Eltern sind schon vor vielen Jahren gestorben“, gibt John lapidar zur Antwort und Charlotte nickt verstehend: „Tut mir leid, war sicher nicht einfach für Sie und das Mädchen. – Aber trotzdem, was verstehen Sie unter Cowboyarbeit junger Mann? In unserer Gegend ist die hart und es gibt genügend Männer, die sich nicht als Cowboy eignen, wie sollte da ein so zartes Wesen wie Ihre Schwester damit klarkommen?“
„Nun, Sie selbst haben gesagt, Carol sei ein harter Brocken. Damit haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen, denn das ist sie wirklich. Sie macht genau die gleichen Arbeiten, wie alle unsere Jungs auf der Ranch, das fängt beim Zäune flicken an, geht über Kälberbrennen bis hin zu Viehtrieben. Dem Girl wurden keinerlei Extrawürste gebraten. Da achtete unser strenger Vormann“, Johns Daumen weist auf Widefield, „schon mit unerbittlicher Härte drauf. Wehe die junge Dame hat nicht gespurt, dann war aber ein Machtwort angesagt.“
„Also irgendwie kann ich das alles nicht glauben. Ich meine, es gibt ja Mannweiber, denen so was durchaus zuzutrauen ist, aber Carol ist alles andere, als ein Mannweib. Sie wollen mich verkohlen junger Mann.“ Sie lacht, wartet keine Antwort ab und brummt: „Aber nun mal Spaß beiseite. Sie wollen wissen, wieso Mrs. Blake hier als Lehrerin arbeitet. Nun, das begann schon am allerersten Abend, nachdem sie hier angekommen war.“
Charlottes Gedanken wandern zurück. Sie sieht das junge Mädchen wieder am Klavier sitzen und deutlich hat sie noch die Worte ihres Mannes im Ohr: „Die Kleine ist fantastisch, Charly, die muss ich engagieren. Obendrein ist sie auch noch eine wahre Augenweide.“ Charlotte hatte genau gewusst, was ihr Gatte mit diesem Satz gemeint hatte. Er hielt die junge Witwe für ein williges Bettspielzeug, wenn er sie erst mal an den Betrieb gebunden wusste. Doch mittlerweile ist ihm klargeworden, dass er bei dem Mädchen niemals zum Zuge kommen kann, so sehr er sich auch ins Zeug legt und es mit Schmeicheleien, Komplimenten, Geschenken und sogar versteckten Drohungen versucht. Ihm ging und geht es wie allen anderen Verehrern, keiner kommt an sie heran und schon gar nicht in ihr Bett, obwohl so manch einer, auch ihr Mann, viel, sehr viel Geld dafür hingelegt hätte.
Die Hoteliersfrau kehrt in die Gegenwart zurück und schaut in die erwartungsvollen Gesichter der Cowboys und ein Ziehen in der Brust lässt sie ein gewisses Verlangen nach dem dunkelhaarigen Mann verspüren. Sie räuspert sich. „Nun, Mrs. Carol hat schon am ersten Abend ein kleines Konzert gegeben. Sie hat sich einfach ans Klavier gesetzt und gespielt, ohne Noten und ohne Scheu vor den anderen Gästen. Mein Mann hat sie vom Fleck weg engagiert und seitdem ist sie praktisch Hotelinventar.“ Sie hebt beschwichtigend die Hand, weil John etwas erwidern will. „Langsam, junger Mann, ich komme schon zum Thema, aber eine kleine Einleitung gehört nun mal dazu. – Schon am nächsten Abend kam die Witwe Gwendale und erkundigte sich nach der jungen Pianistin.“
John schnaubt leise und Charlottes Gedanken sind bei dem Gespräch mit der alten Dame, als hätte sie es erst gestern geführt. „Irgendwer hatte Mrs. Gwendale erzählt, dass bei uns im Hotel ein junges Mädchen wohnen würde, das hervorragend Klavierspielen könne und sie wollte mich natürlich ein bisschen ausfragen, als ich ihr sagte, dass sie von nun an jeden Abend bei uns auftreten würde. Nun ja, da ich allerdings auch nichts weiter über die junge Frau wusste und gerade eben feststellen durfte, dass ich bis heute nicht das Geringste über sie weiß, konnte ich ihr nur sagen, was jeder sehen konnte: Eine junge Frau, werdende Mutter und ohne männliche Begleitung. Die alte Lady war damit keineswegs zufrieden, denn sie war schon immer an allen schönen Künsten interessiert. Sie ist eine sehr vornehme Frau und besitzt sehr viel Einfluss hier in der Stadt. Da ich ihr nichts Interessantes über die Zugereiste sagen konnte, mischte sie sich unter die Zuhörer und war begeistert. Mrs. Gwendale liebt Chopin, sie ist seine größte Verehrerin, na und Carol, die interpretiert seine Melodien geradezu meisterhaft. Kein Wunder also, dass die Witwe nahezu hin und weg war. Seitdem kommt sie fast jeden Abend, denn sie kann dem Kind stundenlang zuhören, ohne es müde zu werden. Außerdem glaube ich, dass sie in Carol ein wenig die Tochter sieht, die ihr selber nie vergönnt gewesen ist. Sie hat zwar noch eine Nichte, aber die ist viel zu selten hier.“
„Alles schön und gut“, brummt John, „aber das erklärt noch immer nicht ihre Tätigkeit als Lehrerin. Für mich ist das fast ein wenig Hochstapelei, was Carol da betreibt. Das ist mir regelrecht unheimlich.“
Charlotte lächelt. „Ich bin ja noch nicht fertig, Mister, äh, Blake.“ Sie stutzt kurz, als sie den vertrauten Namen bei dem Fremden benutzt. „Also, nach der gelungenen Vorstellung wollte Mrs. Gwendale das Mädchen natürlich unbedingt kennen lernen. Sie erklärte meinem Mann, dass sie unbedingt mit der Kleinen reden müsse, es umgäbe sie so etwas Geheimnisvolles, aber reizend Anziehendes. Na ja, und so brachte mein Mann Mrs. Carol an den Tisch der Witwe.“
„Aha, und Mrs. Gwendale ist hier die Oberlehrerin und hat sich blenden lassen.”
