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Einige Jahre zuvor

Es war ein Tag Anfang August. Der Himmel hing seit dem Morgen wolkenverhangen und trist tief über der Stadt und Helen hatte Stunden damit verbracht, in einer trüben Gedankenwelt ohne Sinn herumzutreiben.

Es war die schlimmste Zeit ihrer Depression. Lähmend und erdrückend. Leer. Und kalt. Sie hatte am Tisch gesessen und mit stumpfen Augen auf die Fensterscheibe gestarrt. Nicht hindurch. Nicht auf das Leben und die Welt vor dem wasserfleckigen Glas. Auf die Scheibe. Auf die dünne, fast unsichtbare Trennlinie zwischen der Welt und ihrer eigenen Wirklichkeit.

Stunden waren verronnen wie zähflüssiger Kleber, nutzlos und träge. Sie konnte sich nicht daran erinnern, irgendetwas getan zu haben oder tun zu müssen, und fühlte sich dennoch ausgebrannt und erschöpft. Jeder Gedanke schien zu viel. Jede Anstrengung unzumutbar. Der Ausweg über den Tod immer akzeptabler und konturschärfer in einer nebligen Scheinwelt ohne bleibende Eindrücke.

Sie war sogar über den Punkt hinaus, sich selbst leidzutun oder von einer Verbesserung ihres Zustandes zu träumen. Sie war allein und leer; leblos, ohne tot zu sein.

Und zu dieser Zeit, die dem Ende kaum näher sein konnte, traten zwei Menschen beinahe zeitgleich in ihr Leben. Ein gläubiger Christ mochte sie Schutzengel nennen; den letzten Versuch Gottes, ihre sinkende Seele aus dem Sumpf zu ziehen. Helen selbst hatte keinen übersinnlichen Namen für sie. Sie hießen Nadja und Jan, und ihre Existenz in Helens Leben wirkte anfangs beinahe unglaubwürdig.

Nadja stand in der Warteschlange vor ihr. Die Apotheke war vollkommen überfüllt, und eine alte Dame am Schalter zeigte keine Bereitschaft, die einzige Angestellte aus ihrer Diskussion über Rheumasalben zu entlassen. Die Klimaanlage schien ausgefallen, und jemand hustete ununterbrochen. In der stickigen Luft hing der latente Geruch von abgestandenem Schweiß.

Helen bereute gerade, hier zu sein, um ihr neues Rezept für Antidepressiva einzulösen – wo sie doch anscheinend sowieso sinnlos waren –, als die Frau vor ihr sich plötzlich zu ihr umdrehte. »Hi. Ich bin Nadja. Ich bin neunundzwanzig und Stewardess. Und du?«

Helen sah ihr Gegenüber verwirrt an. Die dunkelhaarige Frau lächelte unbefangen und wirkte, als seien sie sich soeben auf einer Party vorgestellt worden. Als sei nichts Ungewöhnliches an einer spontanen Selbstoffenbarungsrunde in einer Apotheke.

»Ich – ähm. Ich heiße Helen. Und bin vierundzwanzig.« Warum antworte ich überhaupt?

»Hi, Helen! Entschuldige den Überfall, aber ich dachte mir – wir alle stehen hier, langweilen uns und warten, oder? Und warum nicht die Zeit überbrücken und sich mit jemandem unterhalten? Dann gehts schneller vorbei. Also, was machst du so, Helen?«

»Ich warte darauf, dass ich mein Rezept abgeben kann?« Ihre Stimme klang unsicherer, als sie es beabsichtigt hatte. Sie fühlte sich nicht unsicher. Nur nicht in der Stimmung für ein Gespräch.

»Und wenn du die Apotheke wieder verlässt – was machst du sonst noch neben diesem unterhaltsamen Hobby?«

Helen schluckte kurz. Nein. Sie war nicht in der Stimmung für ein Gespräch. Und zu energielos für Lügen. »Gerade gar nichts, um ehrlich zu sein. Ich tue seit Monaten rein gar nichts. Ich wohne allein mit den Geistern, die meine Depression mir erschaffen hat, in einer kleinen Wohnung und tue nichts. Und hier bin ich heute nur, weil meine nutzlosen Tabletten aufgebraucht sind.« Helen nickte zur Bekräftigung abschließend, zog eine leichte Grimasse und hoffte, dass Nadja nun die Lust auf ein Gespräch vergangen war.

Sie hatte den Kopf schon wieder demonstrativ abgewandt, als sie Nadjas Stimme erneut wahrnahm.

