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Die Glasscheibe in dem alten Sprossenfenster vibrierte leise klappernd im Wind. Das monotone, aufdringlich flatternde Geräusch untermalte die Szenerie auf unpassende und bestärkende Art und Weise zugleich.

Ein abgenutzter Messingeimer.

Ein altertümliches Puppenhaus.

Ein Telefon. Abgegriffen und sicherlich seit Jahren unbenutzt.

Wie konnte das sein? Helen schüttelte irritiert den Kopf und suchte nach einer Erklärung. Wie kamen diese Dinge hierher? Sämtliche Wohnräume waren vor ihrem Einzug ausgeräumt worden. Niemand außer ihnen beiden hatte einen Schlüssel und konnte in den letzten Tagen in dieses Haus gekommen sein.

Hatte Jan die drei Gegenstände hier hineingetragen und die Tür geschlossen? Aber warum? Das macht doch keinen Sinn.

Mitten im Zimmer, keine zwei Meter von Helen entfernt, lag der Messingeimer umgestoßen auf dem Fußboden. Vor ihm hatte sich eine Lache aus klarer Flüssigkeit ausgebreitet. Sie war bereits größtenteils im abgenutzten Holzfußboden versickert und nur noch als dunkler Schatten zu erkennen. Es mussten einige Stunden vergangen sein, seit sie sich hier über die Dielen ergossen hatte.

Das Puppenhaus stand in der hinteren rechten Ecke des Raumes, verstaubt und altertümlich, aber in anscheinend gutem Zustand. Es war mit der Außenseite dem Raum zugewandt. Erst auf den zweiten Blick erahnte Helen, warum sein Anblick so bizarr und vertraut zugleich wirkte.

Sie näherte sich dem kleinen Bauwerk und ging langsam davor in die Hocke. Mit den Fingern strich sie vorsichtig an der Fassade entlang und zeichnete dabei zwei feine Linien in die alte Staubschicht.

Es gab keinen Zweifel. Das Häuschen war eine perfekte Nachbildung des Gebäudes, in dem sie sich gerade befand. Eine Miniaturausgabe dessen, was dieses Haus in seinen besten Tagen einmal gewesen sein musste. Dunkelbraune Dachschindeln auf einem weiß getünchten Bau, der insgesamt drei Stockwerke und einen Dachboden umfasste. Grüne Fensterläden vor den gemütlichen Sprossenfenstern. Die Balken, die den kleinen Giebel vor der Haustür stützten und ein Vorgarten, liebevoll mit den unterschiedlichsten Blumen begrünt.

Helen schluckte und wollte das Puppenhaus gerade drehen, um einen Blick in die nachgestellte Wohnsituation im Inneren zu werfen, als sie im Augenwinkel etwas wahrnahm. Eine Bewegung? Sie wandte den Kopf nach links, wo sie ein leichtes Blinken zu sehen geglaubt hatte, konnte allerdings nichts erkennen.

Sah sie jetzt schon Gespenster?

Gerade wollte sie sich erneut dem Puppenhaus zuwenden, als sie es wieder bemerkte. Irgendwo auf dem Fußboden … Eine Spiegelung? Da! Da war es!

Das Telefon! Eine kleine Signalleuchte an der Seite des veralteten Apparates leuchtete in regelmäßigen Abständen rot auf. Der kleine graue Kasten, bei dem Hörer und Station noch durch ein spiralförmig gewundenes Kabel miteinander verbunden wurden, stand in etwa einem halben Meter Entfernung auf dem Dielenboden. Helen schätzte, dass er ungefähr zehn oder fünfzehn Jahre alt sein musste. Unwillkürlich dachte Helen an ihr unbrauchbares Mobiltelefon. Sie griff in ihre Hosentasche. Der Akku war mittlerweile vollkommen leer, das Handy hatte sich ausgeschaltet.

Eins zu null für das letzte Jahrzehnt.

Aber immerhin – das Schicksal wollte ihr offenbar eine Kommunikationsmöglichkeit zuspielen, auch wenn deren Herkunft ihr immer noch Rätsel aufgab. Jan und sie hatten irgendwann beschlossen, dass ihre Handys vollkommen ausreichten, und ihren Festnetzanschluss gekündigt.

