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Tequila und Wendekreise

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Etappe: Von Los Mochis, México 26° Nord 109° West (GMT-7) nach Taxco, México 19° Nord 100° West (GMT-6): 2.600 km – Total 29.836 km

Taxco, 14. November 2002

Mittlerweile hatte ich mich in Mexiko richtig eingelebt. Das Land hat seit meinem ersten Besuch 1995 eine rasante Entwicklung hinter sich. Manchmal habe ich das Gefühl, Mexiko verbindet eine Art »Hassliebe« mit den USA. Eigentlich mag man seine meist nur englisch sprechenden Bewohner nicht, andererseits ist man auf den »American Way of Life« neidisch und versucht diesen zu kopieren, was meist mehr schlecht als recht funktioniert. Glücklicherweise verebbte dieser Eindruck langsam bei mir, je weiter ich nach Süden unterwegs war, und Mexiko bleibt an vielen Stellen doch noch Mexiko.

Die Überfahrt von der Baja California nach Topolobampo führte durch die Cortés See, einem Teil des Pazifiks. Der Name Cortés steht in der Weltgeschichte für eines der größten und fatalsten Missverständnisse. Nachdem Christoph Kolumbus 1492 die Insel Hispaniola entdeckt hatte, versuchten die Spanier erneut den Seeweg nach Indien weiter westlich zu entdecken. 1519 landete der spanische Kolonialist Hernan Cortés im heutigen Mexiko, genauer gesagt an der Karibik-Küste im Bundesstaat Tabasco. Dem damaligen Azteken-König Montezuma II. wurde berichtet, dass Türme auf dem Wasser an die Küste heranschwammen. Gemäß dem Azteken-Kalender erwartete man im Aztekenreich 1519 die Rückkehr des Gottkönigs Quetzalcoatl aus dem Osten. Daher nahm Montezuma fälschlicherweise an, Cortés sei Quetzalcoatl und lud ihn nach Tenochtitlan, in die alte Azteken-Hauptstadt, ein. Die 400 Spanier um Cortés siedelten in Tenochtitlan, doch leider blieb es nicht beim friedlichen Zusammenleben. Die Spanier hatten Angst, von den Azteken umgebracht zu werden und töteten daher selbst ca. 200 Adlige. Das nun sicher zu erwartende Gemetzel sollte auf Druck von Cortés durch Einreden Montezumas auf die Azteken vermieden werden. Doch Montezuma selbst wurde entweder von Azteken oder Spaniern umgebracht, und die Spanier flohen am 30. Juni 1520. Sie kamen allerdings später mit etwa 100.000 alliierten Indianern zurück, die von den Azteken damals unterdrückt wurden. Am 13. August 1521 wurde Tenochtitlan eingenommen und restlos zerstört. Damit gehörten 3.000 Jahre mexikanischer Zivilisation der Vergangenheit an. Auf dem zerstörten Tenochtitlan wurde die mittlerweile größte Stadt der Welt, Mexiko-Stadt aufgebaut. Die spanische Besetzung »Nueva España«,{70} das später in »México« umgetauft wurde, hielt genau 300 Jahre. 1821 wurde Mexiko eine präsidiale Demokratie.

Von Topolobampo reiste ich mit einem so genannten Zweite-Klasse-Bus weiter ins Landesinnere nach Los Mochis. Die mexikanischen Zweite-Klasse-Busse waren etwas anders ausgestattet als die Langstreckenbusse, denn die Klimatisierung stammte vom Fahrtwind der durch die mehr oder weniger noch existierenden Fenster herein blies. Die Busse hatten vor Jahrzehnten amerikanischen Schulkindern gedient und waren nunmehr für kleingewachsene Mexikaner da. Ich lernte schnell meine Beine geschickt zu »verknoten«, sodass auch ich auf den Sitzen Platz nehmen konnte. Am nächsten Tag musste ich dem Pazifik bis auf weiteres »¡Adios!« sagen, und es ging nun seit Schottland zum ersten Mal wieder mit einem Zug voran. Die Eisenbahn »Ferrocarril Chihuahua Pacifico« verbindet die heiße Landwirtschaftsmetropole Chihuahua im Norden des Hochlands von Mexiko mit dem Pazifik. Auf den über 600 Kilometern Gleisstrecke müssen mehr als 2.400 Höhenmeter überwunden werden. Dazu wurden 39 Brücken und 86 Tunnel gebaut. Ein Großteil der Strecke führt durch den so genannten »Barranca del Cobre«, zu Deutsch Kupfer-Canyon. Dieser besteht aus mehr als 20 Schluchten und ist insgesamt viermal größer als der Grand Canyon in den USA.