Charlotte schüttelt den Kopf. „Oh nein, die Witwe Gwendale ist die mit Abstand reichste Frau hier in der Gegend und daher in allen Bereichen überaus einflussreich. Seit ihr Mann verstorben ist, ist sie unglaublich streng und hart geworden, denn leider war die Ehe, wie schon gesagt, kinderlos. Aber Sie können mir glauben, sobald Mrs. Carol auftaucht, schmilzt die alte Dame, wie Butter in der Sonne.“
„Hm“, der Indianer kratzt sich am Kopf. „Das kennen wir, das tun andere Leute auch. Aber ich wollte Sie nicht unterbrechen, bitte entschuldigen Sie, erzählen Sie doch weiter, Ma’am.“
„Nun, da gibt es gar nicht mehr viel zu erzählen. Die Alte ist sehr vornehm und sie ist der strikten Meinung, Französisch sei die Sprache der feinen Leute, also spricht sie viel Französisch. Fast jeder Satz ist mit ein, zwei Worten gespickt. Die meisten Leute hier verstehen natürlich kein Wort, aber trotzdem endet jeder Satz bei ihr mit ‚n’est ce pas’ oder ‚ce ça’. Oh je, ich schwatze und komme letzten Endes doch noch vom Thema ab. – Also, mein Mann hat die beiden miteinander bekannt gemacht und die Witwe reichte dem Mädchen die Hand mit ihrem typischen ‚Bonjour ma chère!’, worauf Mrs. Blake klar und deutlich zur Antwort gab: ‚Bonjour Madame Gwendale, je suis contente de faire votre connaissance’, oder so ähnlich. Ich kann leider kaum ein Wort dieser schönen, aber komplizierten Sprache, aber ihre Schwester scheint darin perfekt zu sein, denn die beiden plauderten in locker, leichtem Tonfall fast zwei Stunden lang, ohne auch nur ein englisches Wort zu gebrauchen. Lange Rede, kurzer Sinn, zwei Tage später hatte Plumquartpinie eine neue Lehrerin für Französisch und Carol gab ihre erste Unterrichtsstunde. Damit hat es angefangen und dann ging es Schlag auf Schlag mit Musik und Handarbeiten weiter.“ Die Frau lächelt entwaffnend. „Carol hat niemals behauptet, dass sie Lehrerin ist, aber sie macht ihre Sache ausgezeichnet. Und ob Sie es nun glauben oder nicht, schon nach einer einzigen Woche liebten alle Einwohner von Plumquartpinie das geheimnisvolle Mädchen mit dem traurigen Gesicht.“
„Während ganz Wyoming Trauer trug!“, knurrt David und leert seine Kaffeetasse.
Mrs. Wolters wirft dem dunkelhaarigen Mann wieder einen verheißungsvollen Blick zu und ihre Finger tasten über den Tisch nach seiner Hand. „Sie gefallen mir, Mr. Widefield. Schade, dass Sie nur ihre Braut im Kopf haben. Wir hatten schon lange keine so gut aussehenden Gäste mehr. Wir zwei könnten eine Menge Spaß miteinander haben.“
David zieht seine Hand bestimmt unter der der Dame weg und erhebt sich. „Mrs. Wolters, vielen Dank für Ihre Gesellschaft, aber Sie möchten sich doch nun sicher etwas ausruhen, da Sie sich die ganze Nacht um die Ohren schlagen mussten. Ich möchte mich ein wenig in der Gegend umsehen, wenn ich schon nicht zu Miss Blake darf.“ Er betont das ‚Miss‘ ganz besonders und wendet sich an John, der sich nun ebenfalls hastig erhoben hat. „Kommst Du mit, Blacky?“
„Klar, Boss!“, und als sie außer Hörweite sind, flüstert er: „Mann, die ist ja schlimmer, als eine neunarmige Krake. Du wolltest mich ich doch wohl nicht mir ihr alleine lassen. Da ist ein armer, unschuldiger Mann ja glatt von Vergewaltigung bedroht. Die hätte mich glatt als Nachspeise vernascht.“
„Ach komm, so übel ist die Frau doch gar nicht, mein Freund. Mir ist sie allerdings zu alt", lacht David und sofort bekommt er Johns Ellbogen zwischen die Rippen. „Klar, Du treibst es nur mit kleinen, unschuldigen Mädchen.“
Trocken erwidert der Indian sofort: „Unschuldig sind die nur beim ersten Mal, dann nicht mehr!“
Johns Lachen weicht einem nachdenklich ernsten Ausdruck. „Tja, Mädchen. Ich fürchte nur, unser kleines Mädchen ist keins mehr. Sie wirkte gestern auf der Bühne wie eine Fremde auf mich. Völlig erwachsen. Eine erwachsene, reife Frau ohne die geringsten kindlichen Züge.“
Auch Davids Blick ist nachdenklich geworden. „Ja, sie ist viel reifer geworden. Wahrscheinlich haben die Umstände sie dazu gezwungen. Immerhin hat sie ein Baby ausgetragen. Alleine diese Tatsache genügt sicherlich, um aus einem Kind einen Erwachsenen zu machen. Ist Dir aufgefallen, wie sehr sich ihr Körper verändert hat?“
„Ja klar, sie ist dicker geworden. Aber das soll ja wohl so sein.“
„Nein, das alleine ist es nicht. Ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll. Ihre Haltung, ihre Bewegungen, alles ist irgendwie anders. Sie hat zwar ein stattlichen Bäuchlein bekommen, aber trotzdem sind ihre Bewegungen immer noch weich und fließend, nicht so plump, wie man es normalerweise von einer Hochschwangeren kennt, aber dennoch anders wie früher, irgendwie gelassener und, ja, einfach reifer.“ David seufzt und sein Blick verdunkelt sich. „Wahrscheinlich ist von dem Bauch schon nicht mehr viel vorhanden. Wenn das Baby weg ist, geht im Laufe der nächsten Wochen sicher auch der Bauch zurück. Aber hast Du ihre Brust gesehen? Wahnsinn gegen früher, wo kaum etwas vorhanden war. Meine kleine Carol ist begehrenswerter denn je.“
John brummt heiser: „Wo Du aber auch hinguckst. Carol ist meine Schwester, so was darf mir doch gar nicht auffallen.“ Er macht eine kleine Pause, dann murmelt er: „Ihre Hemden bekommt sie bestimmt nicht mehr zugeknöpft.“
„Nun, vielleicht ist mit der äußerlichen Reife auch die innere Einsicht gekommen, dass sie endlich alt genug ist, um zu heiraten.“ Leise fügt der dunkle Mann hinzu: „Ich hoffe das von ganzem Herzen, denn ich bin einfach verrückt nach dieser Kindfrau.“
John lacht und schlägt seinem Freund herzhaft auf die Schulter. „Ich werde es meiner Schwester befehlen und wenn sie nicht will, lege ich sie über’s Knie, bis sie will, da kannst Du Gift drauf nehmen.“
Beide Männer lachen und verlassen das Hotel.
Ein Blick aus begehrlich glitzernden Augen verfolgt die beiden gutaussehenden Cowboys. Die Hoteliersgattin hat noch nie in ihrem Leben Cowboys gesehen, die so gepflegt und sauber gewirkt haben. Die beiden könnten sich genauso gut als Bankiers ausgeben oder als Geschäftsleute, keiner würde diese Aussage anzweifeln.
Die Frau beneidet Carol um den Indianer. ‚Pff’, denkt sie ein wenig atemlos, ‚ist das ein toller Mann. Der Typ ist ja wirklich ein Traum. Mit dem würde ich zu gerne mein Nachtlager teilen. Echt irre, dass der so alt werden konnte, ohne vor den Traualtar gezerrt zu werden. Der hätte mir ein paar Jahre früher begegnen müssen.’ Sehnsuchtsvolle Gedanken fließen durch ihren Kopf, doch dann schüttelt sie sich unwillig. ‚Verdammt, ich täte Carol damit bestimmt weh, aber träumen wird ja wohl noch erlaubt sein.’