»Was ist dein Lieblingsessen?«

Helen blickte verständnislos in das offene, aber ernste Gesicht der schlanken, brünetten Frau. »Ich weiß nicht, ob du es nicht verstanden hast – aber ich habe keine Lust mich zu unterhalten. Es tut mir leid, du musst dir wohl jemand anderen suchen, wenn …«

»Ich frage nicht, um langweiligen Small Talk zu betreiben. Ich bin jetzt ein paar Tage in der Stadt. Ich koche gern und habe keine Gesellschaft für heute Abend. Und du wirkst nett. Und so, als könntest du mal wieder etwas zu essen vertragen, das nicht zu neunzig Prozent in einem Chemielabor entstanden ist.« Sie hob fragend die Augenbrauen. Nicht mitleidig oder aufgesetzt. Es wirkte einfach ganz natürlich. Einladend.

Helen blinzelte einige Male. »Ich kenne dich überhaupt nicht.«

Nadja schob sich ein Kaugummi in den Mund, das sie gerade aus ihrer Hosentasche gezogen hatte, bot Helen mit einer Geste auch eines an und erwiderte: »Puh, stell ich mir irgendwie schwierig vor, mit der Einstellung neue Leute in deinem Leben zu finden, oder? Ich meine – wen hast du so kennengelernt, den du vorher schon kanntest?«

»Was wird das hier?«, fragte Helen immer noch perplex.

»Eine Einladung zum Essen. Mehr nicht. Ich werde dich nicht vergewaltigen, töten oder vergiften, versprochen. Falls du Lust hast – hier steht meine Adresse drauf.« Sie reichte ihr eine kleine, blassblaue Visitenkarte und zwinkerte ihr zu. »Und falls nicht, beziehungsweise falls du bis um acht nicht aufgetaucht bist, werde ich mir einfach einen netten Kerl in einer Bar aussuchen, der nackt mein Sofa schmückt. Also, was ist dein Lieblingsessen?«

»Du bist dran!«, bemerkte Helen und zeigte an Nadja vorbei auf den frei gewordenen Schalter.

Nadja lächelte, wandte sich um und legte der Apothekerin ihr Rezept vor. Während diese in den Schubladen nach dem Präparat suchte, sagte Nadja noch über ihre Schulter hinweg: »Wenn du mir dein Lieblingsessen nicht verraten willst, gibt es heute Abend Pute und Pfifferlinge in Weißwein-Sahne-Soße. Du bist kein trockener Alkoholiker, oder?«

»Nein, aber …«

»Vegetarier?«

»Auch nicht, aber …«

»Gut. Denk dran. Acht Uhr. Sonst ist der Platz an meiner Seite für heute vergeben.« Sie legte das abgezählte Kleingeld auf den Tresen, griff sich die kleine Plastiktüte und glitt mit einem letzten Lächeln an Helen vorbei und hinaus auf die Straße. Innerhalb von Sekunden war sie zwischen den Menschen vor den Fenstern verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.

Helen schüttelte gedankenverloren den Kopf über diese Begegnung. Eine Wildfremde hatte sie gerade zum Essen nach Hause eingeladen. Sie, die letzte Person, die irgendwie nach annähernd amüsanter Gesellschaft aussah. Sie, die in zerschlissenen Jeans, mit ungewaschenen Haaren, tiefen Augenringen und Depressionen durch Zufall in der Apotheke hinter ihr gestanden hatte.

Ich glaube, es sollte mir zu denken geben, dass ich tatsächlich kurz in Erwägung gezogen habe, hinzugehen, kam es ihr gerade in den Sinn, als der Mann hinter ihr sie offenbar zum wiederholten Male ansprach.

»Hallooohooo? Sie sind dran! Wären Sie so nett …«

Helen fühlte sich wie aus einem Sekundenschlaf gerissen und blinzelte einige Male. Eine Entschuldigung in Richtung des Mannes stammelnd, der verständnislos den Kopf schüttelte, machte sie einen eiligen Schritt vor zum Tresen.

In Gedanken war sie allerdings viel zu sehr mit Nadja beschäftigt, als dass sie hätte bemerken können, wie seltsam sich die Apothekerin verhielt. Wie ängstlich ihr Blick war, als sie schließlich mit den Tabletten zurückkehrte. Wie verschreckt sie über Helens Schulter hinweg den Mann ansah, der sie gebeten hatte, endlich zur Theke vorzutreten.

Die junge Frau ahnte es vielleicht. Ahnte, dass eine Person, die mit ihr in diesem Raum war, irgendwann Helens Schicksal in seine Hände nehmen würde. In einigen Jahren erst. Doch dann beinahe unwiderruflich.

Vielleicht ahnte es jeder in diesem Moment. Jeder außer Helen. Und niemand brachte den Mut auf, es ihr zu sagen.