Auf Meereshöhe rollte ich zunächst durch Ackerland und durch die Palmen-Wälder des Küstenstreifens. Die Höchstgeschwindigkeit von etwa 40 km/h ließ das Gefühl aufkommen, als ob es überhaupt nicht voranginge. Aber wenigstens konnte bei dieser Geschwindigkeit auch nicht viel Fatales passieren. Das rhythmische Geschaukel nach links und rechts sowie das monotone Gequietsche der Waggons ließ uns Passagiere nochmals einschlafen, denn die Abfahrt um sieben Uhr morgens war definitiv unchristlich. Aber mittlerweile befand ich mich im Bereich der Tropen, wo das ganze Jahr um sechs Uhr morgens die Sonne aufgeht und um sechs Uhr abends wieder untergeht. Dementsprechend ist das ganze Leben auf die Sonne ausgerichtet und viele Busse, Fähren oder Züge fahren kurz nach Sonnenaufgang los, um möglichst vor Sonnenuntergang das Tagesziel zu erreichen. Also musste ich nun oftmals um fünf Uhr morgens aufstehen. Nach dem Sonnenuntergang passiert in vielen Dörfern und Städtchen auch nicht mehr viel, sodass ich meist um zehn Uhr abends ins Bett sprang. Daher fiel mir das frühe Aufstehen auch zunehmend leichter.

Nach zwei Stunden Zugfahrt oder ca. 80 Kilometern gab es schließlich die ersten Essenverkäufer, die die Waggons zum Frühstück stürmten. Diesmal waren »Buritos«{71} der absolute Renner. Von Taco Bell aus den USA mitgebrachte Soßen machten den ziemlich fahlen Burito richtig würzig. So ergab sich doch noch ein sehr leckeres Frühstück. Nach etwa fünf Stunden Fahrt rollte der Zug langsam in den Kupfer-Canyon hinein. Auf der Talsohle wuchsen noch Orangenbäume, Palmen und andere Obstbäume. Bald darauf wurde die Bahnstrecke steiler und wir rollten durch die vielen Tunnels und Brücken langsam bergauf. Die Landschaft wurde durch die steilen Felswände immer reizvoller und so verbrachte ich die meiste Zeit zwischen den Waggons, da ich dort ohne Fenster frei fotografieren konnte. Bei jedem Tunnel musste ich die Luft anhalten, da die Diesellok diese ziemlich schnell verpestete. Zum Glück stand vor jedem Tunnel die Länge angeschrieben – bei Längen von mehr als 300 Metern war Luftanhalten nicht mehr möglich. Da hieß es rechtzeitig in den Waggon flüchten, wollte ich mir meine Lungen nicht total zurußen. Die Strecke gewann immer mehr an Höhe. Im Berg zog der Zug durch so genannte Kehren-Tunnels wie in Serpentinen bergauf. Da die Bahnstrecke meist eingleisig verlief, mussten wir natürlich irgendwann auf den Gegenzug an einer Stelle treffen, wo hoffentlich die Strecke kurz zweigleisig angelegt war. Leider musste immer ein Zug auf den anderen warten, da die Fahrpläne nicht so ganz aufeinander abgestimmt waren. So hieß es für meinen Zug knapp eine Stunde auf freier Strecke warten.

Nach zehn Stunden Fahrt und Warten hatten wir die höchste Stelle mit 2.400 Metern Höhe erreicht. Die Vegetation erinnerte mich eher an den Schwarzwald als an Mexiko. Nadelwald soweit das Auge reichte, lediglich durch das Panorama unterbrochen, das sich unweit der Gleise uns bot. Der ganze Kupfer-Canyon lag mit seiner Talsohle ca. 1.900 Höhenmeter unter unseren Füßen. Im Licht der untergehenden Sonne und durch riesige Schatten sah der Canyon wirklich gewaltig aus. Vom höchsten Punkt fuhr ich schließlich nicht mehr mit dem Zug weiter, war doch genau einen Tag vorher ein Zug direkt hinter der Anhöhe entgleist. Glücklicherweise war anscheinend aber niemandem dabei etwas zugestoßen. Das Gepäck wurde auf einen Lkw umgeladen, die Passagiere in Klapperbusse verfrachtet und weiter ging es nach Creel. Die gesamte Zugfahrt unternahm ich mit einem internationalen Team aus Holland, der Schweiz und Spanien. Als Alleinreisender bleibt man selten alleine. Gerade in Mexiko reisen viele Leute mit dem Rucksack quer durchs Land, sodass ich gelegentlich mit Anderen unterwegs war. Oft hat man die gleichen Ziele und so reist man manchmal länger, manchmal kürzer miteinander. Wenn man keine Lust mehr aufs Zusammenreisen hat, kann man immer abspringen und eine andere Route wählen. Dies macht das Alleinreisen wirklich reizvoll.

