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Auf durch Amerika – ohne Auto

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Etappe: Von Halifax NS, Canada 45° Nord 64° West (GMT -3) nach Bar Harbour ME, USA 44° Nord 68° West (GMT -4): 1.188 km – Total 14.270 km

Bar Harbour, 3. Oktober 2002

Nachdem ich die Provinz Neufundland verlassen hatte, kam ich nach Nova Scotia, eine der vier Provinzen, die 1867 durch die britische Regierung zur »Dominion of Canada« zusammengeführt wurden. Doch bis zur Gründung Kanadas war diese Region nicht immer britische Kolonie. Der erste Europäer, der den St.-Lorenz-Golf entlangfuhr, war 1534 der Franzose Jacques Cartier. Das Land, das er fand, erklärte er zu französischem Territorium. Die eigentlichen Bewohner, zahlreiche Indianerstämme, wurden nicht gefragt. Cartier gab der neuen Kolonie den Namen »Kanata«. Dieses Wort bedeutet in einer der zahlreichen Indianersprachen nichts anderes als Dorf. Später wurde aus diesem Wort der Name »Canada«, der seither für das ganze Land steht. 1663 wurde Kanada offiziell französische Provinz.

Die Briten schauten dieser Landnahme nicht teilnahmslos zu und erklärten Neufundland und Nova Scotia zu britischen Kolonien. Früher oder später musste es leider Krieg zwischen beiden Nationen um das neue Land geben, denn die fischreichen Gewässer und der Pelzhandel, der gerade entstand, waren Grund genug, die jeweils andere Nation zum Feind zu erklären. So begann 1754 ein 7-jähriger Krieg, der hauptsächlich in der Provinz Québec ausgefochten wurde. Gewinner dieses Kriegs war schließlich die britische Krone. 1763 wurde Kanada britische Kolonie. Während des Krieges litt besonders die französischsprachige Bevölkerung in Nova Scotia. Ihren Teil von Nova Scotia nannten sie »Acadia«, noch bevor die englischsprachige Bevölkerung den Namen Nova Scotia einführte. Zum Ende des Krieges, als sich ein Sieg des Empires über Frankreich abzeichnete, wurden viele französischsprachige Bewohner von Acadia vertrieben und ihre Dörfer zerstört. Sie flohen in die verbliebenen französischen Territorien Nordamerikas nach Lousiana, Martinique und Haiti.

Nach dem Sieg über Frankreich steckte das Empire in einem Dilemma. 90 Prozent der Bewohner waren französischen Ursprungs und katholisch. Daher gaben die Briten den französischen Bewohnern schließlich die gleichen Rechte wie den wenigen Briten, die damals in Kanada lebten. Erst während des amerikanischen Freiheitskrieges flüchteten viele Anhänger der britischen Krone aus den sich bildenden Vereinigten Staaten ins nördliche gelegene Kanada. Bald darauf bildeten die Briten die Bevölkerungsmehrheit und wollten die Vorherrschaft in der Politik gegenüber den frankophonen Bewohnern. Zu dieser Zeit keimte in der französischsprachigen Provinz Québec bereits der Gedanke auf, sich vom Rest der Kolonie abzutrennen. Dieser Separatismus ist bis zum heutigen Tag in Québec vorhanden. Kanada ist heute ein Staat im Commonwealth mit der Königin von England als Staatsoberhaupt. Die letzte Provinz, die der Konföderation von Kanada beitrat, war 1949 Neufundland.