Am übernächsten Morgen erlaubt der Arzt nach längerem Hin und Her und vielen „Hm, ich weiß nicht“, endlich, dass Carol Besuch bekommen darf. „Aber wehe, wenn Sie die junge Frau aufregen, dann Gnade Ihnen Gott!“, knurrt er und droht dem Indianer mit der Faust.
„Ganz wird sich das sicher nicht vermeiden lassen“, brummt David und eilt los. Sein Herz klopft ihm bis zum Hals. So aufgeregt war er seit Kindertagen nicht mehr.
Vor der Tür zu Carols Zimmer bleibt er einen Moment stehen, um sich zu sammeln, dann holt er tief Luft und pocht an die Tür, hinter der er sein Glück weiß. Sofort hört er die vertraute Stimme, schon wieder genau so kess wie früher. „Komm nur herein, Charlotte. Es ist nicht abgeschlossen.“
Der Indian drückt die Klinke herunter, öffnet die Tür und bleibt im Rahmen stehen. Das geliebte Girl sitzt, ihm den Rücken zuwendend, vor einem großen Spiegel.
„Warum machst Du die Tür nicht ...?“ Carol hebt den Blick, schaut in den Spiegel, erstarrt und wird glatt noch um ein paar Nuancen bleicher.
Nun erst schließt David die Türe hinter sich.
„Indian, Boss, was, was machst Du denn hier? Wo kommst Du auf einmal her?“, stammelt das rothaarige Mädchen völlig verwirrt.
Ohne auf diese Fragen eine Antwort zu geben, geht der Mann mit schweren Schritten auf seine kleine Frau zu und gibt ihr drei, nein vier kräftige Ohrfeigen. „Als Vorgeschmack auf unsere Ehe, Geliebte, denn eins steht fest, jetzt wird erst mal auf schnellstem Wege geheiratet!“, knurrt er und blickt sie fest an.
Carol steht mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen da, auf ihren eben noch schneeweißen Wangen zeichnen sich seine Finger ab. Mechanisch hebt sie die rechte Hand und reibt sich über die schmerzenden Stellen, ohne zu einer weiteren Reaktion fähig zu sein. Sie fühlt sich wie gelähmt durch den unerwarteten Auftritt mit dem sofortigen Angriff. Sie klappt den Mund auf, doch kein Ton kommt über ihre blutleeren Lippen.
Nun wird Davids Stimme ganz sanft und zärtlich, so wie es seine Gefühle zu dem Kind sind. „Ich bin gekommen, um Dich heimzuholen, heim auf die Willow-Tree-Ranch.“ Liebevoll umschließt er sie mit seinen Armen und murmelt: „Du darfst nie wieder weglaufen. Nie wieder, hörst Du, Baby? Niemals mehr wieder. Es gibt keine Problem, für das sich keine Lösung findet und Dein Problem war gar keins, im Gegenteil, Du hättest nicht nur mich mit einem offenen Geständnis überglücklich gemacht.“
Er küsst sie innig, seine Lippen wandern über ihre Haare, die Stirn und den Hals zurück zu den Lippen, ohne dort eine Erwiderung seines Kusses zu fühlen. „Ich begehre Dich, Geliebte, jede Faser in mir war tot, nachdem Du uns verlassen hast. Ich habe mich jede Nacht nach Dir gesehnt, nach Deinem wundervollen Körper, nach Deinem Temperament, Deiner Wärme. Ich bin fast verrückt geworden vor Sehnsucht nach meiner geliebten, kleinen Carol. Bitte, werde endlich meine Frau!“
Nach Überwindung des Schrecks sind dem Girl die Tränen in die Augen geschossen. Zornig befreit sie sich aus seiner Umarmung. „Muss das alles sein? Kaum bist Du da, fängst Du schon wieder an, zu nerven! Nach Deinen Ohrfeigen ist mir die Lust auf einen Mann gründlich vergangen. Außerdem habe ich festgestellt, dass ich sehr gut ohne männlichen Anhang auskomme!“
Mühsam kämpft sie die Tränen zurück. „Sollte ich irgendwann meine Meinung ändern, suche ich mir einen anderen, ich will nämlich keinen Schläger. Andere Mütter haben auch hübsche Söhne. Hier laufen jede Menge davon rum. Ich bräuchte nur mit den Fingern zu schnippen und schon hätte ich die freie Auswahl!“
Carols Stimme hat während dieser kleinen Rede einen ungewöhnlich metallischen Klang angenommen. „Du kannst mich übrigens nicht nach Hause holen. Ich bin zu Hause! Hier fühle ich mich sauwohl und will nirgends woanders mehr hin.“
Sehr bestimmt und ohne auf ihr Zetern einzugehen, brummt der Indianer: „Wir heiraten und damit basta!“
Jetzt wird Carols Stimme unvermittelt sanft. „Hast Du es immer noch nicht kapiert, weshalb ich fortgegangen bin, Boss? Ich will einfach noch nicht heiraten!“
Wieder bekommt ihre Stimme den blechernen, aufgeregten Tonfall. „Ich will mich noch nicht binden, verstehst Du das denn nicht? Ich fühle mich noch viel zu jung und bin das auch noch. Willst Du nicht kapieren, dass Du es noch immer mit einer unreifen, jungen Göre zu tun hast? Daran konnte auch die Schwangerschaft nichts verändern, die hat mich nur dick und hässlich gemacht, aber in meinen Kopf ist alles beim Alten geblieben.“
Das Girl ist wieder unruhig geworden, ihre Augen irren unstet durch den Raum an den Wänden entlang, als suche sie eine andere Fluchtmöglichkeit, als die Tür.
„Nein, Carol“, antwortet der Vormann ganz ruhig, „nein, Carol, das verstehe ich nicht und ich will es auch nicht verstehen. Ich will Dich! Ich will Dich endlich ganz für mich alleine!“ Er stockt und schaut sie aus seinen dunklen Augen ganz ruhig, aber fest an. „Ich bin Dir zu alt, stimmt’s? Ich habe es immer gewusst. Ich bin so viel älter als Du, dass ich mit Leichtigkeit Dein Vater sein könnte. Ich weiß, dass das Kind meiner verstorbenen Verlobten älter wäre, als Du es bist und das ist Dir wahrscheinlich mittlerweile klar geworden.“
„Du verstehst überhaupt nichts!“
„Wenn Du mir sagst, dass ich Dir zu alt bin, dann muss ich das akzeptieren, ich kann Dir nicht Deine Jugend stehlen.“
„Nein, Sir, das ist es nicht!“, Carols Tonfall ist förmlich und korrekt, doch ihre Stimme zittert vor unterdrückter Erregung. „Ich kann einfach nicht mehr nach Ebony Town zurückkehren, das geht absolut nicht, das ist überhaupt nicht mehr drin.“
Bei diesen Worten steigert sich das rothaarige Geschöpf in eine solche Erregung hinein, wie man sie von ihr gar nicht gewohnt ist, eine Erregung, die eine große Unsicherheit in sich birgt. Carol hat sich noch nie in ihrem Leben so verunsichert gefühlt, wie in diesem Moment.
