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Unterwegs in Snæland

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Etappe: Von Seydisfjörður, Ísland 65° Nord 14° West (GMT+0) nach Akureyri, Ísland 66° Nord 18° West (GMT+0): 598 km – Total 5.068 km

Akureyri, 12. September 2002

Glücklicherweise ist der erste Eindruck, den ich von einem Land gewinne, nicht immer der entscheidende. Dies trifft auf Island ganz besonders zu, denn mittlerweile hatte ich mich gut eingelebt, kein Moos angesetzt und mich mit »Light Beer«{21} angefreundet.

Den ersten Bewohnern dieser Insel, die diese damals Snæland{22} nannten, war ich bereits seit den Shetlandinseln und den Färöer auf den Spuren. Das Jahr 874 wurde in den Geschichtsbüchern und Sagen als das Jahr der ersten permanenten Besiedlung der Insel festgehalten. Vorher kamen nur irische Mönche, um als Einsiedler auf Island zu leben. Diese sorgten (un)natürlicherweise für keine Nachkommen. Wikinger, die zu Hause in Norwegen ihren heidnischen Kulten nicht mehr nachgehen durften, flohen erst in Richtung Schottland, um sich mit Frauen »einzudecken«, ehe sie der Zufall wegen schlechter Winde nicht auf die Färöer, sondern nach Snæland brachte. Einige Jahre später wurde die Insel von einem anderen Wikinger wegen vorbeiziehender Eisberge in Ísland{23} umbenannt. Da die Wikinger von der Monarchie in Norwegen genug hatten, gründeten sie im Jahr 930 eine Art Nationalversammlung, den Alþing, in dem einmal jährlich alles Wichtige für das Land entschieden wurde. Das Isländische entwickelte sich aus dem Norwegischen, das zu dieser Zeit gesprochen wurde. Die Sprache ist eine der schwierigeren, alleine schon wegen der vielen fremdartigen Buchstaben. »ð« wird wie »th« im englischen »them« gesprochen; »þ« ist auch ein »th«, welches wie im englischen »thin« ausgesprochen wird, wohingegen »æ« wie »ei« und »ll« wie »ddl« klingt. Dazu kommt der Umstand, dass Substantive wie im Lateinischen dekliniert werden. Für Busfahrpläne wird bei Ortsnamen der Dativ benutzt, der beispielsweise für die Stadt Höfn »Havnar« lautet. Darauf musste ich erst einmal kommen. Für die Zahl eins existiert sogar der Plural, um z. B. die Formulierung »ein paar Schuhe« auszudrücken. Isländer haben ein ähnliches sprachliches Faible wie die Franzosen, die auch für neue Begriffe Sprachschöpfung betreiben. Das isländische Wort für Computer wurde z. B. aus »tala« und »völva«{24} gebildet und heißt »tölva«.

So war ich glücklich, dass Isländer ein Einsehen haben und immer sehr gut Englisch sprechen können. Ansonsten hätte ich vor einem riesigen Problem gestanden. Ein Problem, mich richtig für Island im wahrsten Sinne des Wortes zu erwärmen, stellte aber der erste Tag dar. Für Wettergurus hier die Wetterdaten von Seydisfjörður am 5. September um zwölf Uhr mittags: 051200 09020G30KT 1000 +RA OVC030 03/01 Q990{25} oder auf Deutsch: Sauwetter.

Am nächsten Tag sah es nicht besser aus, und was das Sehen betraf, sah ich dank der niedrig hängenden Wolken, die wie Watte alles zudeckten, sowieso nichts. Die Busfahrt mit zwei Passagieren an Bord ins 20 Kilometer entfernte nächste Dorf zeigte bereits, dass es auf Island tatsächlich schön sein konnte, falls ich etwas sehen würde: alle paar Meter hörte ich einen plätschernden Bach oder einen rauschenden Wasserfall, bei dem das Wasser aufgrund der niedrig hängenden Wolkendecke scheinbar direkt aus dem Himmel zu stürzen schien. Nach 20 Minuten Fahrt war ich im nächsten Dorf angelangt und hatte dank der »attraktiven« Busverbindungen nun fünf Stunden Aufenthalt bis zur Weiterfahrt. Auf Island existieren Busse lediglich, um Touristen durch die Gegend zu karren. Einheimische nutzen diese von Zeit zu Zeit aufkreuzenden Vehikel so gut wie nie. Ein Isländer sagte, dass ein Auto für Isländer wie eine zweite Jacke sei, die man anzieht, sobald man das Haus verlässt. Bei dem Wetter und den Verbindungen konnte ich das mit der Zeit durchaus verstehen.

Am Myvatn{26} angekommen, besserte sich das Wetter plötzlich innerhalb weniger Stunden. Die Sonne, die ich bereits mit den Franzosen bei deren wieder einmal ausgerufenen Generalstreik verbrüdert sah, schob nun auf einmal Überstunden, schien sie doch nunmehr jeden Tag länger, als es die Gewerkschaften je erlauben würden, also mehr als zehn Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche.

