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ОглавлениеDas wars!
Tatsächlich war Helens erster Gedanke derart simpel. Es war kein Fluchtreflex oder die Intuition, sich gegen den Eindringling zur Wehr zu setzen. Sie resignierte in dem Moment, als das Geräusch ihr Bewusstsein erreichte.
Vorbei. Aus und vorbei.
Leere, Rauschen im Kopf. Die Angst versetzte sie in einen Schockzustand, ließ sie erstarren, ewige Momente mit kaltem Angstschweiß und Herzrasen. Ewige Momente, bis Helens Verstand die Oberhand gewann und ihrem Körper erlaubte, auszuatmen. Bis sie verstand.
War das …? Wie zur Bestätigung wiederholte sich das Geräusch, nur dieses Mal wesentlich leiser.
Ein Fenster. Irgendwo war durch den Luftzug der geöffneten Tür ein Fenster zugeschlagen. Nun klapperte es leise und rhythmisch im Nachtwind, berührte hin und wieder den Rahmen; erzeugte Geräusche, die nur in der Nacht angsteinflößend klangen.
Helen schloss die Augen und zwang sich, ruhig auszuatmen. Einige Atemzüge kamen noch zitternd, aber jeder wurde sicherer. Sie war mit den Nerven eindeutig am Ende. Sie brauchte Schlaf. Jetzt sofort.
Müde legte sie ihren Geldbeutel auf dem Fußboden im Flur ab und ging die wenigen Schritte hinüber ins zukünftige Wohnzimmer. Die Szenerie war bei Nacht gespenstisch und wirkte immer noch beklemmend, als Helen die einsam und kühl schimmernde Glühlampe an der Decke einschaltete. Die beiden Matratzen, die vielen Kartons, der blutige Fleck inmitten eines unruhig aufgetürmten Deckenberges. Helen fühlte sich wie zurückgekehrt in ein Flüchtlingslager. Sie wünschte sich Jan oder Nadja an ihre Seite, checkte ein hundertstes Mal ihr Handy, starrte sekundenlang auf das nichtssagende Display und stellte den Ton auf höchste Lautstärke.
Danach entschied sie sich, die blutigen Laken am nächsten Tag zu wechseln. Sie war zu müde. Einfach zu müde. Mit einem klammen Gefühl im Magen breitete sie die Bettdecke über ihrer Seite des improvisierten Bettes aus und setzt sich auf Jans Hälfte ans Fußende der Matratze.
Die Hände vors Gesicht geschlagen erinnerte sie sich später nicht mehr daran, ob sie im Sitzen eingeschlafen oder mit letzter Kraft in eine liegende Position gekrochen war. Der Schlaf hatte sie einfach hinabgezogen in den Rest einer traumlosen Nacht.
Nicht einmal das leise Klappern des offenen Fensters im zweiten Stock bemerkte sie noch.
*
»… und darum würde ich sagen: Wer heute nicht wenigstens nach Feierabend ein paar Stunden die Sonne genießt und ein Eis essen geht – dem ist wirklich nicht zu helfen, Freunde.« Die Stimme des Moderators klang in typisch überzogen-euphorischer Art aus dem kleinen Radiowecker. »Bei fünfundzwanzig Grad und keiner einzigen Wolke am Himmel – da wollen wir dem Juni den verregneten gestrigen Abend doch gern verzeihen, oder?«
In Helens Kopf rotierte es: Nein. Es kann unmöglich schon sieben sein. Nein. Bitte nicht. Bitte, bitte nicht.
Doch der Moderator fuhr unbeirrt mit seinem Text fort, kündigte – »passend zu dem geilen Wetter, das uns heute erwartet« – den Klassiker Summer Son von Texas an und wünschte »allen Frühaufstehern da draußen einen wunderschönen Morgen«. Dann ertönte der Jingle des Senders und ein Werbeclip über das preisgünstige Reparieren von Steinschlägen in Autoscheiben.
Helen öffnete die Augen und starrte an die alte Holzdecke. Wenn sie jetzt nicht aufstand, würde sie dieses grässliche Lied mit anhören müssen. Und trotz ihrer Abneigung dagegen den ganzen Tag einen Ohrwurm davon haben.