Ihre Gefühle sind zwiespältiger Natur, denn sie sehnt sich schon so lange danach, die Geborgenheit wieder zu spüren, die David ihr zu geben versteht, aber andererseits hat sie es sich so sehr in den Kopf gesetzt, nie mehr nach Wyoming zurückgehen zu können, dass sie keinen klaren Gedanken mehr zustande bekommt.
Sanft ergreift David den Arm des Mädchens. „Aber Carol, wir vermissen Dich doch alle so sehr. Nichts ist mehr wie früher. Du fehlst uns an allen Ecken und Enden. Du bist doch hier bestimmt nicht rundherum glücklich, Dir fehlt doch sicher Deine Arbeit. Bitte, Baby, komm doch mit mir zurück.“
„Nein, nein! Niemals!“, zischt sie durch ihre zusammengebissenen Zähne hindurch und beginnt aufgeregt nach Luft zu schnappen. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich wild und sie ist erneut fast den Tränen nahe.
Widefield reißt nun doch der Geduldsfaden. „Carol verdammt noch mal, nimm doch endlich Vernunft an. Du kommst jetzt mit nach Ebony Town. Sobald Du wieder reisefähig bist, fahren wir!“ Drohend hängt die schwere Stimme des Mannes im Raum.
Carol taumelt zunächst, als würde der Druck dieser Stimme sie umwerfen, dann aber hält das hübsche rothaarige Ding urplötzlich einen Revolver in beiden Händen. Er erkennt die Waffe sofort. Es ist dieselbe, die er ihr am Tag ihres ersten Auftauchens auf der Nordweide der Willow-Tree-Ranch abgenommen hat. Die Waffe, die durch die eingravierten Initialen den Besitzer preisgibt.
Das Girl atmet noch immer aufgeregt. Sie zittert am ganzen Körper. Langsam schüttelt sie den Kopf und knirscht dabei mit den Zähnen, dann kommt nur noch tonlos drohend: „Geh weg! David Widefield, geh endlich weg!“
Dicke Tränen schimmern in den wunderschönen grünen Augen. „Hau ab, hau doch endlich ab, verdammt noch mal! Ich will Dich nie, nie wieder sehen. Lass mich gefälligst in Ruhe. Was fällt Dir eigentlich ein, Dich unentwegt in mein Leben einzumischen.“ Ihre Stimme kippt vor Erregung über und wird schrill.
Sie schluckt nervös und hebt den Revolver noch ein Stückchen höher, bis er genau auf sein Herz zielt.
„Warum musstest Du herkommen und mir alles kaputt machen? Ist nicht schon genug passiert, nur weil die Lust mit uns durchgegangen ist? Ich hatte mich endlich wieder gefangen und jetzt trampelst Du alles, was ich mühsam zum Keimen gebracht habe, einfach so nieder.“ Carol wischt sich mit dem Handrücken der linken Hand die Tränen aus dem Gesicht, ohne die rechte Hand mit dem Revolver auch nur einen Millimeter zu senken. „Wahrscheinlich hattest Du nichts Eiligeres zu tun, als mich bloßzustellen und allen hier zu erzählen, was für eine ich in Wirklichkeit bin. Als Lehrerin bin ich doch geliefert. Wer wird mir denn nun noch seine Kinder anvertrauen, einem dahergelaufenen Flittchen, das schon mit sechzehn schwanger geworden ist. Hier in diesem wundervollen Ort hat man mir eine echte Chance gegeben, endlich hätte ich etwas aus meinem Leben machen können. Hier war ich wer. Ich wurde anerkannt und geachtet. Das war meine Chance, verstehst Du, meine einzige Chance, die Du mir hier kaltlächelnd zerstört hast. Und jetzt ist alles futsch, mein Glück, meine Zukunft. Kannst Du mir sagen, was ich nun anfangen soll? Woanders wieder versuchen Fuß zu fassen? Ich hasse Dich!“
Böse blitzen ihre Augen den Mann an, nach dem sie sich noch bis heute Morgen vor Sehnsucht verzehrt hat, während unaufhörlich die Tränen über ihr Gesicht kullern. Auf ihrem Hals haben sich hektische rote Flecke ausgebreitet, die sich mit den Abdrücken auf ihren Wangen mischen, als hätte sie Fieber.
Mit langsamen, schweren Schritten kommt der Vormann auf das Mädchen zu.
„Bleib stehen!“ Diese Warnung schreit sie laut und gequält, dann leckt sie sich nervös über die trockenen Lippen. „Ich warne Dich, mach ja keinen weiteren Schritt in meine Richtung. Ich drücke ab!“
Der Indianer hört nicht auf die erregten Worte und nähert sich dem Wesen mit der noch immer drohend auf ihn gerichteten Waffe weiter. Carol schließt gottergeben die Augen und drückt tatsächlich ab. Glücklicherweise zittert sie aber dabei so sehr, dass sie den Revolver nicht richtig festhalten kann und der Schuss weit am Körper des Indian, der einen schnellen Satz zur Seite gemacht hat, vorbeigeht und die Tür durchschlägt.
Der Knall holt das Girl in die Wirklichkeit zurück und voller Panik reißt sie die Augen auf. Die Waffe entgleitet ihren Händen und poltert laut krachend zu Boden. Von einem Weinkrampf geschüttelt, bricht das zarte Geschöpf zusammen. Sie hat keine Kraft mehr, sich auf den Beinen zu halten und sinkt langsam auf die Knie, presst die Hände vor ihr Gesicht, beugt sich vor und dann wird ihr kleiner Körper von einem herzzerreißenden Schluchzen geschüttelt.
David starrt auf die Geliebte. Er sieht, wie sich ganz langsam ein dunkler Fleck auf ihrem Rock ausbreitet, ohne zu registrieren, woher dieser stammt.
Blacky, der gerade die Hand erhoben hat, um bei Carol anzuklopfen, prallt entsetzt einige Schritte zurück, als das Holz der Tür zu ihrem Zimmer splittert und die Kugel dicht an seinem Kopf vorbeizischt und sich knirschend in die gegenüberliegende Wand bohrt.
John blickt erst fassungslos auf das Loch in der Tür, dann zur Wand, da hört er es auch schon im Zimmer laut poltern. Ohne noch an ein Anklopfen zu denken, reißt er die Tür auf und stürzt in den Raum. Er ist auf das Schlimmste gefasst, doch der Anblick, der sich ihm jetzt hier bietet, lässt sein Herz schmelzen. Er sieht seine kleine Schwester, die weinend am Boden hockt und den Freund, der neben ihr kniet und sie liebevoll beschützend in die Arme genommen hat.
Leise spricht der sonst so beherrschte, selbstsichere Mann auf das weinende Bündel Mensch ein. So sanft und zärtlich hat John den Freund in all den vielen Jahren ihrer Freundschaft noch nicht erlebt, ja er hätte ihm eine derartige Fürsorglichkeit im Traum nicht zugetraut.