Zusammen mit den anderen Reisenden fuhr ich am nächsten Tag durch das Land der Tarahumara-Indianer, die im Hochland und im Kupfer-Canyon zum Teil noch in Höhlen lebten. Aber so unberührt von der Zivilisation gingen diese Menschen nun auch nicht mehr ihrem Alltag nach. Allerdings trugen viele Tarahumara noch ihre bunten Trachten, sicherlich nicht nur zu touristischen Zwecken. Die Tarahumara nennen sich selbst Rarámui.{72} Das schnelle Rennen war traditionell die Jagdmethode der Tarahumara. Sie rannten dem Wild so lange hinterher, bis es außer Puste war. Danach trieben sie die Tiere über den Felsrand, hinter dem hölzerne, spitze Stöcke aufgestellt waren. Heute veranstalten die Tarahumara Rennen, bei denen sie 160 Kilometer am Stück durch den Canyon rennen und einen wollenen Ball vor sich her schießen. Nicht nur die Tarahumara-Häuser und -Höhlen waren eine Reise wert, sondern auch die Umgebung, in denen die Indianer oberhalb des Canyons lebten. Ungewöhnliche Felsformationen umgeben von Nadelwald sahen durch das Spiel mit Licht und Schatten sehr bizarr aus. Dazu gab es heiße Quellen und einen See, der wiederum eher in ein deutsches Mittelgebirge passen würde als nach Nordmexiko.

Am nächsten Tag reiste ich weiter durch das Hochland von Mexiko nach Cuhautemoc. Dort wurde ich von »weißen« Mexikanern auf Deutsch in ihrem Land begrüßt. Diese deutschsprachigen Mexikaner sind Mennoniten, die lediglich Gott als Autorität anerkennen. Daher bekamen die Mennoniten im 19. Jh. in Deutschland große Schwierigkeiten beim Ausüben ihrer Religion. Über Russland, Kanada und die USA waren die Mennoniten nach Mexiko geflüchtet, das in den 20er Jahren des 20. Jh. sehr liberal geprägt war und die Mennoniten bei der Ausübung ihrer Religion in Ruhe ließ. Die Mennoniten sprechen aufgrund ihrer Isolation das Deutsch, das bei uns vor ca. 100 Jahren gesprochen wurde. Es war für mich sehr interessant, ein paar Worte mit einem alten Mennoniten zu wechseln, der natürlich auch fließend spanisch sprach. Die Mennoniten leben hauptsächlich von der Landwirtschaft. Die Hochlandebene in Nordmexiko eignet sich hauptsächlich für Getreideanbau und Viehzucht. Dementsprechend sah es dort etwa so aus, wie in den Great Plains in den USA, die ich einen Monat zuvor bereist hatte: Felder und Weiden soweit das Auge reichte. Allerdings trugen in Nordmexiko wesentlich mehr Männer Cowboyhüte als die Boys in den USA, die mittlerweile doch mehr auf Baseball-Kappen stehen.

