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RAUE NÄCHTE, LICHTE TAGE

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Viel ist die Rede vom Stillstand. Wir sind es nicht mehr gewohnt, innezuhalten. Und doch ist dieses Innehalten, der – wohlgemerkt, freiwillige – Stillstand, ebenso wichtig wie die Betriebsamkeit. Wir laufen im Hamsterrad der Erwerbstätigkeit. Und müssen immer wieder feststellen: Freiheit ist keine Selbstverständlichkeit. Wir fühlen uns eingeengt, isoliert. Wie oft hört man den Stehsatz: »Ich krieg die Krise!«

Die Bauernhöfe anno dazumal waren oftmals Einschichthöfe. In strengen Wintern, wenn diese Höfe eingeschneit waren, befanden sich die Bauernfamilie und ihr Gesinde in einem ähnlichen Zustand. Nämlich einer mehr oder weniger unfreiwilligen, naturgegebenen Isolation. Krise schafft Gemeinschaft. Bauern und Bedienstete verband spätestens mit dem Aufkommen der Industrialisierung das gemeinsame Schicksal der Krisenbewältigung. In der »staden Zeit« rückte man zusammen und sprach sich in unsicheren Phasen Mut zu. Wir leben in einer unbeschwerten Zeit. Müßiggang scheint die Mühsal verdrängt zu haben. Was einst hart erkämpft werden musste – von Arbeit freie Zeit – ist heute Normalität. Doch diese Normalität ist ein Privileg. Auf einem Bauernhof fiel die arbeitslose Zeit in die Zeit der Raunächte. Draußen stand die Natur still, drinnen erholte man sich vom Arbeitsjahr.

Doch woher kommt dieser Begriff? »Rau« steht für das Räuchern, das Reinigen der Atmosphäre. Tagsüber wurde zum Schutz vor Unheil geräuchert. Abends schaute man durch den Rauch in die Zukunft. Das Raue meint aber auch das Haarige: »rûch« im Mittelhochdeutschen. Also die mit Fell bekleideten Gesellen der Wilden Jagd, die Perchten. Die Nacht wiederum steht für die Jahresnacht. Dem keltischen Jahreskreis nach befinden wir uns zwischen Wintersonnenwende und Dreikönig in der dunklen Zeit des Jahres. Daher wird sinnbildlich der ganze Tag als »Nacht« bezeichnet. So dauert die erste Raunacht exakt von der Mitternacht des 24. bis zur Mitternacht des 25. Dezember an.

Der Volksmund kennt zwei Varianten von Raunächten. Eine, die sich in Fasten- und Feierzeit einteilen lässt, und jene bekanntere, auf die ich gleich zu sprechen kommen werde. »Raunåcht san vier, zwoa foast und zwoa dürr«, heißt es in einem alten Bauernspruch. Diese Vierer-Variante umfasst den Thomastag, Heiligabend, Silvester und die Nacht vor Dreikönig. An Heiligabend und Silvester wurde gefastet, am »Thomerl«, dem Schlachttag, und am Ende der Raunächte, vor Erscheinen der Heiligen Drei Könige, gevöllert. Man schlug sich also die Bäuche voll und nannte diese Feiertage die »Foasten«.

Die hierzulande wesentlich bekanntere Raunachtregel folgt der kirchlichen Interpretation der zwölf heiligen Nächte. Dem Volksglauben nach konnten in dieser Zeit die Zukunft, aber auch, ganz praktisch, die Witterung des folgenden Jahres gedeutet werden. Und zwar an ganz bestimmten Tagen, den Lostagen. An diesen legte das Los die Witterung für längere Zeit fest. Eine Lotterie der Volkswetterkunde. Der 21. und 24. Dezember sind solche Lostage. Und der 1. und 6. Jänner. Sie standen und stehen im Gegensatz zu den »Schwendtagen«, jenen Tagen, an denen nichts Neues begonnen werden durfte. Innerhalb der Raunachtzeit gelten der 2. und der 4. Jänner als solche »verworfenen Tage«. An ihnen darf weder gepflanzt noch geerntet werden. Wer es doch wider jede Vernunft versucht, dem dräut Unglück.

Die Kirche hat sich mit der Einführung der heiligen Nächte ein wissenschaftliches Phänomen zunutze gemacht. Unterscheidet die Astrologie doch zwischen Mond- und Sonnenkalender. Mondphasen dauern nur 28 Tage im Monat. Der Sonnenlauf folgt jedoch abwechselnd 30 beziehungsweise 31 Tagen. Am Jahresende klafft zwischen Mond und Sonne ein Loch der Finsternis. Es sind exakt jene zwölf 24-Stunden-Einheiten, die als »Zwölften« Teil des Aberglaubens geworden sind. In ihnen ist jede Ordnung aufgehoben. Sie sind frei gestaltbarer Raum. Die einzige Ordnungsmacht in dieser Zeit ist die Percht. Sie sorgt dafür, dass unser Zuhause, also unser Leben, aufgeräumt ist.

