Читать книгу Scherbenklang - Christine Herwig - Страница 13
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ОглавлениеDie nächtlichen Lichtpunkte flogen an der Scheibe des Taxis vorbei. Verwischten zu lang gezogenen Leuchtstreifen und zerflossen an den Rändern in dem unaufhörlichen Sommernachtsregen, der gegen die Fenster prasselte. Der Fahrer hielt es inmitten der menschenleeren Dunkelheit nicht für nötig, sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung zu halten. Er bremste selten und überfuhr in stoischer Selbstsicherheit gerade die zweite rote Ampel. Häuser, Straßen und Kreuzungen kamen und gingen wie kaum wahrnehmbare Hintergrundmusik.
Helens Kopf lehnte an der kalten Glasscheibe, während sie blicklos nach draußen starrte. Seit sie dem Fahrer ihre Adresse genannt hatte, war kein Wort mehr über ihre Lippen gekommen. Sie war so oder so nicht der Typ für Small Talk, jetzt erst recht nicht. Sie konnte keine Energie aufbringen, um ihre Müdigkeit und innere Leere zu überspielen. Also schwieg sie, lauschte dem Rauschen in ihren Ohren und klammerte die Hände fest um das Mobiltelefon in ihrem Schoß.
Nach den Angaben der Krankenschwester hatte sie es bei ihrer Abholung durch den Notarzt in den Händen gehalten und sich geweigert, es abzulegen. Dass es nutzlos, weil entladen und ausgeschaltet war, war für sie kein Argument gewesen. Sie hatte es mitnehmen und immer bei sich tragen wollen.
Im Krankenhaus konnte eine Schwester schließlich jemanden auftreiben, der das Gerät an ein passendes Ladekabel angeschlossen und somit wieder nutzbar gemacht hatte. Seitdem wartete Helen auf einen Anruf. Von Nadja, von Jan, von irgendjemandem. Jemandem, der ihr zuhörte. Jemandem, der sie beruhigen konnte.
Doch das iPhone rührte sich nicht.
Auch nach mehreren Textnachrichten an Nadja blieb es stumm und regungslos. Mit jeder Minute, die verging, schwand Helens Hoffnung, dass Nadja morgen oder gar heute Nacht zu ihr kommen würde. Die Tatsache, dass bislang jede Reaktion von ihr ausgeblieben war, ließ darauf schließen, dass sie sich auf einem Langstreckenflug und damit vermutlich nicht einmal annähernd in der Nähe Deutschlands befand.
Das Taxi hatte die Stadt mittlerweile verlassen. Sein Scheinwerferpaar war zur einzigen Lichtquelle im Umkreis von mindestens hundert Metern geworden und zerteilte die Dunkelheit auf der Landstraße zwischen den Feldern. Helen fühlte sich einsam und ausgesetzt. Hinausgeworfen aus dem Schutz der Stadt, abgeschoben in die finstere Einöde. Das Haus, das als Ort der Entspannung, der bewusst gewählten Abgrenzung und des Vergessens hatte dienen sollen, kam ihr nun wie eine Bedrohung vor. Je mehr sie sich ihm näherten, desto sehnlicher wünschte sie sich, umzukehren. Die Tür nicht aufzuschließen, nicht hindurchzugehen. Und sie schon gar nicht hinter sich zu schließen.
Helen wollte es sich anfangs nicht eingestehen, doch unterbewusst war der Gedanke präsent und drängte unaufhaltsam an die Oberfläche: Es war kein Problem, die Nacht in dem alten Haus ohne beruhigende Gesellschaft zu verbringen. Vielmehr fürchtete sie sich davor, dort nicht allein zu sein.
Minuten später hielt das Taxi vor dem Haus mit der Nummer zweiundzwanzig. Der Fahrer ließ den Motor laufen, doch Helen machte keine Anstalten, auszusteigen. Durch den Schutz der beschlagenen Scheiben musterte sie das Gebäude zu ihrer Rechten. Ernst, dunkel und drohend ragte es dort im Licht der Straßenlaterne aus den wild wachsenden Büschen im Vorgarten empor. Die schwarzen Fenster in der Fassade glichen einem Gesicht mit toten Augen.