*

Jan lernte sie auf ähnlich zufällige Art und Weise kennen. Sie trafen sich keine zwei Wochen später in der U-Bahn, als Helen auf dem Weg in die Stadt war. Die Bahn blieb irgendwo zwischen zwei Stationen stecken, ein Ausstieg war nicht möglich.

So saßen sie da, Helen, Jan und eine Handvoll anderer Menschen, die an einem Donnerstag um elf Uhr vormittags nicht arbeiteten, schliefen, sich um ihre Familie kümmerten oder ihren Hobbys nachgingen.

Eine ältere Frau hatte sich anfangs aufgeregt, ein Mann um die dreißig war beinahe hysterisch geworden. Doch als allen nach ungefähr fünfundvierzig Minuten klar wurde, dass die Ausweglosigkeit immerhin gefahrlos zu sein schien, entspannte sich die Stimmung ein wenig.

Helen saß allein in einem Vierersitz und versuchte, sich auf ein Buch zu konzentrieren. Dinge, die ihren Kopf fesselten und von den üblichen, schwarzen Gedanken ablenken wollten, strengten sie immer noch sehr an, doch sie gelangen ihr immer besser.

Dementsprechend war sie anfangs nicht wirklich begeistert, als der blonde Mann im Anzug sich nach etwa einer Stunde zu ihr herübersetzte und ein Gespräch beginnen wollte. Er gefiel ihr zwar, hatte eine direkte, klare und warme Ausstrahlung, doch irgendetwas an ihm wirkte seltsam. Seine Art? Seine Offenheit? Beinahe ähnelte er Nadja ein wenig. Kam er ihr deshalb kurz bekannt vor?

Er lächelte freundlich und reichte Helen die Hand. »Hi, ich bin Jan. Eigentlich auf dem Weg zum Zahnarzt, aber so im direkten Vergleich ist es hier auch irgendwie ganz nett.« Sein Händedruck war bestimmend und fest, sodass Helen sich automatisch ein klein wenig unterlegen fühlte. Oder war es vielmehr sein Anzug, der in ihr das Gefühl weckte, ohne Vorbereitung in ein Bewerbungsgespräch hineingeraten zu sein?

Noch ehe sie wirklich realisiert hatte, dass nun sie an der Reihe wäre, etwas zu erwidern, gab er ihr die nächste Chance. »Und wohin wolltest du ursprünglich mal eben schnell mit der U-Bahn fahren?«

Sie zögerte eine Sekunde. Mal wieder zur Apotheke, Antidepressiva holen. Klang irgendwie nicht sehr sexy. »Einkaufen, schätze ich.« Schätzt du. Wow. Alzheimer ist auch nicht wirklich attraktiv, weißt du, Helen?

»Okay. Darf ich denn erfahren, wie du heißt, oder muss ich raten?«

Helen blinzelte verunsichert. »Nein, ich …«

»Warte. Ich wills versuchen« Er sah sie einen Moment lang eindringlich an. »Caroline? Nein? Mmh. Kristin? Auch nicht? Anna?« Er zog eine fragende Grimasse. »Okay, gib mir einen Tipp.«

»Troja gesehen?«

»Oh, sogar als Originaltext gelesen. Altsprachliches Gymnasium.«

»Na dann ists ja nicht mehr schwer, so viele weibliche Figuren hatte die Geschichte ja nicht, soweit ich weiß« Erstmals gelang auch Helen ein vorsichtiges Lächeln.

»Helena also?«

»Fast.«

»Helen?«

Sie nickte und hob den Daumen der linken Hand zur Bestätigung. »Korrekt.«

»Passt. Viel besser, als alles, was ich mir jetzt hätte ausdenken können.« Er lächelte erneut. Ehrlich und mit dem gesamten Gesicht, sodass sich feine Fältchen um seine blaugrauen Augen abzeichneten.

Kurz bevor das Schweigen unangenehm werden konnte, rettete Jan das Gespräch erneut vor dem Ersterben. »Und was liest die wiedergeborene Schönheit der Antike da gerade?«

Helen reichte ihm das Buch, das sie unbewusst bereits zugeschlagen hatte. Es war eines der ersten Werke von Edgar Wallace, den sie schon als Kind am liebsten heimlich vor dem Schlafengehen gelesen hatte. Es stammte noch von ihrer Mutter, der Einband war abgegriffen und an den Ecken bereits sehr lädiert.