Sicher, der Mann ist die Zuverlässigkeit in Person, er respektiert jeden Menschen so wie er ist und würde sicherlich niemals seine Frau verprügeln, doch dass er so sanft sein kann, dass hätte John sich im Leben nicht ausmalen können.
Plötzlich merkt er mit tödlicher Sicherheit: ‚David liebt Carol ganz unbeschreiblich. Er liebt den Menschen, nicht ein naives, reizvoll unschuldiges Kind oder ein Bild seiner eigenen vergangenen Jugend, er liebt Carol mit ihren ganzen Ecken, Kanten und Fehlern, von denen sie mehr als genug in sich trägt. David ist so verliebt in meine kleine Schwester, wie es nur ganz selten ein Mann in eine Frau ist, das ist kein kurzes Strohfeuer der Leidenschaft, das ist eine tiefe, ehrliche Liebe. Ich kann ihm das Kind ohne Bedenken zur Frau geben und werde es sicher niemals bereuen.’
John holt tief Luft und auf einmal ist jeder Rest seines noch immer vorhandenen heimlichen Grolls gegen seinen besten Freund verflogen, ja er nimmt es ihm plötzlich nicht einmal mehr übel, dass er das kleine Mädchen zur Frau gemacht hat, obwohl sie noch nicht verheiratet waren. Miteinander zu schlafen ist doch eigentlich ein ganz natürlicher Vorgang bei einem verliebten Paar und letzten Endes: Hat er seiner Schwester nicht immer wieder Davids Vorzüge gepredigt und sie ihm förmlich in die Arme gedrängt? Er selber wollte den Freund doch gerne als Schwager sehen und nun kann er das, denn wenn Carol erst mal wieder in Ebony Town ist, wird sie auf die Nähe des Geliebten sicher nicht lange verzichten wollen und das bedeutet, dass die beiden ganz schnell heiraten müssen.
John schmunzelt in sich hinein und stellt sich das Gerede unter den Leuten vor, wenn sie weiterhin so täten, als wäre da nichts zwischen ihnen.
Er räuspert sich vernehmlich.
Nun schaut Carol auf. Als sie ihren Bruder erkennt, kippt sie in sprichwörtlicher Weise um. Tonlos flüstert sie: „Nein, nicht Du auch noch, das ist einfach zu viel!“
John strahlt sie an und wedelt dem Freund ein: ‚Lass mich mal, jetzt bin ich dran!’ zu. David überlässt dem zukünftigen Schwager sofort das Feld und erhebt sich.
Der blonde junge Mann beugt sich zu seiner kleinen Schwester hinunter und gibt ihr einen Kuss auf den Scheitel. Er legt seinen Arm um ihre Schulter und spürt ihren kraftlosen, schmalen Körper. Da ist nichts mehr von der selbstbewussten Frau, die sie auf der Bühne erlebt haben, da ist wieder das kleine, schutzbedürftige Mädchen, das noch so viel Liebe und Geborgenheit braucht, wie jedes andere Kind auch.
Das Girl legt seine Arme um Johns Hals und schmiegt ihren Kopf an seine Schulter. Sie ist nicht in der Lage, etwas zu sagen, zu verwirrt sind ihre Gefühle. Der Mann hebt sie auf und legt sie auf ihr Bett.
Widefield dagegen starrt wie hypnotisiert auf den Fußboden und murmelt: „Oh, mein Gott, hier ist überall Blut!“
Carol blickt an sich herab, nickt, die Augen in ihrem bleichen Gesicht sind groß aufgerissen, dann flüstert sie: „Das scheint aber nichts Besonderes zu sein. Der Doktor hat gesagt, das ist normal in den ersten Tagen. Deswegen soll man nach einer Geburt ja auch mindestens eine Woche im Bett bleiben. Macht Euch bloß keine unnötigen Sorgen.“ Schnell zieht sie die Decke über ihre verschmutzte Kleidung und lächelt ein wenig hilflos.
Die Männer haben noch nie so viel Blut bei einem äußerlich unverletzten Menschen gesehen und machen sich daher sehr wohl große Sorgen. David brummt heiser: „Ich glaube, ich sage besser Mrs. Wolters Bescheid.“
John, der seinen Blick nicht von dem Blutfleck auf dem Boden abwenden kann, schluckt und knurrt: „Tu das, aber lass Dich nicht vernaschen!“
Während David das Zimmer verlässt, lässt sich Blacky auf die Bettkante sinken und beugt sich zu Carol hinab. „Mensch Kleines, was bist Du nur für ein Schäfchen, was hast Du uns und Dir selber nur angetan?“
Tonlos antwortet das Girl: „Ich weiß, ich habe sehr viele Fehler gemacht, aber wie Doktor Steel mir sagte, ich sei schwanger, da wusste ich plötzlich gar nichts mehr. Ich fühlte nur noch eine riesengroße Panik und glaubte in einen tiefen Abgrund stürzen zu müssen. Und weil ich Angst hatte, dass ich dabei jemanden mitreißen könnte, bin ich Hals über Kopf abgehauen. Und jetzt ist mein Baby tot und ich alleine bin daran schuld. Ich fürchte, das kann ich mir niemals verzeihen und ich weiß nicht, ob es jemand anders kann.“ Sie denkt an David und hat auf einmal nicht nur ihrem toten Baby, sondern auch dem Mann gegenüber ein schlechtes Gewissen.
„Das ist doch alles Unsinn, Liebes! Das passiert schon mal. Es kommen oft Babys zu früh oder tot auf die Welt, das war schon immer so und wird auch in Zukunft immer wieder vorkommen. Du darfst Dich jetzt nicht mit Selbstvorwürfen zerfleischen.“
„Aber was ist mit David? Hätte er das Kind gewollt?“
Ernst murmelt John: „Ich denke schon. Ich glaube, er träumt schon lange davon, endlich eine richtige kleine Familie zu haben, besonders seit Du in sein Leben gewirbelt bist.“
„Siehst Du, diesen Traum habe ich zerstört. Ich weiß, dass er schon einmal fast Vater geworden wäre, aber die Frau starb noch vor der Geburt des Kindes. Und jetzt habe ich sein Kind getötet. Ich glaube, er wird mir nie richtig verzeihen, was ich ihm und seinem Kind angetan habe. Ich bin so dumm und egoistisch. Ich bin es gar nicht wert, von so einem Mann geliebt zu werden. Wenn er mich nach allem, was geschehen ist überhaupt noch liebt. Vielleicht ist es jetzt nur noch sein Stolz, der ihn veranlasst, mich zu einer Rückkehr zu bewegen.“
„Quatsch! Da brauchst Du gar keine Angst zu haben. Ich kenne David seit massig vielen Jahren und ich weiß, dass er Dich bedingungslos liebt. Er braucht es nicht mal zu sagen, das erkennt ein Blinder am Knistern der Luft, wenn ihr beide zusammen seid. Und wegen dem Baby brauchst Du Dir auch keine Gedanken zu machen. Du weißt jetzt, dass Du Kinder bekommen kannst und Du weißt, dass David Dir welche machen kann. Also, was steht dagegen, schnell zu heiraten und eine Familie zu gründen? Fehlgeburten hatte Mum auch eine ganze Menge. Deswegen bin ich ja auch so viel älter als Du. Wie ich kleiner war, wusste ich nicht, was es zu bedeuten hatte, wenn Mum erst immer dicker wurde, dann wieder dünn war und tagelang weinend im Bett gelegen hat, bis Dad es mir eines Tages erklärt hat. Ich weiß nicht, ob eine Neigung zu Fehlgeburten vererbbar ist, aber es ist durchaus nichts Seltenes.“
Carol schmiegt sich an den geliebten Bruder. „Das mag ja alles sein, aber ich denke, ich habe dem Ungeborenen viel zu viel zugemutet. Es war so munter und hat sich dauernd bewegt, erst vor ein paar Tagen wurden seine Bewegungen irgendwie anders, kraftloser und langsamer. – Es war ein kleiner Junge!“ Tonlos formen ihre Lippen diese Worte. „Er hatte ganz schwarze Härchen und eine süße kleine Stupsnase. Er war so niedlich.“
Die Tränen kullern dem Mädchen über das Gesicht. John fühlt sich unbeschreiblich hilflos, ist aber gleichzeitig voll verlangender Zärtlichkeit für diese kleine Frau, die für ihn so verboten ist.