Mühsam schälte sie sich aus den Decken und setzte sich auf die Kante der Matratze. Ihr Kopf drehte sich, das Bild der Umgebung zog noch langsam nach. Betäubungsmittel hinterließen immer eine lang anhaltende Wirkung bei ihr.
Als die ersten Takte des Liedes aus den kleinen Lautsprechern drangen, ignorierte Helen das Gefühl, ließ sich nach vorn auf die Knie fallen und erreichte mit lang ausgestrecktem Arm die Taste auf dem Radiowecker. Sie schlug etwas fester zu als nötig. Das kleine, hellgrüne Gerät kippte nach hinten um. Tot, aber still, dachte Helen grimmig und setzte sich zurück auf die Matratze. Ihre Hände fühlten sich rau auf ihrer Gesichtshaut an, als sie sich die Augen massierte.
Ob sich in den vergangenen Stunden jemand bei ihr gemeldet hatte? Helen griff nach ihrem Handy, schaltete das Display an und starrte auf eine leere Statusleiste. Leer bis auf das Symbol für eine Erinnerung, doch was es auch war – es konnte jetzt in diesem Moment nicht wichtig sein. Denn langsam, da war Helen sich sicher, ging es nicht mehr nur um ihr Wohlbefinden und den Wunsch, mit jemandem zu reden. Langsam machte sie sich ernsthaft Sorgen um die beiden Menschen, die ihr am nächsten standen. Keinem sah es ähnlich, so lange nicht auf Anrufe zu reagieren beziehungsweise nichts von sich hören zu lassen. Sie hatten jeden Tag Kontakt. Und sie wussten, dass Helen nicht aus Spaß mehrere Versuche starten würde, sondern es einen ernsten Grund für ihre Hartnäckigkeit geben musste. Und sie sich sorgen würde, wenn sie nicht erfuhr, ob ihr Verlobter sicher auf seiner Tagung angekommen war.
Jetzt, mit vollständig geladenem Handy, konnte sie Jan direkt über die eingespeicherte Nummer anrufen – doch sein Telefon war wohl noch immer abgeschaltet.
Das ist es nie, dachte Helen und das unangenehme Gefühl in ihrer Magengegend verstärkte sich. Geistesabwesend rief sie seine Kontaktdaten auf und ging die angezeigte Nummer Zahl für Zahl durch. Sie war sicher, dass sie genau diese Abfolge gestern in den alten Apparat im Flur eingegeben hatte. Doch was brachte diese Erkenntnis – vielleicht klemmte dort eine Taste. Vielleicht war sie einfach zu müde gewesen. Fakt war, dass sie Jan erreichen musste, ehe sie zur Arbeit aufbrach. Hören, dass er wohlauf war. Fühlen, dass alles gut werden würde.
Noch einmal fuhr Helen sich mit der Hand übers Gesicht und gab dann in ihrem Handy den Suchbefehl für Hotels in Frankfurt ein. Sie konnte sich nicht mehr genau an den Namen erinnern, den Jan ihr genannt hatte, doch wenn sie ihn las, würde sie ihn erkennen.
Die Liste war endlos, aber die meisten konnte Helen ausschließen. Jan hatte von einem großen, gläsernen Komplex in toller Lage gesprochen, und anhand der kleinen Bilder neben den Suchergebnissen fand sie schnell, was sie suchte.
Das Crystal, ein lang gezogener, glattgläserner Bau mit Blick auf den Main bot moderne, stilvolle Zimmer und Tagungsräume für anspruchsvolle Gäste – genau diese Art von Unterbringung war es, die Jans Chef stets favorisierte.
Helen wählte die Homepage des Hotels aus und konnte sich mit einem weiteren Druck auf das Display mit der dortigen Information verbinden lassen.
Bereits nach dem ersten Klingeln hob jemand ab. »Hotel Crystal Frankfurt, Sie sprechen mit Irina Meißner, guten Morgen. Was kann ich für Sie tun?« Die Stimme wirkte wohltemperiert und in ihrem Klang auf ein perfektes Maß an professioneller, eleganter Freundlichkeit trainiert.