Nach der Flucht der Franzosen wurde Nova Scotia im 18. Jh. hauptsächlich von schottischen Auswanderern besiedelt. Die Provinz besteht hauptsächlich aus Wald, Wald und nochmals Wald. Der Busverkehr war ein wenig besser organisiert als in Neufundland, aber auch auf dieser Insel besteht die Hauptklientel der Busunternehmen aus Rentnern und einem deutschen Backpacker. Hinter mir im Bus saßen wieder einmal Chips mampfende ältere Herrschaften. Da ich die Nacht vorher auf der Fähre nach Nova Scotia praktisch nicht geschlafen hatte, versuchte ich es nun im Bus. Doch leider war das Geknirsche der Chips-Tüten stärker als das Bedürfnis meines Körpers zu schlafen. Nach dem Lunch wurden Bonbons ausgepackt und lautstark gelutscht. Obwohl ich die Augen während der Fahrt geschlossen hielt, um vielleicht doch zu schlafen, bekam ich alles »Aufregende« der Fahrt mit, da beide, wie in der Muppets-Show die zwei Alten auf dem Balkon, jedes noch so kleine Detail am Straßenrand kommentierten: »Oh road work!«, oder »What a beautiful garden!« oder »Look! The traffic light is red!«. Wenn es nichts zu kommentieren gab, da wir wieder einmal durch endlosen Wald fuhren, wurde die Bemerkung »What a nice day!« eingeworfen. Durch die dauernde Beschallung war Schlafen zur Unmöglichkeit geworden.

In Kanada existieren Jobmodelle, die die Hartz-Kommission in Deutschland sicher nicht wagen würde vorzustellen. Bei den vielen Straßenbauarbeiten beispielsweise gab es zwei Personen, die den ganzen Tag nichts anderes taten, als ein Schild in der Hand zu halten, auf dem auf der einen Seite »Stop« und auf der anderen Seite »Go« stand. Die Kunst der Arbeit bestand nun darin, möglichst nicht gleichzeitig auf beiden Seiten der Baustelle »Go« den Autofahrern zu zeigen, da dies katastrophale Folgen gehabt hätte. Daher wurde ein dritter Job geschaffen – der des Begleit-Fahrzeugführers. Eine Person fuhr mit ihrem Pick-up immer vor den Autos, die die Baustelle passieren wollten. Den ganzen Tag musste diese Person hin- und herpendeln und PKWs durch die Baustelle lotsen. Ein anderer ebenfalls sehr monotoner Job war der des »Einkaufswagen-Zurückbringers« auf den vielen Parkplätzen der Shopping-Center. Der Job des »Tüten-Einpackers« im Supermarkt ist sicherlich vielen Lesern schon bekannt. Daher bin ich wirklich froh, solche Verhältnisse in Europa noch nicht vorzufinden.

In Halifax, der Hauptstadt von Nova Scotia, mietete ich mir erneut ein Fahrrad. Leider wurde ich während meiner Tour mit immer neuen Problemen konfrontiert, was das Rad fahren anbetrifft. Waren es auf den Orkneys noch die Naturgewalten wie Sturm und Regen, die einem das Leben schwer machten, war es in Schottland, Island und nun in Halifax die Nachlässigkeit, mit der Radvermieter ihre stählernen Rösser behandelten. Die Gangschaltungen, falls sie funktionierten, waren so falsch eingestellt, dass einem passionierten Radfahrer wie mir, fast die Tränen kamen, da ich bei jeder Pedal-Umdrehung, das Knirschen von Metall auf Metall hören musste, ohne etwas dagegen tun zu können, weil Werkzeug natürlich ein Fremdwort war. Diesmal hatte der Drahtesel zwar eine Gangschaltung, doch die vordere war bloße Verzierung, da das Kabel, das zu ihr führte, total zerfetzt war. Wenigstens konnte ich die Kette auf das Mittel-Ritzel ziehen, sodass ich einigermaßen von der Stelle kam. Ziel meiner Tour waren die idyllisch gelegenen Fischerdörfer um Halifax an der Atlantikküste. Leider spielte das Wetter überhaupt nicht mit und diese 90 Kilometer Tour wurde zur Dauerdusche von oben durch den Dauerregen, von unten durch die mit Wasser vollgelaufenen Schlaglöcher und von der Seite durch die vorbeiziehenden Autos. Zum ersten Mal in meinem Leben radelte ich nun neben einem dieser monströsen Trucks, wie wir sie aus den Filmen von Hollywood zur Genüge kennen. Ich kam mir vor wie im »Enter-Sandman«-Video von Metallica oder bei Terminator 2, wo die Menschen vor diesen Trucks zu flüchten versuchen. Doch die Trucker waren mir nicht feindlich gesinnt. Mit einem Hupton verscheuchten sie mich rechtzeitig von der Straße in die Böschung am Straßenrand, sodass ich immer mit dem Schrecken davonkam.