Ein Räuspern aus dem vorderen Teil des Wagens durchschnitt ihre Gedanken. Der Fahrer bemerkte betont gleichgültig: »Zähler läuft.«
Helen blinzelte einige Male und griff dann geistesabwesend neben sich auf den Sitz. Die Sanitäter hatten offensichtlich ihren Geldbeutel im Flur entdeckt und ihn, der Versicherungskarte wegen, mitgenommen. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass er auch Bargeld enthielt.
»Dreiundzwanzig achtzig.«
Helen fummelte ungeschickt an der schwarzen Lederbörse herum, fand schließlich zwei Zehneuroscheine und einen Fünfer und reichte sie dem müden, bitter wirkenden Mann nach vorn durch. Er nickte bestätigend und sparte sich die Frage, ob Helen Hilfe beim Aussteigen benötige. Vermutlich war seine Schicht bald zu Ende, und er wollte keine Scherereien mit einer labilen Frau, die Gott weiß warum gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden war.
Helen konnte es ihm nicht verübeln.
Keine Sekunde, nachdem sie mühselig ausgestiegen war, brauste das Taxi auch schon davon. Sie hatte gerade noch die Tür zuwerfen können.
Nun stand Helen da, auf der Straße vor dem riesenhaften, alten Haus, nachts um halb vier, in vollkommener Stille. Nicht einmal mehr die gruslige Eule gab einen Laut von sich.
Wie dumm du dich schon wieder anstellst. Als würde all das Rumstehen und Starren irgendetwas verändern. Früher oder später musst du in dieses Haus gehen. Und es wird nichts passieren, verdammte Scheiße noch mal! Du wirst das Licht einschalten und alles wird so sein, wie du es verlassen hast.
Doch aller Selbstbeschwörung zum Trotz waren da diese leisen, kriechenden Gedanken. Sie wanden sich durch jeden kurzen, friedlichen Augenblick, durch jeden Versuch von Selbstberuhigung wie grässliche, kleine Parasiten.
Aber was ist mit den Dingen, die zwar unverändert sind, die du dir aber trotzdem nicht erklären kannst? Was ist mit der seltsamen Nachricht? Was mit dem Puppenhaus? Wer hat es für dich dort hingestellt, hm? Und wenn nicht für dich – für wen dann? Vielleicht bekommst du Besuch heute Nacht. Oder – er war schon da? Ist es noch? Was denkst du? Würdest du dich trauen, jetzt noch einmal dort oben nachzusehen?
Helen kniff die Augen zusammen. Zwang sich, die Gedanken auszublenden und griff wie mechanisch in die rechte Tasche der OP-Hose aus dem Krankenhaus, die sie trug. Holte ihr Handy heraus. Sah auf die Uhr. Drei Uhr vierunddreißig.
Unmöglich konnte sie um diese Uhrzeit Jan anrufen. Auch wenn es sie beunruhigte, dass er sich nach seiner Ankunft nicht gemeldet hatte. Nicht einmal eine SMS hatte er ihr gesendet. Was, wenn ihm …?
Helen gab sich selbst eine leichte Ohrfeige. Schluss jetzt! Du rufst ihn morgen früh an! Jetzt gehst du da rein, wechselst das Laken und die Bettwäsche und schläfst, bis dein Wecker dich weckt. Dann frühstückst du, rufst Jan an, gehst zur Arbeit. So und nicht anders.
Wieder einmal gab sie sich einen Ruck und ging die brüchigen Stufen hinauf zur Eingangstür. Das leichte Zittern ihrer Hände versuchte sie zu ignorieren, während sie an ihrem Schlüsselbund nach dem richtigen Schlüssel suchte. Sie fand ihn schließlich, steckte ihn in das Schloss und drehte ihn zweimal nach links.
Immerhin haben die Sanitäter das Haus ordentlich verschlossen, dachte sie gerade, als ein ohrenbetäubender Knall zwei Stockwerke über ihr Helens Herz zum Aussetzen brachte.