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Statisches Rauschen füllte die Stille. Die Sekunden verstrichen wie Ewigkeiten, flossen elektrisiert knisternd durch ein imaginäres Zeitglas in Helens Kopf. Wieder und wieder, bis ein leises Knacken eine Veränderung in der Aufnahme anzeigte. Das Rauschen ebbte ab, wurde von einem lauten Schaben überlagert und verschwand schließlich unter dem Klang einer angespannten Stimme.

»Ich habe nicht viel Zeit. Vielleicht nur eine Minute. Darum hör mir zu, hör mir wirklich zu! Und tu, was ich dir sage! Du musst den Fehler finden. Ich will, dass du alles in Frage stellst. Einfach alles! Woher weißt du, was du weißt? Wer sind diese Leute, die du glaubst zu kennen? Warum sind sie in deinem Leben? Du musst sie loswerden, sie schaden dir. Fang ganz vorn an. Zweifle an Dingen, an denen du niemals zweifeln würdest. Finde die Personen, die vorgeben, dir zu helfen, aber dir in Wirklichkeit nur alles nehmen werden, wenn du nicht aufpasst. Sie sind der Schlüssel. Du bist nie allein, hörst du? Nie! Vertrau nur dir selbst, finde das Puzzleteil, das alle Fragen beantwortet. Nur du kannst herausfinden, was nicht stimmt. Bitte! Sonst stirbt Emilia. Sonst stirb– …« –st du?

Etwa drei Sekunden noch flutete das Rauschen die Aufnahme, als wolle es das Gesagte hinfortspülen. Dann brach die Aufzeichnung ab, das Telefon piepte laut und beendete die Verbindung.

Vollkommene Stille.

Helen hielt den Hörer einige Zentimeter von ihrem Ohr entfernt, blinzelte ein paar Mal und starrte gegen die rußige Wand.

Was zur Hölle …

Was war das denn für eine seltsame Nachricht? Und für wen? Wenn das Gerät nicht auf ein falsches Datum eingestellt war, hätte sie vor fünf Jahren ihren Empfänger erreichen sollen. Vor fünf Jahren! Warum hatte sie nie jemand abgehört? Und warum tauchte dieses Telefon jetzt auf? Hier, in ihrem Haus, in einem Zimmer, das gestern noch leer gewesen war. Das musste ein seltsamer Scherz sein. Oder eine Art Spiel, vielleicht für Kinder, zu Halloween? Fragen stellen, Puzzleteile, »Sonst stirbt Emilia«. Wer zum Teufel wollte da einen mittelmäßigen Film mit ihr, einem Telefon und einem detonierten Staubsauger in den Hauptrollen drehen?

Erst jetzt bemerkte Helen, dass sie den Telefonhörer immer noch in der rechten Hand hielt. Sie drückte ihn eilig auf die Haltevorrichtung. Viel mehr als die Nachricht an sich verstörte sie in diesem Moment noch immer die Frage, wie der Apparat zusammen mit dem Puppenhaus und dem Eimer in das Kinderzimmer gelangt sein konnte.

Jan war gestern vor ihr auf dem provisorischen Nachtlager im Wohnzimmer tief und fest eingeschlafen. Heute Morgen hatte er um halb sieben das Haus verlassen. Warum sollte er vor seiner Abfahrt noch unsinnige Dinge in einen unbenutzten Raum im zweiten Stock schleppen? Ihr Bedürfnis, ihren Verlobten zu erreichen, war soeben eindeutig nochmals gestiegen.

Helen versuchte es erneut mit der Nummer, die sich felsenfest in ihr Gedächtnis gebrannt hatte. Wieder wählte das Telefon eine gefühlte Ewigkeit. Und wieder ertönte schließlich die ernüchternde Tonbandaufnahme. Kein Anschluss

War es möglich, dass diese Nachricht auch ertönte, wenn der Angerufene gerade keinen Empfang hatte? Vielleicht hatte er dieses Mal ein Zimmer in einem abgelegenen Hotel?

Helen irrte sich nicht. Das war Jans Nummer. Einhundertprozentig. Sie schüttelte den Kopf und versuchte, sich selbst zu beruhigen. Es gab für all das eine logische Erklärung und nicht den geringsten Grund, in Panik auszubrechen.

»Helen! Mache Menschen haben zwei Weltkriege überlebt und weniger Aufriss darum gemacht, als du um eine unbeantwortete SMS oder eine zerbrochene Kaffeetasse«, sagte Nadja manchmal zu ihr. Und Helen wusste, dass diese eigentlich überspitzt gemeinte Aussage nicht so weit von der Realität entfernt war, wie sie sein sollte.

Nadja.

Konnte sie sie noch anrufen? Helens Blick suchte den kleinen Funkwecker, der im Wohnzimmer neben den Matratzen auf dem Fußboden stand. Ihre beste Freundin ging meist zu unmöglichen Zeiten ins Bett, da sie als Stewardess oft um vier Uhr früh das Haus verlassen musste oder Nächte durcharbeitete. Aber um achtzehn Uhr sollte ein Anruf sie eigentlich nicht aus dem Schlaf reißen.

Obwohl sie tatsächlich ein unwohles Gefühl gegenüber dem Telefon entwickelt hatte – von dem dreckigen kleinen Apparat ging für sie beinahe etwas Bedrohliches aus – blieb Helen nichts anderes übrig, als erneut den Hörer aufzunehmen und über die wackligen Tasten Nadjas Telefonnummer einzugeben.

Ich brauche dringend ein neues Ladekabel. Und ich werde es nie wieder getrennt von meinem Mobiltelefon aufbewahren, dachte sie, während der nunmehr bekannte Wählton durch die Leitung kroch. Das Klingeln, das Sekunden später ertönte, hatte etwas Erleichterndes und Beklemmendes zugleich.