Peggy’s Cove ist leider nicht mehr nur ein idyllisches Fischerdorf. Dort wurden im September 1998 die Wrackteile des Fluges Swissair 111 an Land gespült. Die Maschine stürzte in den Atlantik, nachdem die Piloten die Kontrolle über die MD 11 verloren hatten, da Rauch im Cockpit aufgetreten war. Ein Gedenkstein erinnert an diese Katastrophe in der Nähe des Dorfes. Halifax wurde in der Vergangenheit ebenfalls von einer Katastrophe heimgesucht. Am 6. Dezember 1917 gab es im Hafen die größte von Menschen verursachte Explosion vor der Zündung der Atombombe in Japan 1945. Das französische Munitionsboot »Mont Blanc« stieß im Hafen von Halifax mit dem belgischen Handelsschiff »Imo« zusammen. Die Crew des Munitionsboots wusste, was sie geladen hatte: u. a. mehr als 200 Tonnen TNT und 2.100 Tonnen Pikrinsäure, die für Sprengmaterial verwendet wird. Daher floh die Crew mit den Beibooten. Das Schiff explodierte erst 30 Minuten nach der Havarie. 1.900 Menschen kostete dieser Unfall das Leben. Der 1.000 Kilogramm schwere Anker des Schiffs wurde drei Kilometer von der Unfallstelle gefunden. Die Explosion war noch 300 Kilometer entfernt zu spüren und 150 Kilometer entfernt zu hören. Die Nachbarstaaten Nova Scotias und insbesondere die Stadt Boston halfen damals den Bewohnern von Halifax, sodass bis heute, als Zeichen der Anerkennung, Boston von Halifax jedes Jahr einen Weihnachtsbaum geschenkt bekommt.

Aufgrund dieser Explosion hat Halifax nicht mehr viele wirklich alte Gebäude zu bieten. Doch für mich war die Stadt wegen ihrer vielen Pubs und der perfekten Übernachtungsmöglichkeit in einem Hostel mit Küche, Internet, Café und Wohnzimmer ein schöner Aufenthaltsort geworden. Glücklicherweise brachte ein gewisser Alexander Keiths aus Schottland die gute Brautradition mit, sodass ich während einer Brauereiführung, die eher einem Theaterstück glich, gutes schottisches Ale genießen durfte. Das war das erste Mal, dass ich auf nordamerikanischem Boden anständiges Bier bekam. Ich war gespannt, wie dies in den kommenden Wochen aussehen würde. In Halifax merkte ich, dass die Welt doch ziemlich klein sein kann, denn mir lief zum ersten Mal ein Meenzer{41} Wesen über den Weg. Endlich konnte ich wieder »Meenzer Bube, Meenzer Mädche«{42} singen, ohne von allen Seiten schief angeguckt zu werden.

Von Halifax reiste ich mit dem Bus die Südostküste Nova Scotias entlang nach Lunenburg. Wie der Name erkennen lässt, war diese Stadt eine deutsche Gründung. Haupterwerbszweig war im 18. Jh. der Schiffbau gewesen. Viele der Bewohner sind damit sehr reich geworden. Ihre wunderschönen Holzbauten am Naturhafen konnte ich auch noch nach 250 Jahren bewundern. Das bekannteste Boot, das im Ort gebaut wurde, war »Bluenose« im Jahre 1921: ein Zweimaster-Holz-Segelboot, das eigentlich dem Fischfang dienen sollte, aber hauptsächlich für das jährliche Bootsrennen zwischen den USA und Kanada genutzt wurde. Von 1921 bis 1938 gewann die Bluenose jedes Rennen gegen die Boote aus den Vereinigten Staaten. Mit dem Ausbruch des 2. Weltkriegs gab es keine Rennen mehr und die Ära der Holzsegelboote war vorbei. Bluenose wurde 1942 nach Haiti verkauft und sank dort vor der Küste im Jahre 1946. 1963 wurde mit den gleichen Konstruktionsplänen Bluenose II gebaut. Seither kann man, wenn man Glück hat, mit Bluenose II vor der Küste Nova Scotias mitsegeln. Als ich das Boot in seinem Geburtshafen Lunenburg sah, musste ich natürlich mit auf den Segeltörn. Es war eine wunderschöne Erfahrung, das lautlose Gleiten des Schiffes zu erleben. Statt eines Dieselmotors waren bei dieser Reise das Knirschen des Holzparketts und das Flattern der Fahne die markanten Geräusche gewesen.