Die Nächte zwischen der Zeit führen uns Gegensätze vor Augen. In ihnen bedingen sich Vergangenheit und Zukunft, Licht und Dunkel. Die Natur ruht. Und auch wir tun gut daran, alle Viere von uns zu strecken. Ich finde, wenn wir mit der Natur im Einklang sind, schöpfen wir aus dieser freiwilligen Auszeit Kraft. Wir können in diesem Freiraum ganz zu uns selbst kommen. Er ist für uns wie eine Schutzhütte, in der wir nach anstrengender Wanderung einkehren. Mag es draußen stürmen und toben, innen – umhüllt von der wohligen Wärme des Kachelofens, das Knacken der Holzscheite im Ohr – umfängt uns Ruhe und Gelassenheit. Die Zeit der Raunächte ist also eine der inneren Einkehr. Eine Zeit, um sich gegenseitig Geschichten zu erzählen.

Und eine Zeit der Rituale. Rituale sind Ausdruck unserer Sehnsucht nach Einfachheit, nach Natürlichkeit, nach dem Althergebrachten. Unsere Welt ist hektisch, laut und betriebsam, gerade im Advent. Eine Zeit, die nur mehr in Liedern als »stad« besungen wird. Gerade aber in Krisenzeiten ist der Wunsch nach Ruhe und Rückzug übergroß. Ich selbst habe mich immer wieder nach dem tieferen Sinn meines Lebens gefragt. Die Zeit der Raunächte gibt uns die Möglichkeit, ohne Zwang unser Leben zu hinterfragen. Und aus diesen Fragen die Antworten für das kommende Jahr zu ziehen.

Schon lange haben wir unbemerkt unseren sicheren Halt verloren. Wir wissen plötzlich nicht mehr, was richtig und was falsch ist. Der Glaube als Sicherheit schenkende Instanz ist uns bereits länger verloren gegangen. Die Amtskirche ist nicht mehr der Ort, der Schutz gibt. Die Mystik, das Übersinnliche hingegen gibt uns Hoffnung. Die Realität ist gnadenlos, der Druck des Alltags gerade in der heutigen Zeit unmenschlich. Wir suchen eine Welt, die Lösungen bietet. Und finden sie im Märchen, in der Sage, im Ritual. Verloren in der unbarmherzigen Wirklichkeit, leuchtet uns barmherzig – die Mystik.

Die geschenkte Zeit zwischen Mond- und Sonnenkalender bietet die Gelegenheit, uns vom Wirrwarr des Alltags zu befreien. Ich selbst habe bereits vor einigen Jahren damit begonnen, ein Tagebuch zu führen. Es ist ein überschaubares Projekt, eines mit klarer Struktur und einem Ablaufdatum: zwölf Tage, zwölf Seiten. Jahr für Jahr. Dabei folge ich einem immer wiederkehrenden Ritual. In der blauen Stunde setze ich mich an den Schreibtisch, zünde eine Kerze an, sammle mich im Flackern des Kerzenlichtes und schreibe nieder, was mich untertags bewegt hat. Sie müssen kein Schriftsteller sein, um meinem Beispiel zu folgen. Alles, was Sie brauchen, sind ein Blatt Papier, ein Bleistift und einige Minuten Zeit. In den zwölf Kapiteln des Buches schaffe ich Platz für Ihre Gedanken, gebe Ihnen also im übertragenen Sinn das Blatt Papier in die Hand. Sie müssen sich am Ende der Lektüre nur mehr die Zeit nehmen, um den Bleistift zu spitzen. Der Rest ergibt sich wie von selbst.

Ein Bleistift ist ein ebenso sinnliches wie Sinn stiftendes Werkzeug. Was immer ich mit ihm zu Papier bringe, mit dem Radiergummi kann ich es ausradieren. Ich kann also, ohne Spuren zu hinterlassen, korrigierend in das Geschehen eingreifen. Wie oft wünschen wir uns, Geschehenes ungeschehen zu machen, korrigierend in unsere Gedankenwelt einzugreifen. Die Raunächte sind so eine Zeit der Korrektur. Sie stehen am Ende des alten und am Anfang des neuen Jahres. Mit dem Räuchern haben wir die Möglichkeit, negative Gedanken loszulassen. Gleichzeitig dienen die Räuchergänge dem Schutz und der Abwehr von Krankheiten. Ob mit Weihrauch oder geweihten Kräutern, die schädlichen Einflüsse unserer Umwelt lassen sich mit diesem simplen Ritual »ausradieren«.

Oder, um ein aktuelles Beispiel zu verwenden: Wenn wir schon permanent zum Desinfektionsmittel greifen, dann gibt es kein besseres als den Wacholder. Wer mit ihm räuchert, der reinigt Haus, Hof und seine Gedanken.

Nächte zwischen der Zeit

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