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Die Frau an der Rezeption sah ein weiteres Mal hinauf zu der vergilbten Wanduhr. Die Stunden seit dem Anruf flossen dahin wie zähflüssiger Teer. Hatte sich die Anruferin vielleicht einen Scherz mit ihr erlaubt?

Rita Meinthal schüttelte kaum merklich den Kopf und hob abschätzig die Augenbrauen. Ihr Job war sicher auf Lebenszeit, so viel stand fest. Wahnsinnige Menschen und Gesunde, die sich für Kranke hielten und darüber ebenfalls wahnsinnig wurden, würde es wohl immer geben.

Klack. Wieder hatte sich der Zeiger einen Minutenstrich weiter nach vorne geschleppt. Einen Zentimeter näher heran an das Ende ihrer Schicht. Nur noch siebzehn weitere musste der schwarze Balken hinter sich lassen, dann konnte es Rita egal sein, ob die Anruferin sie auf den Arm genommen hatte. Dann hatte sie Urlaub. Drei himmlische Wochen würde sie mit ihrer Tochter auf den Malediven verbringen. Und sie konnte schon spüren, wie die Sonne, die Entspannung und das glasklare Meer die Hände nach ihr ausstreckten und sie ganz behutsam zu sich hinüberzogen. Hinaus aus dem Lärm und all den Abstrusitäten, die eine psychiatrische Anstalt so mit sich brachte.

Wie zur Bestätigung ihrer Gedanken hörte sie Wilhelm Sager irgendwo am Ende des Flurs seinen Standardsatz brüllen: »Hitler ist nicht tot! Hitler. Kann. Nicht. Sterben!«

Eine ihrer Kolleginnen versuchte, beruhigende Floskeln murmelnd, ihn von einer vollkommenen Eskalation abzuhalten, doch es schien bereits zu spät.

Ein anderer Patient hatte sich von dem emotionalen Ausbruch anstecken lassen. Etwas zerbarst scheppernd auf dem Boden, und jemand schrie: »Nein! Nein! Sag das Wort nicht! Nichts reimt sich darauf! Nichts reimt sich auf Hitler! Nichts! Neinneinneinneinnein!«

Rita verdrehte die Augen. Hätte man ihn doch bloß in der Geschlossenen gelassen. Sie erhob sich schwerfällig von ihrem Stuhl hinter dem Informationsschalter und versuchte, ihre Nackenverspannungen ein wenig zu lösen. Vergeblich. Mühsam lehnte sie sich über den Schreibtisch nach vorn und schob ihren Kopf durch das Schiebeglasfenster hinaus auf den Gang. Aus Verantwortungsgefühl. Aus Sensationsgier. Wer wusste das schon so genau? Fakt war, dass sie es tat und sich besser fühlte, als sie feststellte, dass ihre junge Kollegin die Lage im Griff zu haben schien.

Mit einem Seufzen ließ sie sich zurück auf den Bürostuhl fallen und sah ein weiteres Mal hinauf zu der Plastikuhr. Noch dreizehn Minuten.

Herr im Himmel. Hab Erbarmen!

Irgendetwas stimmte doch nicht mit dieser verfluchten Uhr.

Rita beschloss, schon einmal ihre Sachen zusammenzupacken. Pünktlich um zweiundzwanzig Uhr würde sie sich ausstempeln und das Gebäude verlassen. Keine Sekunde später.

Umständlich zog sie ihre Tupperdose aus dem winzigen Mitarbeiterkühlschrank, stopfte sie in ihre Handtasche, rollte mit dem Stuhl ans andere Ende der kleinen, halb verglasten Kabine und bückte sich mühsam nach ihren Alltagsschuhen, die sie in wenigen Minuten gegen ihre lästigen Plastik-Clogs eintauschen würde.

»Frau Meinthal!«

Der Ruf kam so unerwartet und schrill, dass Rita reflexartig den Kopf hochriss und mit dem Hinterkopf schmerzhaft an eine Ecke des Schreibtisches krachte. Fluchend richtete sie sich auf und sah vor dem Rezeptionshäuschen die aufgelöste Praktikantin mit weit aufgerissenen Augen stehen.

»Was?«, blaffte sie unwirsch. Noch neun Minuten!

»Der Anruf, von dem Sie mir erzählt haben … «

»Ja?«

»Ich … ich glaube, sie ist da.«

*

Rita hatte mittlerweile ein Auge für Menschen wie sie entwickelt.

Selbst, wenn es nicht kurz vor zehn Uhr abends gewesen wäre. Selbst wenn der Vorgarten der Klinik nicht menschenleer und verlassen, sondern voll von ruhiggestellten, besonnen Patienten und betont fröhlichen Besuchern gewesen wäre. Und selbst wenn die junge Frau nicht das übergroße, halb zerrissene Telefonbuch umklammert hätte, als wäre es der wertvollste Schatz der Welt – Rita hätte sie erkannt. Überall. Hätte erkannt, dass diese Frau nicht einfach nur dastand und wartete oder nachdachte. Sie hätte erkannt, dass ihr später Gast gerade in diesem Moment, genau hier, psychisch zerbrach.

Rita schluckte kurz und taxierte die junge Frau mit einem prüfenden Blick. Fast schon meinte sie, das feine Geräusch einer zersplitternden Psyche, einer platzenden Seele in ihren Ohren zu hören. Ein leises, helles Knirschen. Ein Klang ähnlich dem zweier raugebrochener Glaskanten, die sich gegenläufig aneinander verschieben.

Kristallscherbenklar.

Rita näherte sich der jungen Frau langsam, aber mit sicheren Schritten um einige Meter. Ihr Gegenüber starrte blicklos in ihre Richtung. Einzig ihre Augenlider flackerten.

Paralysiert. Passiv-verwirrt. Labil. Ungefährlich.

Rita war nur noch eine Armlänge von der Frau mit den strähnigen, schwarzen Haaren entfernt. Deren Augen lagen in tiefen Höhlen, die Wangen waren eingefallen und knochenblass.

»Willkommen, meine Liebe«, sagte Rita schließlich mit ihrer weichsten, gedämpftesten Stimme. »Wir haben Sie erwartet.«

Scherbenklang

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