Plattentektonisch betrachtet schrieb ich dieses Kapitel bereits aus Nordamerika, denn in Island reiben sich die eurasische und die nordamerikanische Platte aneinander. Das Resultat ist am Myvatn zu bewundern: Vulkane, Lava-Felder und sehr bizarre Landschaften. Die Lava-Felder sehen einmal aus, wie die abgefrästen Teerplatten des sich im Ausbau befindlichen Mainzer Rings{27}, ein anderes Mal so runzelig wie Elefantenhaut und einmal so unregelmäßig, klumpig wie die Oberfläche eines Krümelkuchens. Bei den Verschiebungen der Felder während eines der häufigen Erdbeben entstanden Spalten, die etwa einen Meter breit und bis zu 20 Meter tief sind. Trotz des guten Wetters war es meist schon sehr kalt. Bei der Besteigung eines Vulkans hatte ich nun auch den ersten Schnee für diesen rein theoretisch noch existierenden Sommer, eher bereits Spätherbst zu nennen. Aber die Landschaft glänzte dafür bei diesem Wetter in herrlichen Farben: pechschwarz die oft bis an den Horizont reichenden Lava-Felder, weißgelb die Schwefelablagerungen, aus denen es oft rauchte und spuckte, hellbraun die Berge, saftig-grün die Wiesen und türkis das Wasser in den Maaren der Vulkane. Das gelb gefärbte Laub der Birken und das sich langsam rostrot färbende Heidekraut ließen den Herbst bereits erahnen. Wälder existieren wegen des Windes und der alles abknabbernden Schafe in Island kaum. Die Bäume sehen auch eher wie große Büsche aus. Eine isländische Weisheit besagt: »Verirrst du dich in einem isländischen Wald, steh’ einfach auf.«

Die Schafe waren mir wirklich unsympathisch. Ich verallgemeinere ungern, doch diese Viecher waren bescheuert. Vor mir rannten sie auch in Island weg, aber auf den Staubstrassen ließen sie sich vom vorbeifahrenden Bus panieren und grasten in aller Ruhe weiter. Leider konnte ich mich nicht so einfach ernähren und war doch auf einige sehr teure Nahrungsmittel angewiesen. Aber die isländische Landwirtschaft ist auch nicht zu beneiden. Am Myvatn versuchte man Kartoffeln anzubauen. Beim Ernten erhielt man schließlich die Kartoffeln in gedünstetem Zustand aus der Erde, wegen des heißen Grundwassers direkt unter der Oberfläche. Mit dem Wasser war es auch so eine Sache. Warmes Wasser kam fast kochend aus dem Hahn, da es sicher direkt am nächsten Geysir abgezapft wurde. Dafür stank es nach faulen Eiern, und das Duschen mit dem penetranten Geruch in der Nase bereitete folglich kein Vergnügen.

Für die manchmal eher unangenehmen Bedingungen in Island wurde ich aber nachts bei klarem Himmel entschädigt. Wie in einem Science-Fiction-Film leuchtete plötzlich ein Teil des Himmels grünlich weiß. Wie ein Vorhang bewegte sich dieses Licht am Firmament nach allen Seiten hinunter, und es stellte sich eine wirklich gespenstische Stimmung ein. Verantwortlich für diese Nordlichter sind Ströme geladener Partikel, so genannte »Sonnenwinde«, die durch das Magnetfeld der Erde zu den magnetischen Polen geleitet beziehungsweise von diesen angezogen werden. Das Zusammentreffen mit Elektronen von Stickstoff- und Sauerstoffatomen in der etwa 160 Kilometer hohen Atmosphärenschicht setzt Energien frei, die das Nordlicht entstehen lassen. Ich konnte nachts in aller Ruhe auf der Hauptstrasse liegen und dieses Schauspiel genießen, ohne überfahren zu werden, denn nach Sonnenuntergang passierte in Islands Hinterland überhaupt nichts mehr. So waren diese Abende mit einem langsam gefrierenden Leicht-Bier einmal ein anderes Freizeitvergnügen, als in der Kneipe zu sitzen und Bierchen zu zischen.

An einem der folgenden Tage erreichte ich den wahrscheinlich nördlichsten Punkt meiner Reise, die Insel Grimsey, die genau auf dem Polarkreis (66 Grad Nord 18 Grad West) liegt. Mit einer kleinen Fähre fuhr ich durch einen Fjord hinaus ins arktische Meer. Das Beladen der Fähre war besonders eindrucksvoll. Ein Pferdekarren mit zwei Vierbeinern und zwei Autos wurden mit einem Kran vom Kai auf die Ladefläche gehievt. Dies war Millimeterarbeit, die aber gut ausging. Danach tuckerten wir hinaus ins Polarmeer immer weiter nach Norden. Auf Grimsey leben 98 Leute, die vielleicht aufgrund der abgeschiedenen Lage etwas befremdlich auf mich als Mitteleuropäer wirkten. Das sagenhafte Straßennetz von ca. einem Kilometer nutzten etwa 40 Autos. Mit riesigen Jeeps wurde aus Langeweile das gesamte Straßennetz hoch und runter gedonnert, sodass mir die Ohren dröhnten. Dass die vielen Vögel, die dort ebenfalls leben, noch nicht geflüchtet sind, grenzt an ein Wunder. Grimsey sieht etwa wie ein Geodreieck aus. Der Südwesten ist flach. Innerhalb eines Kilometers steigt die Insel auf ca. 130 Meter an. Eine Steilküste bildet das abrupte Ende der Insel. Diese ist die Heimat für tausende Vögel, die dort ideale Voraussetzungen für die Errichtung von Etagenwohnungen finden. Leider waren die meisten Bewohner aus ihrer Sommerresidenz bereits ausgezogen, sodass ich die dort im Sommer lebenden Papageientaucher nicht mehr sehen konnte.

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