Zum einen war Helen überglücklich, dass ihre Chance, sich mitzuteilen, gerade um ein vielfaches stieg, zum anderen bedeutete es, dass nicht etwa der Apparat Schuld an den fehlgeschlagenen Anrufen bei Jan war. Defekte Tasten oder einen nicht funktionierenden Anschluss bei dem Telefonanbieter konnte sie also ausschließen.

Komm schon. Geh ran. Nadja …

Es klickte in der Leitung und Nadjas Mailbox sprang an. Helen legte auf, wählte erneut und wartete. Zwei Mal wiederholte sie die Prozedur, dann gab sie den Versuch auf, ihre Freundin zu erreichen und hinterließ ihr eine Nachricht. Sie würde sie zurückrufen, sobald sie den verpassten Anruf sah. Doch allein der Gedanke an Nadja hatte sie tatsächlich ein wenig beruhigt. Sie verdankte dieser Frau, die den beinahe größtmöglich denkbaren Gegenpol zu ihr darstellte, so viel. Nadja bereicherte ihr Leben. Sie brauchte selten mehr als drei Sätze, um jede Situation nur halb so schlimm oder doppelt so großartig wirken zu lassen. Sie sprühte Funken, wenn sie lachte, rang beinahe jedem Menschen ein Lächeln ab, egal wie schlecht er gelaunt war, und konnte sich für so ziemlich alles begeistern.

Sie war ein unbeschwerter, sonniger Lebemensch. Wie Jan.

Helen seufzte.

Und fragte sich einmal mehr, was gerade diese beiden Menschen eigentlich an ihr fanden.

*

Auch zwei Stunden später kreisten Helens Gedanken immer noch um die seltsame Szene in dem zukünftigen Kinderzimmer.

Der umgestoßene Eimer. Irgendjemand war dort oben gewesen, mit einem gefüllten Wassereimer. Hatte ihn umgestoßen und sich nicht die Mühe gemacht, das verschüttete Wasser aufzuwischen. Sich selbst und auch Jan konnte sie als Verursacher ausschließen. Er liebte die alten Holzböden und würde nach einem solchen Missgeschick sofort alles tun, um die Dielen vor einem langfristigen Schaden zu bewahren.

Die einzig mögliche Erklärung war also, dass sich ein Fremder Zutritt zu ihrem Haus verschafft hatte. Jemand, der hier eingedrungen und während ihrer Anwesenheit unbemerkt bis in den zweiten Stock des alten Gebäudes hinaufgegangen war.

Der Gedanke machte Helen Angst. Was hatte der Eindringling gewollt? Hatte er gehofft, dort oben Kartons mit Wertsachen zu finden? Wollte er leichte Beute, handlich verpackt? Hineingehen, die Kiste mit dem teuersten Inhalt finden, verschwinden? Wozu dann allerdings der Eimer? Welcher Einbrecher verschwendete seine Zeit mit unsinnigen Handlungen? Zumal er dort oben keine Möglichkeit zur Flucht gehabt hätte, wenn Helen überraschend aufgetaucht wäre.

Ich sollte die Polizei rufen, dachte sie fahrig. Aber was soll ich denen erklären? Dass bei mir eingebrochen wurde. – Ob ich den Täter gesehen habe? – Nein. – Was denn fehlt? – Augenscheinlich gar nichts. – Ob Türen oder Fenster beschädigt wurden? – Nein. – Warum ich dann glaube, dass bei mir eingebrochen wurde? – Wegen des umgekippten Eimers im zweiten Stock. – Ob noch jemand in dem Haus wohnt? – Ja, mein Verlobter, dessen Telefonnummer aber leider nicht mehr existiert. Ich kann ihn nicht erreichen. Aber es gibt ihn. Ganz bestimmt!

Genau. Genau so machst du es. Wie immer wirkst du dabei kein bisschen hysterisch oder irre. Jeder würde so reagieren, wenn er einen leeren Eimer in seinem Haus findet.

Helen fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Sie musste sich zusammenreißen. Sie waren hierhergezogen, um Ruhe zu finden und gelassener zu werden. Und sie startete heute denkbar schlecht in dieses Vorhaben.

Sie würde jetzt in jeden Raum des Hauses sehen und sich vergewissern, dass er leer war. Dann die Haustür und die Terrassentür sorgfältig verschließen und diesen gottverdammten Eimer aus dem Kinderzimmer holen. Ihn mit Wasser und Putzmittel füllen und endlich die Sauerei im Flur beseitigen. Irgendwann würde dieses grässliche alte Telefon klingeln, und sie könnte Nadja erzählen, wie albern sie sich schon wieder benommen hatte. Sie würden darüber lachen, Nadja würde in ihrem Handy nach Jans richtiger Handynummer suchen, sie ihr mitteilen, und dann wäre alles in bester Ordnung. Jan konnte ihr endlich erklären, was es mit den Sachen in dem Kinderzimmer auf sich hatte, und Helen würde beruhigt und entspannt einschlafen können.

Sie schloss noch einmal die Augen, nickte, als wollte sie sich selbst einen Ruck geben, und stand schließlich auf.

In vielen Punkten sollte sie recht behalten. Sie kontrollierte alle Zimmer, verschloss die Türen und säuberte den Flur weitestgehend. Sie riss sich zusammen.

Doch das Telefon klingelte an diesem Abend nicht mehr. Sie bekam keinen Anruf von Nadja und erfuhr nicht Jans korrekte Nummer. Eine Erklärung blieb er ihr schuldig.

Und ja, Helen schlief in Kürze ein.

Doch die nächtliche Dunkelheit in dem alten Haus hielt alles andere als Entspannung für sie bereit.

Scherbenklang

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