Als Helen nun genauer hinsah, entdeckte sie, dass der Apparat sowohl mit einem Kabel für den Stromanschluss als auch mit jenem für die Telefonbuchse verbunden war. Wenn sie sich nicht irrte, gab es im Flur, unmittelbar in der Nähe ihres kleinen Katastrophenschauplatzes, eine Möglichkeit, ein Telefon anzuschließen. Sie war zwar nicht sicher, ob es funktionierte, aber auf einen Versuch wollte sie es ankommen lassen.

Hatten sie für dieses Haus überhaupt einen Festnetzanschluss beantragt?

Das wirst du dann schon sehen.

Nun war ihr Bedürfnis, Jan anzurufen, noch größer geworden. Mit Sicherheit gab es eine logische Erklärung für das Puppenhaus, das Telefon und den Eimer, aber Helen brauchte Gewissheit. Sie brauchte Antworten.

Entschlossen hob sie das Telefon auf, wickelte sich die Kabel ums Handgelenk und verließ das Zimmer.

Gut, dass ich seine Handynummer mittlerweile auswendig weiß, dachte sie auf dem Weg nach unten.

Im Erdgeschoss angekommen, befreite sie mit einem Taschentuch notdürftig die Telefonbuchse von dem Dreck der Staubsaugerexplosion und schloss das Gerät an.

Zu ihrer eigenen Überraschung ertönte ein Freizeichen in der Leitung.

Helen tippte die Nummer ein und wartete. Ein leises Rattern ertönte, Zahl für Zahl.

Dann gelangte der Mechanismus ans Ende der Nummer. Ein weiteres Geräusch, das Helen seit langer Zeit nicht gehört hatte, drang aus der Leitung. Drei Töne, gefolgt von einer automatischen Ansage. »Kein Anschluss unter dieser Nummer.«

Helen legte verwundert auf und gab die Nummer erneut ein – dieselbe Ansage.

Helen schüttelte den Kopf. Tippte nochmals die Zahlenfolge ein, die sie in- und auswendig zu kennen glaubte. Und wartete.

Kein Anschluss unter dieser Nummer.

Helen drückte die Tasten fester, vermutete, dass eine von ihnen klemmen könnte.

Kein Anschluss unter dieser Nummer.

Ein letztes Mal!

Kein Anschluss –

Wütend holte Helen aus und schleuderte den Hörer gegen die gegenüberliegende Wand.

Wie war das möglich? Machte das Schicksal heute einen Rundumschlag bei ihr? Und warum zur Hölle konnte sie mit solchen Ereignissen nicht souverän umgehen?

Andere Menschen auf der Welt würden über derartige Lappalien lachen. Warum konnte sie das nicht? Warum musste alles bei ihr immer zu einer Tragödie heranwachsen?

Frustriert starrte Helen auf das Telefon, dann hob sie den Hörer vom Fußboden auf und hängte ihn behutsam wieder in die Vorrichtung ein. Das leise Tuten, das aus der Hörmuschel geklungen war, erstarb und hinterließ absolute Stille im Hausflur.

Das alte Gebäude schien die Luft anzuhalten.

Oder – ist es tot?

Was hatte sie eigentlich auf das Telefon aufmerksam werden lassen? Das monotone rote Blinklicht bahnte sich erneut den Weg in ihre Wahrnehmung.

Sie blinzelte, einmal, zweimal, und betrachtete die Signalleuchte dann genauer. Das Telefon verfügte noch nicht über ein digitales Display, doch Helen erkannte die abgegriffenen Symbole unter den einzelnen Tasten und Leuchtpunkten.

Aus dem Zusammenhang gerissen, auf einer Tafel mit der Überschrift »Wofür steht dieses Piktogramm?« abgebildet, hätte sie das Zeichen wohl nicht zuordnen können. Doch hier, inmitten des alten Hauses, allein mit einem störrischen Kommunikationsapparat aus dem letzten Jahrtausend, wusste Helen binnen Sekunden, was das Symbol zu bedeuten hatte: Das vermutlich seit langer Zeit unbenutzte Telefon hatte eine Mitteilung auf seinem internen Anrufbeantworter. Der Ansage zufolge, die Helen wenige Sekunden später hörte, wartete diese Nachricht dort bereits seit fünf Jahren darauf, abgespielt zu werden.

Scherbenklang

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