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ОглавлениеLuft! Luft! Luft, Luft, Luft, Luft!
Der erste Atemzug kam wie in letzter Sekunde, und Helen fuhr keuchend in ihrem Bett nach oben. Die Dunkelheit drehte sich und hüllte sie in Angst und Kälte.
Panisch krampfte sie ihre Hände in den schweißnassen Stoff der Bettdecke und versuchte, ihre Atmung zu kontrollieren. Versuchte, in der Schwärze, die sie umgab, irgendetwas zu finden, woran ihre Augen sich festhalten konnten. Etwas, was ihr sagte, wo sie sich befand und was passiert war.
Fenster. Fahles Licht hinter großen Bäumen. Nacht überall.
Atme!
Die Stille in ihren Ohren rauschte, ging über in ein grelles Piepen und verschwand schließlich in dem Ruf einer Eule irgendwo in der Ferne vor den Fenstern. Helen blinzelte.
Sie war – zu Hause?
Keuchend und hustend tastete sie neben der Matratze nach einem Lichtschalter, fand eine Taschenlampe und schaltete sie zitternd ein. Ein kalter Lichtschein fiel in das große Wohnzimmer des alten Hauses.
Helen war zu Hause. Sie hatte geträumt. Einfach nur geträumt. Einen furchtbaren, realistischen, bizarren Traum, in dem sie sich letztendlich selbst umgebracht hatte. Mehr nicht. Reine Fiktion! Sie war allein und in Sicherheit.
Oh Gott.
Erleichterung flutete ihr Bewusstsein.
Atme! Alles ist gut. Ein Traum. Bloß ein Traum.
Mit noch immer zitternden Händen fuhr sich Helen durch die verschwitzen Haare. Sie atmete tief ein und wollte sich aufsetzen. Sich von der Decke befreien und Luft an ihren fiebrig heißen Körper lassen. Immer noch schwer atmend spannte sie die Muskeln an und richtete sich auf, als ein scharfer Schmerz in ihren Bauch jagte. Helen sackte nach Luft ringend zurück in die Kissen.
Grell und pulsierend zu Beginn, dann dumpf und betäubend intensiv. Ein Schmerz wie im Traum. Ein Schmerz wie in dem Moment, als sie starb.
Sie keuchte, schlug mit einer letzten, kräftigen Bewegung die Bettdecke beiseite und erstarrte mit weit aufgerissenen Augen.
Blut. Überall Blut. Auf dem Laken, an der Decke. Ihre kurzen Schlafshorts waren durchtränkt davon, sogar ihre Hände hatten dunkle Abdrücke dort hinterlassen, wo sie nach dem Aufwachen hingefasst hatte. Es schimmerte feucht in dem blassen Licht der Taschenlampe, versickerte langsam in den Stoffen und der Matratze. Nein. Neinneinneinneinnein!
Helen hyperventilierte, rutschte und kroch auf der Matratze rückwärts, bis sie mit dem Rücken an die Wand stieß. Das durfte nicht sein. Das durfte einfach nicht passieren. Die Schmerzen hüllten ihren Verstand ein und krampften sich wie knochige Hände in ihren Unterleib.
Bitte nicht. Bitte nicht das Baby.
*
Helens Blick suchte fiebrig nach den Zeigern des kleinen Weckers auf dem Fußboden.
Zehn Minuten.
Zehn Minuten war es her, dass sie den Notruf gewählt hatte. Zehn Minuten seit ihrem Gestammel mit tränenerstickter Stimme, von dem der Mann am anderen Ende der Leitung vermutlich nur die Hälfte verstanden hatte. Doch das war egal. Wichtig war einzig und allein, dass er ihre Adresse weitergegeben und Hilfe geschickt hatte.
Gleich würde jemand kommen. Sie aus der Dunkelheit und dem Blut holen und beruhigende Worte und leere Phrasen von sich geben. Später würde eine Frauenärztin sie untersuchen, sie ein wenig mitleidig ansehen, ihr ein Medikament verschreiben und ihr raten, es einfach weiter zu versuchen. So wie schon einmal.