Manchmal kann Reisen ohne Auto in Kanada wirklich anstrengend sein. Der einzige täglich verkehrende Bus von Lunenburg nach Yarmouth an der Südwestküste von Nova Scotia fuhr ausgerechnet spätabends. Um Mitternacht kam ich in Yarmouth an. Da es kein Hostel gab, musste ich irgendwo zelten. Aber leider landete ich in einem großen Gewerbegebiet, sodass ich eine unfreiwillige Nachtwanderung von über einer Stunde zum nächsten Zeltplatz unternehmen durfte, ehe ich um halb zwei Uhr nachts endlich in meinen Schlafsack kroch. Am nächsten Morgen ging schließlich alles in umgekehrter Richtung zurück. Ich befand mich leider in der Zivilisation, wo Trampen unmöglich erschien, da ich mich bereits in der Stadt befand. Dass ich mich als Fußgänger langsam »Downtown«{43} einer nordamerikanischen Stadt näherte, merkte ich als erstes an den zunehmenden Spuren für die Autos auf Ausfallstraßen. Plötzlich existierten Trampelpfade am Seitenrand für ganz bescheuerte Menschen, die doch tatsächlich per Pedes unterwegs waren. Später wandelten sich die Pfade in Bürgersteige. Kurz vor Downtown wuchsen auf einmal statt riesiger Parkplätze und Einkaufszentren Bäume am Straßenrand, und hatte der McDonald’s keinen »Drive Thru«{44} mehr, befand ich mich tatsächlich in Downtown.

Von Yarmouth fuhr ich mit einem Katamaran die 200 Kilometer von der Halbinsel Nova Scotia nach Westen an die Ostküste der Vereinigten Staaten. Leider war ich der einzige Passagier unter 65 Jahren, aber da Amerikaner sehr kontaktfreudig sind, kam ich mit einem Paar aus Wisconsin ins Gespräch. Die beiden waren sicher bereits Mitte 70. Leider sprachen wir recht schnell über Politik. So langsam musste ich wirklich diplomatisches Geschick beweisen, denn was sollte ich auf Fragen, was wir Deutschen von Präsident Bush hielten, antworten? Anscheinend hatte meine ausweichende Antwort die beiden zufrieden gestellt, da ich weder zum Staatsfeind erklärt wurde, noch das Gespräch abgebrochen wurde.

In Bar Harbour, Maine, angekommen, erkannte ich erneut, dass Reisen ohne Auto in Nordamerika wirklich anstrengend war. Vom Fährterminal durfte ich wieder auf Nachtwanderung mit ungewissem Ausgang gehen, wusste ich doch lediglich, dass ich irgendwann an einem Campingplatz vorbeikommen musste, doch nicht nach wieviel zurückgelegten Kilometern. Wild zelten klappte neben dem Marriot, dem Hilton und dem Holiday Inn leider nicht. So hieß es wandern, wandern und nochmals wandern. Nach etwa eineinhalb Stunden erblickte ich das erlösende Campingplatz-Schild. Der Besitzer konnte es nicht glauben, dass hier ein »German« zu Fuß unterwegs war. Daher lieh er mir sein Mountainbike, mit dem ich durch den Acadia National Park radeln konnte. Endlich ein Rad, das einigermaßen rollte, ohne dass meine rudimentären Technikkünste aufblitzen mussten. Der Nationalpark eignete sich perfekt zum Mountainbike fahren. Unbefestigte für Autos nicht zugängliche Wege durch Kiefernwälder entlang der Atlantikküste waren absolut mein Terrain. Es duftete so angenehm, wie in einem Wald in der Provence, und endlich war es wieder warm. Schließlich war es auf Island, Neufundland und Nova Scotia doch bereits ziemlich kühl gewesen.

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