Von Cuhautemoc fuhr ich nach Chihuahua, das in der lokalen Nahua-Sprache ganz treffend »trockene und sandige Gegend« bedeutet. Die Stadt hatte leider nicht viel zu bieten, außer der Tatsache, dass sie eine große Bedeutung für die mexikanische Geschichte hat. Der berühmte Doroteo Arango, besser bekannt unter dem Namen Francisco »Pancho« Villa, war in der Stadt zu Hause. Eigentlich war Pancho ein Räuber, wie es Anfang des 20. Jh. sicherlich tausende im »Wilden Norden« Mexikos gab. Seit der Unabhängigkeit von Spanien 1821 war Mexiko rein theoretisch eine Demokratie, die aber Anfang des 20. Jh. eher einer Diktatur glich. Pancho hatte sich gerade mit Anfang 30 zur Ruhe gesetzt, als er von Bekannten für die Revolution gewonnen wurde. Sie hatten vor, den Großgrundbesitzern Land für die arme Bevölkerung abzunehmen. Pancho Villa war ein talentierter Guerillakämpfer und nach einem Jahr Bürgerkrieg nahm der Diktator 1911 seinen Hut. Der nun folgende Präsident Madero war nicht in der Lage, das Land zur Ruhe zu bringen und wurde 1913, wie so viele Präsidenten Mexikos vor ihm, umgebracht. Pancho floh zunächst in die USA, um schließlich wieder einen Guerillakrieg mit der gleichen Forderung anzuzetteln: Land für Arme. Die mexikanische Armee wurde erneut mit Panchos Hilfe geschlagen und der nächste Präsident nahm seinen Hut. 1915 zersplitterte die Guerillaarmee und Panchos Leute wurden besiegt. Pancho aber entkam. Da die USA die Gegner Panchos unterstützten, rächte sich Pancho 1916 und es gelang ihm, die Amerikaner in New Mexico zu überfallen. Diese entsandten danach 12.000 Soldaten nach Mexiko, um Pancho zu stellen. Doch der damals meist gesuchte Terrorist der Welt wurde von den US-Truppen nie gefunden. 1920 setzte sich Pancho Villa nun endgültig zur Ruhe und wurde schließlich auch von den USA in Ruhe gelassen, bis er 1923 in seinem Auto erschossen wurde. Die Hintermänner dieses Attentats sind bis heute unbekannt. Irgendwie erinnerte mich diese Geschichte des meist gesuchten Terroristen an heutige Tage.

Von Chihuahua fuhr ich mit dem Bus den Katzensprung von 876 Kilometern durch die mexikanische Nacht nach Zacatecas in Zentralmexiko. Die Landschaft änderte sich innerhalb dieser zwölf Stunden Fahrt überhaupt nicht: Hochland in 2.000 Metern Höhe, das hauptsächlich für die Viehzucht und die Landwirtschaft genutzt wurde. Der Name Zacatecas stammt vom Indianerstamm der Zakateken, die in dieser Gegend lange vor der spanischen Besatzung Silber gefunden hatten. Ein Zakateke gab fatalerweise einem spanischen Kolonialisten angeblich ein Stückchen bearbeitetes Silber. Die Spanier gründeten daraufhin die Stadt Zacatecas und hauten mehrere Minen in die sie umgebenden Berge. Die Indianer wurden versklavt und in die Minen geschickt. Die Silbermengen, die in Zacatecas aus dem Stein gehauen wurden, bildeten rund 20 Prozent des gesamten in Neuspanien gewonnenen Silbers. Neuspanien umfasste damals die besetzten Gebiete Mittel- und Südamerikas sowie die Philippinen. Die spanischen Kolonialisten wurden sozusagen steinreich, viele Indianer hingegen kamen in den Minen um. Der Reichtum der Kolonialisten war noch in Zacatecas zu bewundern. Riesige, gut erhaltene Paläste, Kirchen aus rot-orangenem Stein gehauen und mit Fresken überhäuft, Plätze mit Springbrunnen sowie weitläufige Parks erinnern an die Blütezeit der Stadt. Für mich war Zacatecas geographisch sehr bedeutsam. Die Stadt liegt direkt am nördlichen Wendekreis. Am 21. Juni jeden Jahres steht dort die Sonne genau um zwölf Uhr mittags senkrecht über der Stadt. Mit dem Überschreiten des nördlichen Wendekreises reiste ich geographisch betrachtet in die Tropen ein. Diese erstrecken sich vom nördlichen bis zum südlichen Wendekreis.

Zacatecas bot kulinarische Leckerbissen wie Obstsalat aus dem Plastikbecher. Melonen-, Papaya-, Ananas-, Gurken- und Zuckerrohr-Stücke wurden in den Becher geschnippelt und auf Wunsch mit frisch gepresster Limette und Chili garniert. Gegessen wurde dieser Cocktail mit Hilfe eines Zahnstochers. Zacatecas lud auch sehr zum Entspannen vom Leben auf der Straße ein. Denn natürlich gingen mir der Lärm und der Dreck, die permanent auf mir lasteten, irgendwann auf den Keks. In Zacatecas’ Parks konnte ich mich daher mit meinem Fruchtsalat auf einer Parkbank niederlassen und klassischer Musik lauschen, die aus aufgestellten Lautsprechern durch den Park tönte. Außerdem konnte ich auf die Hügel der Stadt klettern und den herrlichen Sonnenuntergang genießen, bevor es aber auch dort sehr kalt wurde. Schließlich liegt Zacatecas auf mehr als 2.300 Metern Höhe.