Helen würde nicken, die Entlassungspapiere unterzeichnen und mit einem tauben Gefühl in Kopf und Bauch nach Hause zurückkehren – in das Wohnzimmer voller Blut.
Sie ließ den Kopf zurück in die Kissen sinken, unsicher, ob sie die Prozedur noch ein weiteres Mal allein durchstehen konnte. Schon beim letzten Mal war Jan auf Geschäftsreise gewesen. Hatte sie getröstet, als er zurückkam, doch die ersten Stunden danach, die schlimmsten, war sie mit sich und ihren Gedanken allein gewesen.
Ich werde aus dem Krankenhaus noch mal bei Nadja anrufen. Vielleicht kann sie zu mir kommen. Für den Rest der Nacht. Für morgen Abend. Irgendwann.
Das Geräusch einer altmodischen Klingel durchbrach ihre Gedanken, gefolgt von einem Klopfen an der Tür.
»Notarzt! Können Sie die Tür öffnen?«
Helen setzte sich auf und drehte sich auf die Knie. »Ich komme!«
Mühsam kämpfte sie sich auf die Füße und ging mit wackligen Schritten durch den Flur zur Tür. Jede Bewegung zog die Schwärze in ihrem Kopf weiter zu. Als sie mit letzter Kraft den Schlüssel gedreht und die Klinke heruntergedrückt hatte, konnte sie sich nur noch mit Hilfe des Türrahmens aufrecht halten.
Dann spürte sie schnelle und routinierte Griffe unter ihren Armen, hörte Stimmen und nahm wie durch dichten Nebel das Rotieren des Blaulichtes wahr. Jemand versicherte ihr, dass alles nun in Ordnung sei. Sie wurde hingelegt. Und die Dunkelheit zog ihren schweren Vorhang gänzlich zu.
*
Als Helen zwei Stunden später wieder zu sich kam, fühlte sie sich seltsam abgestumpft und körperlos. Sie kannte dieses Gefühl noch vom ersten Mal, aber vertrauter fühlte es sich deshalb längst nicht an. Es war und blieb unnatürlich, fremd.
Helen machte sich nicht die Mühe, sich aufzurichten. Eine der Schwestern, die durch den großen Raum eilten, würde in Kürze bemerken, dass sie nicht mehr schlief. Dann folgten Fragen, Kabel, Instrumente, noch mehr Fragen. Leere Floskeln, eine Unterschrift, schönes Leben noch.
Sie drehte den Kopf zur Seite und sah ihre Kleidung auf einem Stuhl neben dem Bett ordentlich zu einem Stapel gefaltet. Die blutigen Shorts fehlten, stattdessen hing eine hellgrüne OP-Hose über einer Armlehne. Sehr rücksichtsvoll.
»Frau Rodin?« Die Stimme klang sanft und freundlich. »Schön, Sie wach zu sehen.«
Helen zwang ihr Gesicht zu einem Lächeln. Die junge Schwester erwiderte es.
»Ich schicke den Doktor noch einmal kurz zu Ihnen, danach können Sie noch in Ruhe richtig wach werden und später mit dem Taxi nach Hause fahren, ja?«
»Was ist mit Nadja?«, fragte Helen müde.
»Ihren Notfallkontakt, Frau Condridcz, konnten wir unter der angegebenen Nummer leider nicht erreichen, haben ihr allerdings eine Nachricht hinterlassen. Sie wird sicher zu Ihnen kommen, sobald sie kann.«
Helen nickte leicht und schloss die Augen. Hoffentlich war Nadja in Deutschland. Und hoffentlich wartete sie bereits zu Hause auf sie, wenn sie dort ankam.
Einige Minuten später erschien ein junger Arzt an ihrem Bett, klopfte seine Taschen nach einem Stift ab und stellte sich dabei geistesabwesend vor. Er war attraktiv, wirkte aber müde und abgespannt. Sein freundlicher Tonfall klang antrainiert. »Hallo, Frau Rodin. Mein Name ist Lautenthal. Wie geht es Ihnen jetzt? Haben Sie noch Schmerzen?«
Helen schüttelte den Kopf. »Ich fühle mich nur etwas taub.«
»Das sind die Medikamente, die klingen bald ab. Keine Sorge.« Er fuhr sich mit der Hand durch seine mittellangen Locken und blätterte in der Krankenakte eine Seite um. Gerade, als er zu einer neuen Frage ansetzen wollte, konnte Helen die künstlich freundliche und aufbauende Stimmung schon nicht mehr ertragen.