»Okay, du magst alte Dinge und gute Krimis? Das sind definitiv zwei Themen, über die ich mich noch bis morgen Mittag um zwölf unterhalten kann, wenn sie uns hier länger stehen lassen.«

Wieder musste Helen lächeln und antwortete: »Oh, ich auch. Aber ich weiß ja nicht, ob du ausreichend Proviant dabeihast. Soll ja Leute geben, die irgendwann ungehalten werden, wenn sie mehrere Mahlzeiten auslassen müssen.«

Jan tat so, als würde er seinen nicht vorhandenen Aktenkoffer durchforsten. »Alsooo … Nein. Aber ich habe, glaube ich, noch fünf Euro im Portemonnaie. Meinst du, die Ratten hier unten sind mittlerweile so zivilisiert, dass sie sich mit Geld bestechen lassen? Vielleicht teilen sie dann ihr Mittagessen mit uns. Du glaubst ja nicht, was manche Menschen im Klo runterspülen. Das kann man manchmal wirklich fast noch essen.«

Dieses Mal musste Helen sogar laut lachen. Diese Art von Humor, die auch vor manchen Ekelgrenzen nicht Halt machte, erinnerte sie sehr an einen Freund aus Kindertagen. »Fünf Euro müssen hier unten ein Vermögen wert sein. Ich würde auch mein Buch drauflegen. Zur Not. Ich weiß ja nicht, wie gut deren Bibliothek ausgestattet ist oder ob sie so etwas wie einen Markt für Sammlerstücke haben, aber diese Ausgabe ist schon fast vierzig Jahre alt.«

Jan lehnte sich zurück, schürzte die Lippen, nickte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir sind ausgerüstet. Uns kann nichts mehr passieren.«

»Ist das da ein Kugelschreiber in deiner Jacketttasche?«

»Ja. Ja, oh mein Gott! Wie konnte ich den vergessen? Vielleicht geht der hier unten als Waffe durch. Waffen sind ein hervorragendes Tauschmittel in schlechten Zeiten.«

Beide mussten lachen und spürten im selben Moment, dass das Eis gebrochen war. Die nächsten zwei Stunden dachten sie sich irrwitzige Geschichten über eine kultivierte Rattenkolonie unter den Häusern der Stadt aus und philosophierten über eine tiefer liegende Bedeutung von Der Hexer, dem einzigen Wallace-Buch, das Jan kannte.

Helen konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so viel Spaß mit einem anderen Menschen gehabt hatte. Es war zeitweise, als ergäbe ein Wort das andere, als würden ihre Ideen aus ein und demselben Kopf stammen.

Als die U-Bahn schließlich nach insgesamt zwei Stunden Aufenthalt in dem dunklen Schacht ruckelnd ihre Fahrt fortsetzte, war Helen beinahe enttäuscht. Sie wollte es sich ungern eingestehen, aber sie hätte noch ewig mit Jan in hier sitzen können. Dem Hunger und jedem anderen körperlichen Bedürfnis zum Trotz.

Ihrem Gegenüber schien es ähnlich zu gehen. Jan warf einen nachdenklichen Blick auf die Uhr und sagte: »Du glaubst gar nicht, wie gern ich dich jetzt noch zu einem Mittagessen einladen würde, das niemand im Klo runtergespült hat. Aber die Arbeit ruft. Ich habe noch unglaublich viel zu tun heute. An der nächsten Station steige ich um und fahre zurück zum Hauptmarkt – den Zahnarzttermin muss ich, wohl oder übel, verschieben. Aber ich würde die Einladung gern nachholen. Gibst du mir deine Nummer? Ich melde mich heute noch, versprochen!«

Helen griff sich kurzerhand und ungewohnt selbstbewusst den Kugelschreiber aus Jans Jackett, riss die erste Seite aus »Die seltsame Gräfin« heraus und kritzelte schnell ihre Handynummer ans untere Ende des vergilbten Blattes.

Er nahm den Zettel lächelnd entgegen, stand dann eilig auf und sagte zum Abschied: »Hoffentlich entfällt mir dein Name bis draußen nicht. Ich bin echt vergesslich. Und ich bin nicht sicher, warum ich jemals einen Kontakt mit dem Namen »Die seltsame Gräfin« anrufen sollte.«

Zwinkernd drückte er den Türöffner und verschwand eine Sekunde später im mittäglichen Gedränge der U-Bahn-Station. Helen versuchte, ihn ein letztes Mal zu erspähen, doch er war bereits auf und davon.

Vollkommen in Gedanken versunken bemerkte sie erst fünf Stationen später, dass sie ebenfalls längst hätte aussteigen müssen. Doch das erste Mal seit langer Zeit ließ so ein Vorfall sie weder wütend oder resigniert werden. Es war ihr schlichtweg egal. Zumal ihr Handy gerade den Eingang einer Chatnachricht vermerkte. Und das Bild einer bebrillten Ratte auf einem alten Buch sie ein weiteres Mal an diesem Tag kurz, aber ehrlich lächeln ließ.

Scherbenklang

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