Sanft küsst er ihre Tränen fort und pfeift auf alle Verbote. Er sucht ihre Lippen und merkt, dass diese leicht geöffnet sind. Zaghaft sucht seine Zunge den Weg in diese warme, feuchte Höhle, dann begegnet seine Zunge der ihren und er küsst seine Schwester voller Leidenschaft.
Carol weiß nicht warum, aber sie erwidert diesen Kuss, als wüsste sie nicht, dass John ihr Bruder ist. Sie lässt es sogar zu, dass er ihr sanft die Brüste streichelt und die Bluse öffnet. Als seine Lippen sich schließlich um ihre Brustwarze schließen, streichelt sie ihm im Anflug der Erkenntnis des Unschicklichen über die Haare. „John, bitte nicht, wir sind Bruder und Schwester, das dürfen wir nicht tun.“
„Ich weiß es“, murmelt er heiser, „aber ich verfluche das manchmal sehr. Wenn ich nicht Dein Bruder wäre, ich wüsste nicht, was ich mit Dir anstellen würde. Ich liebe Dich so sehr, meine Kleine und ich begehre Dich wahnsinnig. Es ist wirklich krank. Ich prügele mich mit David, weil er es mit Dir getrieben hat, hätte aber selbst keinerlei Skrupel, es auch zu tun.“
Carol legt ihm die Finger ihrer rechten Hand auf die Lippen, dann schließt sie rasch die Knöpfe ihrer Bluse. „Sag nichts weiter, John. Es ist komisch. Ich liebe David und kann es mir nicht vorstellen, dass mich ein anderer Mann auch nur anfasst, aber bei Dir ist das alles so anders. Du bist mir so vertraut, als wäre es nichts Schlimmes, wenn ich“, sie senkt ihre Stimme, so dass sie kaum noch zu vernehmen ist, „wenn ich es mit Dir täte.“
Sie räuspert sich, dann setzt sie in normalem Tonfall hinzu: „Ich glaube, mein Kopf hat was abgekriegt.“
Wieder küssen sich die Geschwister zärtlich und viel zu intim, dann legt Carol ihren roten Schopf gegen Johns Blonden und schließt die Augen, um sie kurze Zeit später wieder weit aufzureißen. Sie setzt sich aufrecht hin und grinst: „Eh, wäre mir doch fast durchgegangen. Habe ich das da eben richtig gehört? Du hast Dich wegen mir mit David geprügelt?“
John nickt kleinlaut. „Es war ein so schmerzvoller Gedanke, dass Du, ein Kind, von einem Mann ein Baby bekommst, der immer behauptete, mein Freund zu sein.“ Er holt tief Luft. „Aber wie er mir Deinen Brief gezeigt hat, bin ich absolut ausgerastet.“
„Er hat Dir meinen Brief gezeigt? Er sollte doch niemanden von meinem Missgeschick etwas erzählen.“
Nachdenklich blickt Carol zur Zimmerdecke hoch. Das ist alles schon so furchtbar weit weg, als wäre es nur eine Geschichte, die ihr irgendwann einmal jemand erzählt hat. „War aber ganz schön mutig von ihm, wo er doch nicht wissen konnte, ob Du es nicht postwendend an Mr. Carpenter weiterträgst.“
„Carpenter hat den Brief vor mir gelesen!“
Carols Gesicht wird von einer leichten Röte überzogen. „Und? Der Alte hat getobt wie ein Wilder und David rausgeschmissen, was? Und Du bist aus lauter Freundschaft und Solidarität gleich mitgegangen oder hat Carpenter Dich, weil Du mein Bruder bist auch gleich gefeuert?“
„Du hast ja noch immer die krausesten Gedanken der Welt. Wo denkst Du eigentlich hin? Carpenter war furchtbar traurig, dass Du nicht den Mut und das Vertrauen hattest, Deine Sorgen zu offenbaren. Es hätte sich sicher eine einfachere Lösung finden lassen, als wegzulaufen. Er musste zwei teuer bezahlte Cowboys auf Deine Fährte schicken, glaubst Du, das hätte er gemacht, wenn er wütend über Euer Verhältnis wäre? Im Gegenteil, ich glaube, er wird nicht weniger traurig über die Nachricht von der Fehlgeburt sein, wie David und ich.“
Ungläubig schaut Carol ihren großen Bruder an und schüttelt den Kopf. „Ich glaube, ich bin wirklich ein ganz dummes Schaf.“
Vor der Tür sind die schweren Schritte des Vormanns zu hören und Carol rückt instinktiv ein wenig von ihrem Bruder ab.
David betritt den Raum gerade in dem Moment, als Blacky nach den Händen seiner Schwester greift und sie eindringlich bittet, wieder nach Willow-Tree zurückzukehren.
„Niemand in Ebony Town weiß etwas von Deiner Dummheit und dem kleinen Malheur. Dr. Steel hat verbreitet, dass Du armes, schwer vom Schicksal gebeuteltes Wesen zu Deiner endgültigen Erholung weggeschickt worden bist, damit ein gewisser Rancher und sein ungnädiger Vormann Dich nicht länger ausbeuten können und damit Deine Genesung behindern.“ Er lächelt gewinnend. „Carol, bitte, wir alle vermissen Dich so sehr, Dein fröhliches Wesen, Deine guten Ideen, einfach alles, was Dich so liebenswert macht. Die arme Susan ist schon ganz vereinsamt. Sie hat nicht mal mehr Lust, einkaufen zu gehen. Wenn Du nicht heimkommst, wird das arme Ding noch zur alten Jungfer, weil sie sich nicht mehr unter Menschen begibt und nie einen netten jungen Mann kennen lernen kann.“
Nach Blackys Worten herrscht für lange Zeit eine richtige Grabesstille in dem Hotelzimmer, welches für Carol so etwas wie eine zweite Heimat geworden ist, auch wenn sie sich darüber im Klaren ist, dass sie nicht den Rest ihres Lebens in einem Hotel verbringen kann.