»Es ist tot, oder?«, fragte sie darum gerade heraus und wartete auf eine Veränderung in der Mimik des Arztes.
Sie erfolgte prompt, doch anders als erwartet. Statt Mitleid erschien Verwunderung in den Gesichtszügen des jungen Mannes. »Wovon sprechen Sie?«, fragte er, die Stirn in Falten gelegt.
»Von meinem Baby«, antwortete Helen ungeduldig. »Dem Baby, das aus meinem Bauch geblutet ist.«
Dr. Lautenthal hob die Augenbrauen und blätterte noch eine Seite weiter zurück. Studierte sie angestrengt, wandte sich wieder dem Blatt davor zu. Schüttelte leicht den Kopf. »Frau Rodin, es tut mir leid, aber ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Sie wurden wegen starker Bauchkrämpfe mit heftiger Regelblutung und großem Blutverlust eingeliefert, von einer Schwangerschaft war allerdings nirgends die Rede.« Wie zur Bestätigung überflog er nochmals alle Blätter in der Akte und schüttelte bei jeder Seite erneut den Kopf.
Helen starrte ihn an. Vollkommen fassungslos. Was wollte ihr der Mann da erzählen? Sie sei nicht schwanger gewesen? Dass sie sich die drei positiven Tests und die seit zwei Monaten ausgebliebene Periode nur eingebildet hatte? Dass ihre Frauenärztin sich getäuscht hatte, als sie ihr den kleinen Punkt auf dem Monitor des Ultraschallgerätes gezeigt hatte? Dass all das Blut eine simple Monatsblutung gewesen war?
Sie schüttelte den Kopf. »Sie müssen sich irren. Sie haben die falsche Akte.« Helen deutete auf das Klemmbrett in seinen Händen.
Dr. Lautenthal drehte es zu ihr um und zeigte mit seinem Stift auf die Kopfzeile des ersten Blattes. »Frau Helen Rodin, geboren am 28.09.1988, wohnhaft in …«
Sie unterbrach ihn, ehe er seine Aufzählung beendet hatte. »Da muss ein Fehler vorliegen. Sie müssen sich geirrt haben. Ich bin mir ganz sicher. Ich bin – ich war schwanger!«
Der junge Arzt schien einen Moment lang unschlüssig, was er erwidern sollte, ehe er antwortete: »Wir haben einen Ultraschall durchgeführt, Frau Rodin. Ihre Gebärmutter weist keinerlei Anzeichen für eine Schwangerschaft auf. Die Blutwerte in Ihrer Akte ebenso wenig. Kein erhöhter Östrogenspiegel, keine sonstigen hormonellen Veränderungen. Ich weiß, es muss gerade in Ihrer Situation hart sein, das zu hören, aber ich werde Sie nicht anlügen.«
Helens Herzschlag überschlug sich mittlerweile. »Was heißt in meiner Situation? Ich will nicht, dass Sie lügen, ich will, dass Sie sich die richtige Akte besorgen!«
Dr. Lautenthal machte sich einen kleinen Vermerk auf einem separaten Zettel. Noch während er schrieb, antwortete er mit ruhiger Stimme: »Ich bin sicher, dass Sie diese Information schon vor langer Zeit erhalten haben, da die Feststellung schon einige Jahre zurückliegt, aber möglicherweise haben die Sedativa Ihr Erinnerungsvermögen kurzzeitig in Mitleidenschaft gezogen. Das ist nicht ungewöhnlich.« Er ließ die Miene des Kugelschreibers in den Schaft des Stiftes schnappen und sah ihr mit festem Blick in die Augen. »In ihrer Situation bedeutet, dass Sie unfruchtbar sind, Frau Rodin.«