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Eine Woche zuvor

Helen starrte bereits einige Sekunden fassungslos auf den dunkelgrauen Apparat vor ihren Füßen.

Sie konnte beim besten Willen nicht glauben, dass das wirklich passiert war. So etwas gab es nur in Filmen. Noch dazu in denen, die sie normalerweise nicht ansah, weil sie sie für witzlos, überzogen und durchgehend talentfrei besetzt hielt. Im realen Leben waren solche Dinge schlichtweg unmöglich. Erst recht an einem sonnendurchfluteten Feiertag irgendwo auf dem Land. Darum waren sie doch hierhergezogen, verdammt! Nur deshalb!

Einatmen. Ausatmen. Und wieder einatmen …

Ein Hustenkrampf schüttelte ihren zierlichen Körper und holte sie endgültig auf den Boden der Tatsachen zurück.

Wütend gab sie dem Staubsauger einen Tritt. Er schepperte ein letztes Mal, und Helen riss entnervt die Haustür auf. Sie brauchte frische Luft.

Dieses gottverdammte Scheißding! Fast hundertfünfzig Euro hatte sie dafür gezahlt. Hundertfünfzig Euro für nicht viel mehr als eine mittelschlechte Showeinlage.

Immerhin habe ich jetzt den Dreck aus allen drei Stockwerken im Hausflur kompakt vereint. Sie versuchte es zwar mit einer ironischen Sichtweise, doch das entsprach nicht ihrem Naturell. Nicht, nachdem sie drei Stunden lang Möbel geschoben, auf Leitern gestiegen und auf Knien herumgerutscht war.

Helen atmete geräuschvoll aus. Ihr neuer, hochmodern aussehender Staubsauger war tatsächlich explodiert. Ohne jede Vorwarnung. Direkt neben ihr. Es hatte einen ohrenbetäubenden Knall gegeben, einen Kurzschluss, der Funken geschlagen hatte, gefolgt von einer nachtschwarzen Wolke aus Ruß und Dreck. Die hatte Helen innerhalb einer Sekunde von oben bis unten dunkelgrau eingefärbt.

Energisch klopfte Helen vor der Haustür ihre Stoffhose ab. Wölkchen für Wölkchen verabschiedete sich der Jahrhundertstaub aus ihrer Kleidung und verzog sich schließlich unsichtbar zerstreut irgendwo in den Himmel über den blühenden Vorgärten.

Sie holte tief Luft und schloss die Augen. Die warme Sonne tat gut nach all den Stunden in den zugestellten, dunklen Räumen.

Immerhin passe ich jetzt optisch zu dem Haus, dachte Helen griesgrämig. Abgeblätterte Außenfarbe, ein Vorgarten voller knochiger, vertrockneter Büsche und Unkraut, ein staubiger, verwirrter Hausgeist auf der Treppe.

Vielleicht würde sie irgendwann mal darüber lachen können. Später. Heute Abend. Wenn sie Jan davon am Telefon erzählte. Ja, mit Sicherheit. Denn Jan würde sich so lange über sie lustig machen, bis sie sich auch nicht mehr gegen ein Lächeln wehren konnte.

So lief es immer zwischen ihnen.

Helen passierte ein Unglück, und sie ärgerte sich furchtbar darüber. Fluchte und war sich sicher, dass so etwas wieder mal nur ihr passieren konnte. Dann kam Jan, hörte sich die Geschichte an und verfiel in sein übliches Gelächter. Zog sie auf und neckte sie so lange, bis sie sich selbst nicht mehr für voll nehmen konnte.

Helen lächelte unwillkürlich in sich hinein. Jan ist einfach das Beste, was mir in meinem Leben passieren konnte.

Ob er schon im Hotel angekommen war?

Helen wischte ihre Hand noch einmal grob an ihrer Shorts ab, griff in ihre rechte Hosentasche und zog ihr Handy heraus. Eine Nachricht hatte er ihr noch nicht geschrieben, doch das musste nichts heißen. Seine Dienstreisen waren immer stressig.

Gerade hatte sie den Entschluss gefasst, es wenigstens mit einem Anruf zu versuchen, als auf ihrem Display der Hinweis »Akku schwach, noch 5% verbleibend« auftauchte.

Oh nein! Helen kniff die Augen zusammen und fuhr sich mit der freien Hand über das Gesicht. In welchen der gefühlt eintausend Umzugskartons hatte sie noch gleich das Ladegerät gesteckt? Sie stöhnte und ließ resigniert die Arme hängen. Okay, das ist aussichtlos. Sie hätte sich einfach an Jans Rat halten sollen, ein System befolgen und Kisten strukturiert einräumen müssen – hatte sie aber nicht. Mindestens die Hälfte der Kartons war unbeschriftet und wahllos auf die leer stehenden Zimmer im ersten Obergeschoss verteilt.

In Anbetracht dessen waren ihre Erfolgsaussichten vermutlich größer, wenn sie das neunzigjährige Ehepaar von gegenüber fragte, ob es zufällig ein iPhone-Ladekabel zu verleihen hätte.