»Guten Morgen. Mein Name ist Helen Rodin, und ich rufe wegen meines Verlobten an. Er übernachtet zurzeit in Ihrem Hotel, und ich kann ihn über sein Handy nicht erreichen. Könnten Sie mich vielleicht auf sein Zimmer durchstellen?«
»Selbstverständlich gern, Frau Rodin. Wie lautet der Name Ihres Verlobten?«
»Jan Berger«, antwortete Helen.
»Einen kleinen Moment bitte«, flötete die Dame am anderen Ende der Leitung, und Helen hörte ihre Finger über die Tastatur eines Computers eilen. Dann wurde es einige Sekunden still.
»Frau Rodin, leider finde ich keinen Jan Berger in unserer Gästedatenbank. Weder unter den bereits eingecheckten, noch unter Reservierungen. Sind Sie sich sicher, dass er bei uns residieren wollte?«
Helen schloss die Augen. Natürlich war sie sich nicht sicher. Nach einigen Sekunden der Stille antwortete sie schließlich: »Ich … ähm. Mir, mir muss da wohl ein Fehler unterlaufen sein. Bitte entschuldigen Sie.«
Ohne eine Reaktion abzuwarten, legte Helen auf. Ging zurück auf die Suchübersicht und begann, systematisch bei jedem Hotel anzurufen, das auch nur annähernd in Frage kommen könnte. Immer und immer wieder betete sie ihren Text herunter, hoffte kaum auf Erfolg und hatte auch keinen. Etwa zwanzig Anrufe machte sie, bis sie schließlich die Geduld verlor.
»Weißt du was? Fuck you, Jan!« Wütend warf sie das Telefon auf die Matratze und stand auf, die Beine noch leicht zittrig, der Kopf schwer und träge.
Er würde sich schon noch melden. Irgendwann, wenn dem feinen Herrn danach war. In Krankenhäusern anrufen? Nein. So weit war sie noch nicht.
Helen suchte den Kühlschrank nach etwas Essbaren ab, fand lediglich eine Packung Toast und einige Scheiben Käse und aß diese lieblos aufeinandergestapelt, während der Wasserkocher leise vor sich hin köchelte. Auf Kaffee sollte sie vermutlich in ihrem Zustand noch verzichten, sodass ein Tee die einzige Ausweichmöglichkeit blieb.
Helen duschte ausgiebig, suchte einige Kleidungsstücke aus einem der Koffer zusammen und wollte sich schließlich auf den Weg zu Arbeit machen. Und zu einem gottverdammten Elektronikladen, um mir ein zweites Handyladekabel zu besorgen, schoss es ihr gerade noch rechtzeitig durch den Kopf.
Mit eiligen Schritten ging sie noch einmal hinüber ins zukünftige Wohnzimmer, griff nach ihrem Mobiltelefon auf dem Bett und warf ein letztes Mal für mehrere Stunden einen Blick auf das Display. Nach wie vor zeigte die Statusleiste keine entgangenen Anrufe oder Nachrichten an, doch irgendetwas in ihr trieb sie dazu, die Erinnerung anzusehen, der sie vorhin keine weitere Beachtung geschenkt hatte.
Helen wählte sie aus, überflog den Einzeiler, der in der Erinnerungsapp auftauchte und spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Während sie die Zeile ein drittes und viertes Mal las, gaben die Beine unter ihr nach, und sie landete unsanft auf der vorderen Matratze. Das Handy fiel polternd zu Boden.
Helens Blick irrte unstet durch den Raum. Hinauf zur Zimmerdecke. Hinauf gen zweiten Stock.
Jemand war hier gewesen. Letzte Nacht. Vielleicht den gesamten letzten Tag. Hatte ihr Telefon an sich genommen, während sie schlief, und eine Erinnerung für sie eingespeichert. Hatte erneut auf elektronisch-anonymem Weg eine Nachricht hinterlassen. Und dieses Mal war sie für Helen bestimmt, daran bestand kein Zweifel.
Du wirst sie nie wiedersehen. Beide nicht.