Gespannt starrt David seine Liebste an und wartet auf eine Antwort, ohne selbst die Frage noch einmal zu wiederholen.
Keiner der jungen Menschen spricht auch nur eine Silbe, geschweige denn ein Wort.
Endlich, nach reiflicher Überlegung und einigen tiefen Seufzern, es sind schon mehr als zehn Minuten vergangen, kommt Carol zu der Überzeugung, dass sie genug Fehler gemacht hat und dass es tatsächlich das Beste für sie ist, wieder auf die geliebte Ranch zurückzukehren. Seit ihrer Flucht ist dies ja ihr sehnlichster Wunsch gewesen. Mit jeder Faser ihres Herzens hat sie diesen Augenblick herbeigesehnt, hat sie danach gefiebert, endlich nach Hause zu dürfen, zu den freundlichen Menschen, in das wunderschöne Haus, in die herrliche Landschaft und ganz besonders zu ihrem Liebsten, eben zu allem, was Heimat ausmacht.
Nur jetzt hat sie ein großes Problem, wie drückt man das alles am besten aus, wenn man sich gerade eben noch wie eine Verrückte so total daneben benommen hat?
Ihr Blick richtet sich auf das Loch in der Tür. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie nicht so gezittert hätte. Ihr hebt sich der Magen bei dem Gedanken, dass David jetzt mausetot mitten im Raum liegen könnte.
David interpretiert den Blick falsch und murmelt: „Mrs. Wolters kommt, sobald sie vom Einkaufen zurück ist. Die Küchenhilfe meint, Dein Blut wäre besonders flüssig, deswegen sähe es immer gleich so gefährlich aus.“
Carol schüttelt den Kopf. „An Charlotte habe ich, ehrlich gesagt, gerade nicht gedacht.“
Sie lächelt entwaffnend, gibt sich einen Ruck und knurrt: „Also gut, ich, hm“, das Mädchen kratzt sich schon wieder ganz in alter Manier am Kopf, „also, ich, verflucht, wie sage ich es am besten meinem Kinde? Also gut,“ das Girl schluckt und holt tief Luft. „Gut, Ihr habt mich überzeugt. Wenn wirklich niemand in Ebony Town etwas von meinem Fehltritt weiß und es auch nie erfahren wird, komme ich wieder mit Euch zurück. – Ich kann es wirklich nicht verantworten, dass die arme Susan wegen mir zur alten Jungfer wird. Wäre doch schade um das nette Menschenkind. – Aber ich komme nur unter einer einzigen Bedingung mit!“ Das Kind blickt seinen Boss sehr offen an. „Ich komme nur unter der Bedingung mit, dass Du mich nicht gleich nach unserer Ankunft vor den Traualtar schleppst. Okay, Indian?“
Der Mann nickt ergeben. „Ich verspreche Dir alles, was Du möchtest, wenn Du nur endlich zurückkommst.“ Im Stillen denkt er jedoch: ‚Abwarten, mein Süße, abwarten!‘
John atmet erleichtert auf und brummt: „Na Gott sei Dank, Job gerettet!“ Er drückt strahlend Carols Hände.
Verblüfft schaut das Girl ihn an. „Was soll das denn nun schon wieder heißen?“
John grinst, steht von Carols Bettkante auf, hebt den Zeigefinger und deklamiert mit tiefer Stimme: „Und schafft mir ja das Mädchen herbei! Wehe, Ihr wagt es Euch, ohne die Kleine zurückzukommen, dann seid ihr beide arbeitslos!“
„Hallo, Mr. Carpenter!“, sagt das Mädchen und lacht befreit auf. „Na, dann habe ich ja überhaupt keine andere Wahl mehr. Ich will es doch nicht schuld sein, wenn Ihr nachher ohne Job dasteht, dann hätte ich ja gleich auf Willow-Tree bleiben können.“ Sie greift nach den Händen der Männer und zieht sie beide an sich heran um sie nacheinander zu umarmen. „Ach, ich weiß gar nicht, was das ist, ich komme einfach nicht los von Euch schlimmen Scheusalen.“
Jetzt müssen alle drei herzhaft lachen und die Anspannung der letzten Tage fällt im Nu von ihnen ab und auch die vergangenen Monate sind im Handumdrehen vergessen. Sie gehören nun genau so der Vergangenheit an, wie die schlimmen letzten Minuten.
Unvermittelt wird der Vormann wieder ernst. Er ist am Schnellsten wieder ganz der Alte. Auf seiner Stirn stehen die strengen Steilfalten, die so gar keinen Wiederspruch dulden. „Also dann, packen, mein Liebling! Der Urlaub ist zu Ende. Du bist ab sofort wieder auf der Willow-Tree-Ranch angestellt und ich dulde keinen Schlendrian. Gut, dass Du gekündigt hattest, da steht Dir für die Zwischenzeit wenigstens kein Lohn zu.“
Während Carol knurrt: „Das ist ja mal wieder typisch!“, tritt er zu dem Revolver des Mädchens, der noch immer am Boden liegt, hebt ihn auf und steckt ihn in seinen Hosenbund. „Den nehme ich lieber an mich, sonst müssen wir vor unserer Abreise noch das ganze Hotel renovieren lassen.“
Das Girl grinst: „Den kriege ich aber wieder, mein Lieber!“ Dann fügt sie wieder ernst und erwachsen hinzu: „Ich denke, mit der Abreise müssen wir noch eine ganze Weile warten. Das geht alles nicht so schnell. Zum einen darf ich ja eigentlich noch nicht mal aufstehen und zum anderen habe ich mir hier ein Leben aufgebaut, das reißt man nicht in ein paar Minuten wieder ein. Ich brauche nach meiner Genesung noch ein paar Tage. Vor allen Dingen muss ich mich noch von meinen Kindern verabschieden. Die werde ich am meisten vermissen.“
Ergeben nickt David und John fragt in einer plötzlichen Eingebung: „Was hältst Du davon, wenn ich Carpenter ein Kabel schicke? Schließlich wartet er bestimmt schon sehnsüchtig auf eine Nachricht von uns. Ich werde schreiben: ‚Ausreißer leicht lädiert gefunden, kommen zurück, wenn Blessuren halbwegs verheilt und wir genug Urlaub hatten.’ Guter Text, oder?“
Widefield zuckt zusammen, seine Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen und er knurrt: „Und das ganze unterschreibst Du dann mit meinem Namen, was? Der Alte schmeißt mich raus. Du bist manchmal ein richtiger Kindskopf, John. Du weißt, dass ich den Job brauche, sonst kann ich Deine Schwester nicht ernähren, wenn sie erst mal meine Frau ist.“
„Die kleine Schwester ernährt sich schon ganz gut selbst!“, kichert das rothaarige Mädchen und die Willow-Tree Männer müssen lachen. Nun nickt der dunkelhaarige Cowboy und meint: „Ich bin aber Deiner Meinung John, was das Kabel an sich betrifft. Carpenter muss endlich erfahren, was wir erreicht haben. Es muss wirklich nicht sein, dass sich der Mann unnütz Sorgen macht. Schließlich hat er sich sehr großzügig uns gegenüber erwiesen.“