Einen Moment lang verharrte Helen noch vor der Treppe. Starrte unschlüssig auf das in wenigen Minuten nutzlos werdende Smartphone in ihrer Hand und fühlte ein mulmiges Gefühl in sich aufsteigen. Die zweite Nacht im neuen Haus. Weit ab von allem, was sie kannte. Draußen, auf dem Land. Wo die Nächte deutlich dunkler waren als in der Stadt und die Geräusche ganz anders. Allein und ohne Handy. Sollte sie doch das verdammte Kabel suchen gehen? Es war erst sechzehn Uhr. Sie hatte noch einige Stunden, bis sie müde werden würde.

Ach, jetzt mach dich doch nicht lächerlich! Trotz explodierender Staubsauger ist das hier die Realität und keine Hollywoodproduktion. Was soll dir passieren, wenn du die Tür abschließt? Glaubst du ernsthaft, dass gerade euer Haus den Eindruck von unendlichen Reichtümern erweckt?

Helen zog eine Grimasse und ließ das Handy wieder in ihre Hosentasche gleiten. Sie würde die Nacht überleben. Heute hatten alle Läden schon geschlossen. Aber morgen würde sie vor der Arbeit irgendwo ein zweites Kabel kaufen. So einfach war das.

Zurück im Hausflur stellte sie sich schließlich dem Unumgänglichen: der Beseitigung eines Staub-Ruß-Gemisches, das wie wetterfeste Farbe an der Wand haftete. Helen würde mehr brauchen als einen Besen, um dieses Problem halbwegs in den Griff zu bekommen.

Eine Kiste mit Reinigungsmitteln und Lappen fand sie im ersten Stock, doch nach Eimern oder größeren Töpfen suchte sie vergebens. Fast hatte sie beschlossen, sich doch durch die Kartonberge zu wühlen, als ihr der alte Dachboden in den Sinn kam, der noch nicht ausgeräumt worden war.

Vor einigen Wochen, als sie mit Jan das erste Mal ihr zukünftiges Heim besucht hatte, hatten sie zwei Stunden dort oben verbracht und begeistert wie kleine Kinder auf Schatzsuche in den alten Boxen und Truhen gestöbert.

Zwischen willkürlich zwischengelagerten und über die Jahre vergessenen Habseligkeiten, die alte Leute gern aufbewahrten, hatten sie auch ein paar wirkliche Schmuckstücke gefunden. Einen alten Schaukelstuhl – zugedeckt mit abgenutzten Laken – hatte Jan sofort mit ins Erdgeschoss nehmen und ins Wohnzimmer stellen müssen. Er liebte alte Möbel und Gegenstände mit Charme und Geschichte und hatte es schon damals kaum erwarten können, nach ihrem Einzug Meter für Meter auf dem Dachboden zu erkunden.

Dass direkt neben der alten Holztür ein Stapel Eimer gestanden hatte, über den Helen beinahe gefallen wäre, hatte sie fast schon wieder vergessen. Jetzt konnte sie ihn gebrauchen.

Sie machte sich auf den Weg nach oben. Das wehklagende Knarren der Stufen vom ersten in den zweiten Stock zeigte, wie selten sie in den letzten Jahren benutzt worden waren. Der Weg über die steile Treppe in das zweite Obergeschoss und hinauf bis zum Dachboden war für die Vorbesitzer sicher zu beschwerlich gewesen. Lange hätten sie wahrscheinlich auch den Aufstieg in das Schlafzimmer im ersten Stock nicht mehr bewerkstelligen können.

Helen erreichte gerade den Treppenabsatz des zweiten Obergeschosses, als ihr eine verschlossene Tür ins Auge fiel. Hier im zweiten Stock hatten sie die späteren Kinderzimmer geplant und bislang noch keine Renovierungsvorkehrungen getroffen. Doch sie war sich sicher, nach ihrem gestrigen Eintreffen alle Türen und Fenster geöffnet zu haben. Die abgestandene Luft hatte ihr auf den Magen geschlagen. Mit etwas Durchzug hatte sie buchstäblich neues Licht und Leben ins Haus lassen wollen.

Hatte der Wind die Tür zugeschlagen? Überall sonst hatte sie Backsteine aus der Einfahrt auf den Boden gelegt und die Fenster durch eingeklemmte Handtücher blockiert. Bei dem lauen Sommerwind der letzten Tage waren diese Vorkehrungen normalerweise auch ausreichend.

Helen drehte sich um und ging zurück zu dem vorderen der beiden Räume. Zumindest auf der Außenseite befand sich kein Stein. Sie stützte die rechte Hand unsicher am Türrahmen ab und öffnete langsam die Tür, als erwarte sie, schnellstmöglich in Deckung gehen zu müssen. Leise schleifend schwang der Türflügel auf.

Das Zimmer war … leer.

Leer, bis auf drei Gegenstände.

Belanglos, zusammenhanglos. Vollkommen alltäglich.

Helen legte die Stirn verwundert in Falten.

Nicht einmal in ihren kühnsten Fantasien über mögliche Geschehnisse in der Dunkelheit einer ländlichen Nacht konnte sie ahnen, welche Bedeutung diese Dinge für sie bekommen sollten. Und dass sie soeben, inmitten eines wahr gewordenen Traumes vom ruhigen Eigenheim, das Tor zu ihrer ganz persönlichen Hölle aufgestoßen hatte.

Scherbenklang

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