Von Zacatecas aus begab ich mich nach Guadalajara, der zweitgrößten Stadt Mexikos, um wieder einmal auf Schatzsuche zu gehen. Nein, keine postlagernden Briefe oder Touristenkarten, sondern Medikamente galt es dieses Mal zu finden. Schließlich reiste ich die nächste Zeit nun in den Tropen und da wohnen auch manchmal ziemlich unliebsame Zeitgenossen, wie die Anopheles-Mücke, die die so genannte »Malaria« überträgt. Mein Tropendoktor in Deutschland meinte, ich solle mir die Malaria-Medikamente in Mexiko besorgen, da sie wesentlich günstiger als in Deutschland seien. Das mochte vielleicht stimmen, aber leider war es gar nicht einfach, diese zu finden. Erstens hießen die Medikamente anders, zweitens fanden sich in den Apotheken meist lediglich so wirksame Medikamente wie Corona oder Snickers, aber leider keine Malariaphrophylaxe. Schließlich absolvierte ich in mehreren Apotheken ein Kurzstudium der Pharmazie und lernte verschiedene Mittelchen kennen. Anschließend ging es ab ins Internetcafé um herauszukriegen, welchem Mittelchen das Zeug in Deutschland entsprach. Nach längerer Suche bekam ich meine Grundprophylaxe gegen Malaria und konnte nun zunächst unbeschwert weiterreisen.

Da ich in Guadalajara nur Apotheken besuchte, kann ich über die Stadt nicht sonderlich viel berichten, außer dass es die ersten drei Tropfen Regen seit dem 4. Oktober 2002 für mich gab. Damals war ich im Platzregen mit dem Greyhound von Boston nach White River Junction gefahren. Nachdem ich meine Medikamentensucht befriedigt hatte, stellte ich mich meinem nächsten Suchtproblem 60 Kilometer von Guadalajara entfernt. Ich besuchte die sicherlich vom Namen her bekannte Stadt Tequila. Rund um die Stadt wuchsen Agaven, Agaven und nochmals Agaven. Diese sind die Basis für das mexikanische Getränk schlechthin mit dem gleichen Namen wie die Stadt, in der dieses Gesöff produziert wird. Der Sage nach stießen die Indianer lange vor der spanischen Besatzung durch einen Zufall auf diesen Trunk. Ein Blitz schlug in eine Agave ein und nach dem Regenguss probierten die Indianer die Flüssigkeit, die aus dem Herz der Agave floss. Dies schmeckte ihnen so gut, dass sie von nun an die Agaven-Herzen in der Sonne brannten. Es dauert etwa zwölf Jahre, bis ein Agaven-Herz vom Typ »Agave Tequilana Weber« das Erntegewicht von 50 Kilogramm erreicht. Während die Indianer aus der Pflanze Kleidung, Essen, Papier, Tequila und Folterinstrumente herstellten, wird die Agave heute nur noch als Grundlage für das alkoholische Getränk verwendet. Heute werden die Agaven-Herzen drei Tage lang gekocht, danach geschreddert und gepresst. Der Abfall wird wie in den schottischen Whiskybrennereien auch an die Tiere der Umgebung verfüttert. Der Saft hingegen wird mit Hefe versetzt und es beginnt der Prozess der Fermentation. Heute wird der leicht alkoholische Saft nicht mehr in der Sonne gebrannt sondern in Dampfkesseln. Natürlich existieren verschiedene Sorten von Tequila. Laut Gesetz muss Tequila mindestens 51 Prozent Agaven-Substanz enthalten. Der Rest kann aus Zuckerrohr bestehen. Die guten Tequilas enthalten 100 Prozent Agaven-Substanz. Die Farbe der so genannten »Goldenen Tequilas« kommt bei »Añejos« von den Eichenfässern, in denen der Tequila ein Jahr verbringt. Bei den billigen »Joven«{73} wird einfach Karamel-Substanz dazugekippt. Die Mexikaner machen keinen Unterschied in der Trinkweise zwischen goldenem und silbernem Tequila:

1. Mit der Zunge den Handrücken ablecken

2. Den feuchten Handrücken in Salz eintauchen

3. Den nun hoffentlich salzigen Handrücken ablecken

4. Das Tequila-Glas in einem Zug leeren, nachdem man »¡arriba abaja!« ausgerufen hat und im Rachenraum bunkern

5. Die Limette komplett abgrasen

6. Den nun entstanden Cocktail hinunterschlucken

Nachdem ich die Brennerei Sauza besichtigt hatte, nahm ich am Kurs »Wie genieße ich einen Tequila gemäß mexikanischer ISO-9002-Norm?« teil. Leider war ich überhaupt nicht lernfähig und brauchte fünf Shots bis meine mexikanischen Lehrer zufrieden gestellt waren. Ich hatte nach absolvierter »Prüfung« einige Koordinationsprobleme und schwankte mehr schlecht als recht zur lokalen Busstation zurück. Ich hatte den Eindruck, nachdem ich wieder nüchtern war, dass innerhalb von Mexiko eine unsichtbare Linie entlang des nördlichen Wendekreises existiert. Nördlich davon erinnert Mexiko noch teilweise an den großen Nachbarn im Norden, vor allem was das halbwegs geregelte Leben angeht. Doch südlich dieser Linie begann nun wirklich das etwas chaotische Zusammen- und Durcheinander-Leben. Beispielsweise grasten nun Kühe auf dem breiten Mittelstreifen der »Autopista«. Auf der gleichen Autopista hielt der Bus auch einfach an, damit alle am Straßenrand einkaufen und gleichzeitig ein- und aussteigen konnten. Glücklicherweise haben die Autopistas oft acht Spuren, sodass vier Spuren für den Markt und haltende Autos genutzt wurden, ohne dass es zu Auffahrunfällen kam. Die Verkäufer, die die Busse betraten, um Waren darzubieten, drängelten sich oft im Gang und schrien sich gegenseitig nieder. Mittlerweile wurde im Transportbereich auch der obligatorische Esel permanent eingesetzt, hauptsächlich um die Maiskolben für die Tortillas{74} und Tacos beziehungsweise die Agaven-Herzen vom Feld nach Hause zu bringen. An den Straßenkreuzungen existierte nun auch ein rotierender Markt. Je nachdem wo gerade die Ampel auf Rot gesprungen war, wurden Zeitungen, Buritos und Haushaltwaren in den Autoschlangen angeboten. Natürlich konnte auch wahlweise die Windschutzscheibe, falls vorhanden, gereinigt werden.

Die 634 Kilometer lange Strecke von Guadalajara nach Taxco legte ich mit zweimal Umsteigen in elf Stunden zurück, ohne mich durch den Moloch Mexico D. F. quälen zu müssen. Stattdessen durfte ich wirklich erstklassigen Service im Bus genießen. Beim Einsteigen wurden Frühstück-Beutel mit Sandwich, Orangensaft und Bonbons gereicht. Die Sitze ähnelten denen von guten Fluggesellschaften in der Business Class und ließen das frühe Aufstehen sofort vergessen. Die Landschaft änderte sich relativ schnell. Anfangs fuhren wir noch durch Agaven-Felder, die im gesamten Bundesstaat Jalisco und einigen Nachbarstaaten bestellt wurden. In den restlichen Staaten wurden keine Agaven angebaut, da sie von Staats wegen nicht für die Tequila-Produktion verwendet werden dürfen. Nach dem ersten Umsteigen mit lediglich zehn Minuten Wartezeit tauchten Vulkane und Wälder auf. Nachdem ich die vorangegangene Woche meist durch Wüste gedüst war, erfreute ich mich am schönen Anblick, von Grünzeug. Die Straße stieg bis Toluca auf fast 2.700 Meter an. Daher fand ich am Wegesrand später fast ausschließlich Nadelbäume, und es sah schon wieder fast »schwarzwaldmäßig« aus. Von Toluca rollte ich anschließend erstmals auf einer relativ holprigen Straße durch das Gebirge hinunter ins 1.800 Meter hoch gelegene Taxco. Nun merkte ich, dass die Straßen schon seit Neufundland in einem einwandfreien Zustand waren. Dadurch konnte ich auch immer relativ viele Kilometer am Tag zurücklegen. Ich war gespannt, wie dies nun in der nächsten Zeit aussehen würde.

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