Blacky grinst. „Du glaubst gar nicht, wie gerne ich das mache, mein Freund. Es ist mir immer ein Vergnügen, so eine positive Nachricht weiterzugeben. Und glaube mir, ich werde nur kabeln: Geschäft positiv abgeschlossen, Preis war hoch. Dann kann der Boss versuchen sich einen Reim darauf zu machen und keiner ahnt, was der wirkliche Grund unserer Reise war. Carpenter hat uns schließlich ausdrücklich befohlen den Mund zu halten!“
Er tritt an Carols Bett, um seine Schwester noch einmal zu umarmen und erstarrt. Das Girl hat die Bettdecke ein wenig angehoben und zuckt zusammen. Tonlos flüstert sie: „Ich glaube, ihr geht jetzt besser. Und wenn Charlotte endlich zurück ist, sagt ihr, sie soll vorsichtshalber den Doktor rufen.“
Die Männer starren das Girl entsetzt an, doch sie versucht ein mattes Lächeln, welches ihr allerdings nicht so recht gelingen will. „Macht nicht solche Gesichter. Das hat wohl nicht viel zu bedeuten und ist bestimmt normal. Wenn es nach dem Doktor gegangen wäre, müsste ich mindestens noch eine ganze Woche im Bett bleiben. Vielleicht bin ich wirklich zu früh aufgestanden.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Bitte, geht jetzt und sucht Charlotte. Sie soll sich beeilen. Es ist doch schon eine ganze Weile her, dass Du der Küchenfrau Bescheid gesagt hast David.“
Das Mädchen bekommt von jedem der Männer einen Kuss. Der von John fällt jetzt sehr brüderlich aus und landet auf ihrer Stirn, dafür küsst der Indian seine Geliebte voller Leidenschaft. Ihm ist es egal, dass John dabei zusieht. Jetzt weiß es ja jeder, dass er das Kind liebt und dass sie beide schon bis zum Letzten gegangen sind. Außerdem werden sie hoffentlich schon bald eine richtige Familie sein.
John kann seinen Blick nicht von Carols blutiger Kleidung wenden und räuspert sich. David reißt sich von dem Mädchen los und die Männer gehen zur Tür, wobei David murmelt: „Komm Schwager, lass uns telegrafieren!“
Gerade als John die Türklinke fassen will, wird sie von außen heruntergedrückt und Mrs. Wolters kommt, völlig außer Atem, in den Raum gestürzt. „Der Doktor kommt auch gleich, ich habe ihm vorsichtshalber Bescheid gegeben!“, ruft sie und bleibt wie angewurzelt stehen. Voller Panik starrt sie auf das Schussloch in der Tür. „Was ist denn das?“
John grinst. „Meine Schwester wollte ihren Witwenstatus nicht verlieren. Aber keine Aufregung, außer dem Sachschaden ist nichts weiter passiert.“
„Oh nein, Carol, Du machst ja vielleicht Sachen!“ Weiter kommt sie nicht, denn der Doktor erscheint. Er schiebt entschlossen die Frau in den Raum, die Männer auf den Flur hinaus und dann schließt sich die Tür hinter ihm.
Den Rest dieses und auch an den folgenden Tagen dürfen David und John nicht mehr zu Carol, denn die Aufregung war einfach zu viel für die stark geschwächte, junge Frau und hat ihr ziemlich zugesetzt.
Sie hat außergewöhnlich viel Blut verloren und muss nun doch für einige Tage fest das Bett hüten. Es wird den besorgten Männern aber immer wieder versichert, dass sich das Girl auf dem Wege der Besserung befinde, dass aber dennoch jede weitere Aufregung vermieden werden muss.
Genau eine Woche nach ihrer ersten Begegnung darf Carol das Bett endlich wieder verlassen. Mrs. Wolters ist noch immer sehr besorgt um die Kleine, die sie in ihr Herz geschlossen hat, wie ein eigenes Kind, daher besucht sie das Mädchen recht früh an diesem Tag, noch bevor sie mit ihren Freunden zum Frühstücken geht.
Der Tisch der Cowboys im Frühstücksraum ist heute für drei Personen gedeckt, denn Carol ist es gründlich leid, im Bett zu essen. „Wer nie sein Brot im Bette aß, der weiß auch nicht, wie Krümel pieken“, hatte sie am Abend zuvor äußerst bestimmt gesagt, als sie darum bat, dass endlich wieder im Speiseraum für sie eingedeckt werde.
Nach einem kurzen Klopfen an Carols Zimmertür betritt Charlotte den Raum. Sie schaut sich um und stellt fest, dass es schon sehr nach Abreise aussieht. „Du meine Güte, Kind, Du musst ja schon in aller Herrgottsfrühe aufgestanden sein. Du darfst Dich auch jetzt noch nicht belasten. Ich hoffe, meinem kleinen Mädchen geht es gut und es ist alles in Ordnung.“
„Klar, Charlotte, mir geht es blendend. Ich freue mich wahnsinnig auf zuhause. Nur noch ein paar Tage und ihr seid mich wieder quitt.“ Carol strahlt und sieht schon wieder ganz gesund aus.
Charlotte betrachtet Carols Hab und Gut. Mit einer Hutschachtel ist sie erschienen und mit einem Schrankkoffer reist sie wieder ab. Das soll ihr erst mal einer nachmachen. Eine mittellose, alleinstehende Schwangere arbeitet sich in wenigen Monaten zu einer gemachten Dame hoch. Und das sogar auf ehrbare Art und Weise.
„Hm“, die Hoteliersfrau tritt an die Tür. „Alles schön und gut, Du reist ab und was machen wir hiermit?“ Die Hausherrin deutet mit ihrem spitzen Zeigefinger auf das Loch in der Tür.
„Ähem, ja, “ Carol lächelt nun etwas gequält. „Ein kleines Andenken an mich. Aber keine Sorge, ich werde in der Schreinerei Bescheid sagen, damit Du eine neue Tür bekommst. Ich werde sie auch gleich bezahlen. Ich will auch gerne für den Schaden in der Wand aufkommen. Lass es reparieren und schick mir dann die Rechnung.“
„Na toll, ich werde es mir überlegen. Aber tu mir trotzdem den Gefallen, lasse bitte bei der Witwe Gwendale keine Andenken solcher Art zurück, wenn Du sie heute oder morgen Nachmittag besuchst. Sie hat Dich mitsamt Deinem Gefolge aus Wyoming nämlich zum Kaffee eingeladen. Du sollst nur rechtzeitig Bescheid sagen, wann Du Dich so gut fühlst, dass Ihr die Einladung annehmt.“
„Auweia“, entfährt es dem rothaarigen Ding ehrlich erschrocken. „Das gibt bestimmt eine Gardinenpredigt. Die Witwe wird sicherlich stinksauer auf mich kleine Schlampe sein.“